54.

Für den schwarzen Geländewagen öffnete sich auf der Rückseite des Hauses ein Tor. Alessio hatte den Besuch der Bullen in seinem Zimmer abgewartet und hörte, wie der andere einparkte. Eigentlich hatte er gedacht, dass ihn in diesem Haus nichts mehr überraschen konnte. Doch jetzt war er bass erstaunt, als zwei Minuten später Leandros Mutter in der Tür stand und ihn unsicher anlächelte. Der andere hatte sich hinter ihr aufgebaut und ihr schützend die Hand auf die Schulter gelegt. Er wusste, wie leicht seine kräftigen Hände ihr den Hals zudrücken konnten, wie geschickt sie eine Pistole entsicherten und abdrückten. Leandros Mutter schien nichts von diesen Dingen zu ahnen. Sie sah frisch und hübsch aus mit ihrer weißen Bluse und den langen Haaren, die ihr über den Rücken fielen.

»Hallo«, sagte er unsicher und lächelte. »Wo hast du Leandro gelassen?«

»Der ist zu Hause bei unserer Haushälterin.«

Sie trat auf ihn zu und schaute ihm über die Schulter. Er hatte sich gerade eine Schlacht mit der Armee der Finsternis geliefert, bei der er fast gewonnen hätte, und klickte das Ego-Shooter-Spiel mit leisem Bedauern aus.

»Und was tust du hier?« Bei dieser Frage schaute er nicht der Frau, sondern dem anderen ins Gesicht. Feindselig.

»Ich wollte dich sehen. Gianluca sagte mir, er wüsste, wo du bist. Geht’s dir gut?«, schob sie besorgt hinterher.

»Das siehst du doch.« Er schickte einen fragenden Blick in Gianlucas Richtung. Warum hatte er sie hergebracht? Sonst trennte er sein Privatleben streng von dem, was in der Familie ablief. Leandros Mutter bemerkte nicht, wie beunruhigt er war, sondern blickte sich in seinem Zimmer um. Anlage, Rechner, Bett, Sofa, Glotze, alles entsprach dem, was sich ein Fünfzehnjähriger nur wünschen konnte. Es gab sogar ein verdammtes Poster von einer Popgruppe, die er nicht einmal kannte. Heute Nacht würde das alles auf Nimmerwiedersehen nach Kalabrien verschwinden, so wie er.

»Warum hast du niemandem gesagt, dass du bei deinem Onkel bist?«

Er zuckte die Schultern. »Sie hätten mich eingebuchtet.« Leandros Mutter nickte verständnisvoll. Wenn sie sich mit Gianluca einließ, nahm sie es mit den Gesetzen wohl nicht so genau und würde ihn nicht sofort bei den Bullen verpfeifen. Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, dirigierte der andere sie sanft in Richtung Treppe. »Möchtest du etwas trinken? Ich stelle dir unten meine Familie vor.«

Sie gingen ins Erdgeschoss. Unaufgefordert kam Alessio hinterher und setzte sich neben Leandros Mutter aufs Sofa. Sie schaute sich verunsichert um und strich dabei ihren Rock glatt. Ihre flachen Schuhe waren dreckverkrustet. Gianluca ging in die Küche, um Getränke zu holen und eine Kleinigkeit zum Essen vorzubereiten. Fast hätte Alessio nach ihrer Hand gegriffen, doch sie entzog sie ihm im letzten Moment.

»Ein großer Flachbildfernseher«, stellte sie tadelnd fest. »Und keine Bücher.«

Alessio hatte das noch nie als Manko gesehen. Er fragte sich, ob gebildete Mörder insgesamt weniger Leute töteten oder ob sie sich vielleicht nur nicht so schnell erwischen ließen. In diesem Moment betraten Onkel Alberto und Kain das Zimmer und beäugten die Fremde misstrauisch.

»Chi è questa ragazza?«, fragte Alberto misstrauisch. »Non la conosco.«

»Ich bin Leonie Hausmann. Gianluca hat mich hergebracht«, sagte sie leise und gab sonst keine weiteren Informationen über sich preis. Es durchfuhr ihn heiß. Onkel Alberto hatte seine Frage auf Italienisch gestellt, und sie hatte zwar auf Deutsch geantwortet, ihn aber problemlos verstanden. Wie gut konnte sie seine Sprache? Sein Onkel war Gianluca derweil in die Küche gefolgt, wo er ihn leise reden hörte.

Kain hockte sich auf die Sofalehne, musterte ihre Titten und ließ seine Augen ganz langsam über ihre Oberschenkel gleiten, auf denen der Rock so hochgerutscht war, dass sie unruhig am Saum zog. Zorn trug Alessio wie eine Welle, die stärker war als seine Angst. Berauschend. Er sprang auf und schubste seinen Bruder mit einer Kraft vom Sofa, die er sich gar nicht zugetraut hätte. Kain verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie.

»Hast du sie noch alle, Mann!«

Alessio hatte ihn vor der Frau gedemütigt und würde für die Aktion büßen müssen, aber das war es ihm wert. »Denk an Gianluca!«, drohte er und sah mit Genugtuung, wie Kain blass wurde. Die Drohung galt. Er hatte sich zumindest mit den Augen an Gianlucas Liebschaft vergriffen, vielleicht würde Alessio das für sich nutzen können. Leandros Mutter spürte, dass es ungemütlich wurde, und verkroch sich tiefer in ihre Sofaecke.

Eine Minute später stand Gianluca mit einem Tablett voll Wein, Wasser und italienischen Vorspeisen in der Tür. Verdammter Koch! Immer musste er seine italienische Lebensart nach außen kehren, das Dolce Vita. Alessio könnte kotzen über diese Lüge.

»Alessio, deck den Tisch!«, befahl er.

Widerstrebend verließ er seinen Platz an der Seite der Frau und stellte Teller und Gläser auf den Couchtisch. »Und du.« Gianluca richtete seinen Blick auf Kain, der ihm nicht zu widersprechen wagte. »Hol Saft und Cola aus dem Keller!«

Leandros Mutter griff nach einem Stück Bruschetta und begann, lustlos daran herumzuknabbern. Gianluca goss ihr einen kühlen Weißwein ein und verschlang sie dabei mit den Augen.

»Wie seid ihr verwandt?«, fragte sie und verschluckte sich beinahe.

Alessio musste seine Hände im Zaum halten, um ihr nicht den Rücken zu klopfen. Stattdessen nahm er sich eine Weinbeere aus der ersten Lieferung der Sorte Italia und biss darauf. Sie schmeckte nach Wasser. Er schluckte das Fruchtfleisch und die Kerne. Wenn man nur noch die Schale im Mund hatte, gerbte einem der bittere Nachgeschmack die Zunge. Eigentlich musste er sich die Trauben über die Ohren hängen. Hatte Leandros Mutter nicht gesagt, dass er dem Gott des Weines ähnlich sah, den ein Maler aus alter Zeit auf sein Bild gepinselt hatte? Seinen Namen hatte er vergessen.

»Alessio ist mein Cousin«, sagte Gianluca leise und musterte die Frau. Wie hieß sie gleich? Leonie. »Der Sohn meines Onkels Giorgio Cortese.«

»Aber du heißt nicht Cortese?«, stellte sie überflüssigerweise fest.

»Nein. Mein Vater Clemente Battista war mit seiner Schwester Rosaria verheiratet. Er lebt nicht mehr, und meine Mutter führt derzeit das Weingut von Onkel Alberto.«

Sie nickte und biss sich auf die Lippen. Kain betrat den Raum und stellte den Getränkekorb mit so viel Schwung auf den Boden, dass die Flaschen klirrten. Er trug wie immer ein Muscle-Shirt, unter dem sich seine Armmuskeln abzeichneten. Beiläufig streifte er den Tisch und stieß dabei wie zufällig Alessios Wasserglas um, dessen Inhalt sich über Leonies Rock ergoss.

»Kain, du Arsch!«, schrie er und wäre ihm beinahe an die Gurgel gesprungen.

Leonie wurde so weiß wie die Wand. »Kain«, sagte sie leise.

Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen
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