56.
Kain, dachte Leonie, als sie Gianluca in die Küche folgte. Kain. Während die Puzzlesteinchen eins nach dem anderen unbarmherzig an ihren Platz rückten, fühlte sich Leonie innerlich ganz taub.
»Ich will dir etwas zeigen.« Gianluca zog eine schmale Tür auf, die Leonie für den Zugang zum Besenschrank gehalten hatte. Dahinter führte ein Treppenschacht in finstere Tiefen.
»Ich muss mal telefonieren«, sagte sie leise. Wie ein Fisch, der sich zum Atmen an die Wasseroberfläche kämpfte, geisterte ihr der Gedanke schon seit Stunden im Kopf herum. Doch ihr Handy lag ausgeschaltet in ihrer Tasche im Flur.
»Später.«
Sie sah von Gianluca nur den breiten Rücken. Die Betontreppe führte steil und schnurgerade in die Tiefe. Irgendwann kamen sie in einen Kellergang, von dem einige offene Türen abzweigten, Zugänge zur Waschküche, einer Werkstatt, zur Garage, zum Heizungskeller. Vor dem Gartenausgang hingen penibel nach Größe aufgereiht Harken und Spaten. Gianluca ließ die Räume unbeachtet und führte sie durch eine doppelt verriegelte Tür in ein Kühlhaus, in dem Kisten mit Trauben, Salat, Zucchini und Tomaten gestapelt waren. Einen Teil der Ware für Corteses Großmarktstand und sein Restaurant lagerte er anscheinend hier. Er durchquerte den eiskalten Raum und schob ein Regal zur Seite. Dahinter öffnete sich die Wand.
»Komm!«, sagte er und trat ein.
Das war der Moment, in dem Leonie zum ersten Mal Angst bekam. Trotzdem folgte sie ihm über die Schwelle.
»Was ist das? Euer Quartier bei Hitze?« Sie stand in einer Art Gästezimmer. Es war mit einem Ausziehsofa, einem Schrank und einem Regal voller Bücher ausgestattet. Eine Tür zweigte zu einem kleinen Bad ab. Über der Couch hing ausgerechnet ein Druck von Botticellis »Geburt der Venus«, der die Göttin kurz vorm Anlanden an Zyperns Küste zeigte. Ihre goldblonden Haare flatterten im Windhauch von Zephyrs Atem. Die Wände und der Boden bestanden aus gestrichenem Beton, von dem eisige Kälte ausging und ihre nackten Beine hinaufzog. Gianluca drehte einen Schalter, und zwei summende Neonröhren tauchten den Raum in weißes Licht.
»Ein Schutzraum. Ich habe vor dir keine Geheimnisse. Ich hoffe, das gilt auch für dich.« Er setzte sich auf einen Klappstuhl und ließ seine Augen auf ihr ruhen, bis sie den Blick abwenden musste.
Leonie biss sich auf die Lippen und dachte an einen Atombunker. Nein, das war keiner. Hier versteckte man Leute, die ganz schnell untertauchen mussten. Kain.
»Setz dich doch!«, forderte er sie auf.
Sie ließ sich auf dem Schlafsofa nieder. Neben dem Tisch stand eine Kiste mit Mineralwasser in Plastikflaschen. Er öffnete eine Flasche und goss ihr ungefragt ein Glas davon ein.
»Ihr seid – von der ’Ndrangheta?« War das eine Feststellung oder eine Frage? Leonie kannte die Antwort, bevor Gianluca »Kluges Mädchen« sagte.
»Dann seid ihr also eine ganz ehrenwerte Familie.« Sie nippte an dem Wasser, das schal schmeckte, als hätte es zu lang hier im Keller gestanden. »Und das mit dem Schutzgeld?«
Er zuckte die Schultern. »Wie sollte mich das betreffen …«
»Wo du doch der bist, der die Schutzgelder erhebt …« Wenn das Ganze nicht so beängstigend wäre, hätte es fast eine komische Seite gehabt. »Ich war ganz schön dumm.«
Er goss sich ebenfalls ein Glas Wasser ein. »Du hast nach der Brandquelle gesucht und dabei die ganze Zeit mitten im Feuer gestanden.« Ich muss aufpassen, dass ich nicht verbrenne, dachte sie. Laut sagte sie: »Das spricht für eure Tarnung.«
»Wohl eher für die Naivität der Deutschen, die denken, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.«
Ich muss weiterreden, dachte sie, ihn irgendwie beschäftigen. »Das ›Fallen Angel‹ – das ist euer Laden gewesen?«
Er nickte. »Natürlich. Dein Freund, der Bulle, ist mitten hineingestolpert. Der Idiot.«
Leonie schüttelte den Kopf. »Aber da war das – Etablissement – schon aufgeflogen, wegen der Morde an den Russen.«
Gianluca trank einen Schluck und spuckte auf den Boden. »Fürchterlich. Ich hole gleich Frisches. Das stimmt schon. Aber er hätte die Kinder Kinder sein lassen sollen. Und mit dieser Irina – mit der werden wir uns noch befassen.«
Sie setzte sich zurück und taxierte ihn nachdenklich. Er hatte die Ärmel seines blauen Jeanshemds bis zu den Ellenbogen aufgerollt, darunter waren seine Arme sehnig und braungebrannt. Seine hellen Haare fielen ihm in die Stirn, und seine Augen erwiderten gelassen ihren Blick. Er wirkte attraktiver und männlicher denn je, fast wie einer der Yachtbesitzer in den Häfen am westlichen Mittelmeer, die sie mit Damiano besucht hatte. Fest im System verankert, machte Gianluca seine eigenen Gesetze und tat, was er für notwendig hielt. Sein Mafiagesicht ließ den Macher erkennen, der die inneren Dämonen verdrängte. Mit schlafwandlerischer Sicherheit wusste Leonie, dass sein Weg nicht der ihre war. Sie fühlte sich nackt und schutzlos und ärgerte sich, dass sie ihren Rock nicht über die Knie ziehen konnte. Verzweifelt suchte sie nach Worten, um ihre Angst zu vertuschen.
»In euren Kreisen darf man nicht ungehorsam sein.« Sie dachte an Irina und an Alessio, der den Aufstand gegen den Riesen gewagt hatte.
Er zuckte die Schultern. »Man hält sich besser an die Spielregeln. Nicht wie dieser Ölnhausen, der Kinderschänder.«
»Und wenn jemand ein Verräter ist?«
»Dann stirbt er.«
»Und das entscheidet natürlich ihr.«
Er nickte und lächelte warm.
»Aber dein Onkel musste seine Anonymität aufgeben, als er die Russen ermorden ließ.«
»Meinem Onkel geht die Ehre über alles. Und was ist das hier schon?« Mit einer verächtlichen Gebärde fasste er alles zusammen. »Ein winziger Standort in Deutschland. Der Clan, die Familie, ist sehr viel größer und mächtiger als das alles.«