59.
Fabian Grundmann parkte zwischen Klatschmohn und Margeriten an der Landstraße nach Lobenrot. Nicht weit von ihm mündete der Feldweg ein, der zum Anwesen Alberto Corteses führte. Rings um ihn breitete sich trügerischer Abendfrieden aus. Nach dem Regen leuchteten die Wolken scharlachrot von der untergehenden Sonne. Ein Bauer tuckerte auf seinem Traktor vorbei und winkte den Autos, die ihn eins nach dem anderen überholten, zu. Weiter vorn stand ein unbeleuchtetes Auto halb im Graben. Der Fahrer war nicht zu sehen.
Fabian klickte sich auf seinem Handy bis zu Kellers Nummer durch. Sein Chef, der wahrscheinlich schon bei seinem gemütlichen Feierabendbier auf der Terrasse saß, ging nach dem dritten Klingeln dran. »Wo bist du?«
»In Lobenrot.« Fabian holte tief Luft. »Laura Cortese hat ausgesagt. Die Corteses sind ein Mafiaclan. ’Ndrangheta. Der alte Alberto ist einer der Chefs, und Corrado ist wahrscheinlich der Killer, der Ölnhausen auf dem Gewissen hat.« Am anderen Ende blieb es einen Moment still.
»Dann brauchen wir das SEK«, sagte Keller dann.
Fabian zog seine Augenbrauen zusammen und dachte an das Blut, das fließen würde, wenn das Sondereinsatzteam das Haus stürmte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Leonie das überleben würde, wäre nicht allzu hoch.
»Warte! Sie haben Leonie. Ich muss mir das erst ansehen. Ich rufe dich in fünf Minuten zurück.« Bevor Keller etwas entgegnen konnte, hatte er aufgelegt.
Fabian stieg aus, übersprang den Straßengraben und erreichte eine Wiese, über der weißer Abendnebel aufstieg. Feuchtigkeit legte sich auf sein Gesicht. Am anderen Ende grasten ein paar Kühe.
Er ging schnurstracks geradeaus. Hinter seiner Stirn pochte es schmerzhaft. Eigentlich wusste er erschreckend wenig. Nicht einmal, ob Leonie überhaupt hier war.
War sie bewusst untergetaucht, weil sie mit Gianluca das Land verlassen wollte? Er versuchte, den Gedanken auszuschalten und zu verdrängen, der ihn zu zerreißen drohte, doch er tauchte immer wieder auf. Liebte sie Gianluca mehr als ihr Kind? Das konnte nicht sein. Niemals. Oder doch? Er musste Gewissheit haben.
Verbissen stapfte er über die schlammige Wiese und erreichte ein Waldstück, von dessen Rand aus das Haus der Familie Cortese schon gut zu sehen war. Der rote Himmel erlosch wie ein Feuer, das ausgetreten wurde. Als ein Auto den Feldweg hinaufkam, konnte er durch einen gezielten Sprung in den Schatten gerade noch verhindern, dass das Fernlicht ihn streifte. Lautlos schwang das Stahltor in der Umzäunung auf. Das Auto war kaum verschwunden, als Motorengeräusch schon das nächste ankündigte. Es fuhr mit Abblendlicht, so langsam und zielgerichtet, dass Fabian in der Dämmerung das Kennzeichen erkannte. GG für Gaggenau.
Fabians Handy vibrierte hartnäckig, und er ging ran. »Das hier wird immer mehr zur Versammlung. Sieht aus, als ob der ganze Clan noch heute Nacht die Biege macht, wie Laura Cortese gesagt hat.«
Keller zögerte jetzt nicht mehr. »Hör zu!«, sagte er. »Wenn ich über die Funkeinsatzzentrale das SEK aus Göppingen bestelle, dauert es dreißig Minuten, bis sie da sind. So lange verhältst du dich ruhig und wartest. Komm ja nicht auf die Idee, da reinzugehen!« Als Fabian schwieg, wurde Keller deutlich. »Wenn du nicht hörst, lasse ich dich versetzen. Dann kannst du wieder Streife fahren.«
Fabian klickte Keller weg und starrte nachdenklich auf das geöffnete Tor. Wenn er auch nur einen Fuß über die Schwelle setzte, würde er als Leiche in den Fundamenten von Stuttgart 21 enden. Und dennoch musste er Leonie finden, bevor das SEK kam. Fabian rieb sich die schmerzenden Augen. Vielleicht würde es die Sache erleichtern, dass so viele Leute in den heiligen Hallen des Hauptquartiers herumschwirrten.
Er folgte dem Schatten des Waldrands, bis geschah, was er erwartet hatte. Die Lichter eines weiteren Fahrzeugs tauchten in der Ferne auf. Eines großen, langsam fahrenden diesmal. Geduckt wartete er, bis der Umzugswagen vorüber war und rannte in seinem Schatten durch das offene Tor in den unbeleuchteten Hof. In Gedanken schlug er drei Kreuze, als er es aus der Ferne bellen hörte. Zum Glück hatte dieser Corrado seine Dobermänner eingesperrt, die wahrscheinlich auch dem versammelten Mafiaclan krumm gekommen wären. Fabian fühlte sich seltsam leicht, als hätte er seine Vergangenheit und seine Identität abgestreift. Das war sein erster Undercovereinsatz, und er hatte weder die Voraussetzungen noch das Okay seines Vorgesetzten dafür. Ade Polizeilaufbahn, aber diese Frage würde sich wohl kaum mehr stellen.
Der LKW hielt an und spuckte drei kräftige Kerle aus, die im Haus verschwanden. Kurzerhand löste er sich aus dem Schatten und folgte ihnen durch die offene Tür, als sei er einer von ihnen. Der Gang stand voller Kisten, Möbelstücke und Gerümpel. Im nächsten Moment kamen ihm aus der Tiefe des Hauses zwei Männer mit Umzugskisten entgegen.
»Ciao«, sagte einer von ihnen und setzte zu einem italienischen Redeschwall an.
Das Adrenalin stieg ihm ins Blut und durchfuhr ihn heiß, aber der Mann wartete nicht auf Antwort, sondern schob sich mit der riesigen Kiste vor der Brust ins Freie. Fabian atmete schwer, stützte sich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Wohnzimmertür und sortierte seine Gedanken. Rauputz, der sich durch seine Jacke drückte, Schweiß, der ihm den Rücken hinablief, Atemzüge, die sich nicht beruhigen wollten. Die Männer arbeiteten wie Uhrwerke, wie ein emsiger Ameisenschwarm, der keine Pause kannte. Also musste er sich diesem Rhythmus anpassen und so beschäftigt tun, dass niemand ein Wort von ihm erwartete. Kurzerhand hob er eine der Kisten und folgte den Umzugshelfern nach draußen. Hatte der alte Cortese Mühlsteine darin verpackt? Schwer atmend schleppte er den Karton bis zu dem offenen LKW, stellte sich in eine Reihe mit vier weiteren Männern, von denen scharfer Schweißgeruch ausging, und schob ihn auf die Ladefläche. Niemand nahm Notiz von ihm. Sollte es ihm tatsächlich gelingen, mitten zwischen den Mafiosi unsichtbar zu werden? Er machte sich nichts vor. Wenn ihn jemand als Außenseiter erkannte, würde man schneller mit ihm kurzen Prozess machen, als er Mafia sagen konnte. Und er würde dem SEK das Überraschungsmoment nehmen. Schnell!, dachte er. Er musste sich vergewissern, dass Leonie tatsächlich nicht im Haus war, und dann nichts wie raus. Was hatte Laura gesagt? Im Keller gab es einen versteckten Raum, in dem man Leute verbarg, die kurzfristig untertauchen mussten. Aber wo war die Kellertreppe? Unauffällig ließ er bei seinem nächsten Gang die Augen schweifen. Nichts. Fast blieb ihm das Herz stehen, als ihn ein alter Mann mit grauem Bart am Ärmel packte, in die Küche lotste und auf den Tisch deutete, der voller Bierflaschen und Eisteekartons stand. »Bevi!«
Fabian grinste ihm dankbar zu, und trank einen großen Schluck Eistee aus dem Tetrapack, der ihm süß durch die Kehle rann. Das Glück war mit ihm. Dann bedeutete der Alte Fabian, ihm zu folgen, öffnete eine unscheinbare weiße Tür und verschwand in der Tiefe. Fabian trank noch einen Schluck und stieg hinter ihm die steile Treppe hinab. Der Gang war hell beleuchtet. Auch hier stapelten sich Umzugskisten massenweise. Wo war der Zugang zu dem verborgenen Raum? Er hob einen Bananenkarton und beobachtete, wie der Alte die Tür zu einem Keller aufschloss, aus dem es ihn kalt anwehte. Ein Kühlhaus, das Cortese extra verschlossen hielt. Der Fremde verschwand in der Eiskammer. Weil ihm nichts Besseres einfiel, griff Fabian nach der Bananenkiste, trug sie die Treppe hinauf und verlud sie in den LKW. Auf der steilen Treppe nach unten musste er sich an die Wand drücken, um den Alten vorbeizulassen, der ächzend eine Kiste mit Trauben hinaufzerrte und ihn dabei mit seinem fleckigen Rauchergebiss angrinste.
Unten war Fabian das Glück weiter hold. Es ließ ihm ein paar Minuten, um das Kühlhaus näher zu inspizieren, bevor der Alte zurückkam. Sein Atem sammelte sich zu weißem Nebel. Nichts, außer stapelweise Kisten voller reifbezogenem Fenchel, Zucchini und Weintrauben, so hart wie Kiesel. Er folgte einer Eingebung und grub unter den Zucchini, durchbrach drei Schichten der länglichen, harten Dinger, bis er einen Pappboden spürte, der da nicht sein sollte. Eine winzige Öffnung, in die er seinen Zeigefinger drückte. Darunter Plastiktüten, glatt weich, voller Schnee. Volltreffer. Das würde die Drogenfahndung interessieren. Jetzt jedoch musste er Leonie finden. Tu was, nutze die Zeit!, pochte es in ihm. Aber was nur? Sein Kopf war leer.
In diesem Moment hörte er Stimmen, die Deutsch sprachen. Er hechtete hinter einen wackligen Stapel eisiger Erdbeerkisten und brachte ihn gerade eben wieder ins Gleichgewicht, bevor die Männer kamen. Als er sie erkannte, erstarrte er. Da war Alessio. Sein Onkel hatte gelogen, als er sagte, dass der Junge nach Kalabrien geschickt worden war. Und neben ihm ging Battista, eine Waffe in der Hand. Sie durchquerten den Raum, ohne nach links oder rechts zu schauen. »Du weißt, was du zu tun hast, wenn sie nicht kooperiert«, sagte Battista. Fabian lehnte sich zurück. Er hatte verstanden.