30

Man hat mir und Rosa Zimmer im zweiten Stock zugewiesen. Hier können die Angestellten übernachten, wenn sie Spät- oder Frühschicht haben. Wir schauen in den Park und zur anderen Seite der Hauptstraße. Am ersten Abend saß ich am Fenster und beobachtete, wie es dunkel wurde. Ich war ganz ruhig. Und froh darüber, nach dem verrückten Durcheinander der letzten Tage in sicherer Obhut zu sein. Lange saß ich einfach nur da und genoss den Frieden. Mein Gehirn war dabei ausgeschaltet, es trieb hin und her wie ein auf einem See vor Anker liegendes Boot. Ruhe hüllte mich ein.

Als es draußen dämmerte, kam mir eine Frage in den Sinn. Ich beobachtete, wie der Berufsverkehr die Straße verstopfte. Nachdem ich eine Weile im Dunkeln gesessen hatte, beschloss ich, Mr. Golding aufzusuchen und ihn zu fragen. Sein Büro lag am Ende des Flurs, hinter dem Sekretariat. Ich wusste nicht, ob er noch da war, denn die Büroangestellten waren bereits nach Hause gegangen, aber ich ging trotzdem hin und klopfte. Er rief »Herein!«. In seinem Büro brannte nur die Schreibtischlampe. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, nur seinen Arm und die Hand, mit der er den Stift hielt.

»Jessie!«, sagte er. »Treten Sie ein, treten Sie ein. Was kann ich für Sie tun?« Er neigte die Lampe, bis sie die hinter ihm befindliche Wand beleuchtete. Der weiche Lampenschein breitete sich im Raum aus, bis ich den Eindruck hatte, der Schreibtisch, die Stühle und Bücherregale träten aus dem dunklen Schatten ins Helle hervor. Er forderte mich mit einer Handbewegung auf, im Ledersessel Platz zu nehmen.

»Woher sollen die Embryos – wenn sie erwachsen sind und heiraten –, woher sollen sie dann wissen, dass sie nicht miteinander verwandt sind?«

»Aha! Eine junge Genetikerin!« Er rieb sich erfreut die Hände, als wäre ich die schlaueste Schülerin in der Klasse. »Jeder Embryo hat eine Nummer – für die Eizellenspenderin – und eine Farbe, die den Samenspender kennzeichnet. Diese Unterlagen gehen an die Erziehungsberechtigten und müssen dem Kind bekannt gemacht werden. So. Lernt 2-Blau 2-Grün kennen, wissen sie, dass sie dieselbe Mutter haben. Ein 7-Rot-Mädchen und ein 4-Rot-Junge wissen, dass sie denselben Vater haben. Wir werden die Erziehungsberechtigten benachrichtigen, wenn ein Geschwister geboren wird. Es wird hilfreich für die Kinder sein, wenn sie wissen, dass sie Geschwister haben.«

Im Geiste sah ich eine Kinderkrippe mit lauter kleinen Goldings vor mir, alle kahlköpfig und mit kleinen Fliegen. Wie blöd kann man eigentlich sein? Erst jetzt hatte ich es begriffen. »Wie viele Farben gibt es?«, fragte ich.

Er zählte sie an den Fingern ab. »Rot, Gelb, Blau, Grün, Purpur, Braun. Sechs.«

»Einschließlich der Techniker?«

Er nickte. »Ali und Ihren Vater eingeschlossen.«

Wir schauten einander an in dem friedlichen Raum. Es war, als würde das Gebäude schlafen, als wären alle nach Hause gegangen.

Ich fragte mich, ob Dad sich davon beeindrucken lassen würde. »Spräche irgendetwas dagegen …?«

»Natürlich nicht. Sie sind die Leihmutter. Die Gene des Kindes stammen von dessen Mutter und Vater, nicht von Ihnen.«

»Das Kind könnte meine Halbschwester sein. Oder mein Halbbruder.«

Er nickte.

Ich dachte an das Baby zwei Etagen unter mir, das im Gefrierschrank still darauf wartete, sein neues Leben zu beginnen. Meine Halbschwester. Mr. Golding nahm einen Karton Papiertaschentücher vom Regal und reichte ihn mir. Dann trat er ans Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Als ich mir die Nase geschnäuzt hatte, drehte er sich um und sagte:

»Jessie. Sie sollten jetzt schlafen. Wenn Sie morgen noch etwas auf dem Herzen haben, unterhalten wir uns weiter, einverstanden?« Er nahm den Hörer ab und wählte, und ich hörte, wie er Rosa begrüßte. Ehe ich ihn daran hindern konnte, bat er sie, herzukommen und mich abzuholen. Als ich aus seinem Büro trat, kam sie mir auf dem Flur entgegen. »Gute Nacht, Jessie«, sagte hinter mir Golding leise. »Schlafen Sie gut.«

Rosa folgte mir aufs Zimmer und setzte sich auf den Stuhl am dunklen Fenster. »Du hast nicht das Handtuch geschmissen?«, sagte sie.

»Nein, ich hab mich nach den Samenspendern erkundigt.«

Sie nickte und schaute in die Dunkelheit hinaus. Ich wollte, dass sie ging. Aber sie würde bis zum Schluss in meiner Nähe sein; man hatte uns gesagt, dass man nach der Implantation ein paar Tage warten müsse, bis sich die Schwangerschaft bestätigt habe. Um sicherzugehen, dass der Embryo sich in einem festgesetzt hat. Ich würde die letzte Woche meines Lebens mit Rosa Davis verbringen müssen.

»Ich bin müde«, sagte ich.

Sie überging den Wink mit dem Zaunpfahl. »Ich auch. Hast du Angst?«

Nur vor anderen Menschen, dachte ich. Davor, dass sich meine Eltern wie Verrückte aufführen. Vor Baz, der mir nicht aus dem Kopf geht. Vor dir. »Nein. Du?«

»Nicht wirklich. Es kann schließlich nur besser werden, meinst du nicht auch?«

»Besser?«

»Besser als der ganze Mist, mit dem man sich Tag für Tag beschäftigen muss.«

Ich wollte ihr nichts von mir erzählen. »Zum Beispiel?«

Sie schaute mich direkt an. »Nicht genug Geld zu haben. Keinen Ort zum Leben zu haben. Dass sich alles in Scheiße verwandelt.«

»Ich dachte, du wohnst bei deiner Mum.«

»Dort kann ich nicht bleiben. Da hängen ihre Drogenfreunde ab, und ständig wird was geklaut.«

Ich musste an Lisa denken. »Du könntest auch in einem Kids’ House wohnen – im Rising Sun oder in dem Bauernhof in Wales.«

Davon hatte sie noch nicht gehört, und ich musste ihr alles erklären. Als ich meinte, sie bräuchte dort kein Geld, schüttelte sie ungläubig den Kopf.

»Man braucht immer Geld. Es würde sowieso nicht funktionieren. Die Leute würden nicht wollen, dass jemand wie ich alles kaputtmacht.«

Ich wollte ihr widersprechen. Aber welchen Sinn hätte es gehabt, ihr etwas vorzulügen? »Du bist anders«, sagte ich.

»Jep. Ich würde sie anpissen. Würde den ganzen Wein trinken und ihre Freunde vögeln und vergessen, die Hühner zu füttern.«

Ich konnte meine Frage nicht zurückhalten. »Hast du mit Baz geschlafen?«

»Klar.«

Es gab keinen Grund, weshalb mir das etwas hätte ausmachen sollen. Trotzdem brannten mir Tränen in den Augen.

»Siehst du?«, sagte sie und schlurfte zur Tür. »Jetzt bist du angepisst.« Sie zog die Tür hinter sich zu.

Ich deckte mich zu und atmete in die warme Dunkelheit hinein, bis es unter der Decke ganz warm und feucht war und ich den Kopf hervorstrecken und ein paarmal kräftig durchatmen musste. Meine Nase war verstopft, und mir war erst heiß und dann kalt. Es gab keinen Ort, wo ich hinkonnte.

Irgendwann schlief ich ein, und als ich erwachte, stand ein Frühstückstablett mit Orangensaft, Brötchen und kleinen Marmeladentöpfchen neben meinem Bett. Der Tee war kalt, doch ich trank ihn trotzdem. Es war bewölkt und windig, vom Bett aus sah ich die vorbeiziehenden Wolkenmassen. Meine Schlafzimmeraussicht von zu Hause, aber ohne Buche. Ich stopfte mir das Kissen in den Rücken und betrachtete den Himmel.

Das mit Baz hatte nichts zu bedeuten. Es hätte natürlich etwas zu bedeuten gehabt, wenn wir beide achtzig Jahre vor uns gehabt hätten. Dann wäre genug Zeit gewesen, alles ins Lot zu bringen. Zeit, einander zu verstehen. Im Moment wusste ich nicht, ob er sie wirklich mehr mochte als mich, oder ob sie ihm bloß leidtat, oder ob er in einem Jahr überhaupt noch mit einer von uns beiden ausgehen würde. Vielleicht wusste er es selbst nicht. Diese Sache musste ich mir aus dem Kopf schlagen. Ich würde sie nicht mehr danach fragen.

Ich blickte weiter zu den Wolken hinaus. Sie wanderten von links nach rechts am Fenster vorbei, mächtige, aufgeblähte Gebilde in verschiedenen Schattierungen von Grau und in unterschiedlicher Höhe dahinsegelnd. Die näheren Wolken bewegten sich schneller und glitten vor denen vorbei, die weiter vom Erdboden entfernt waren. Ich hatte mich für das Programm gemeldet, weil ich etwas bewirken wollte. Daran musste ich festhalten. Es würde eine seltsame Woche werden. Ich würde mich endgültig von Mum und Dad verabschieden müssen, und davor hatte ich Angst. Ich würde mit Rosa sprechen müssen. Aber die restliche kostbare Zeit gehörte mir, und ich konnte sie nutzen, wie ich wollte. Ich stellte das Tablett auf den Nachttisch, kleidete mich an, ging zum Sekretariat und bat um Schreibpapier.

Ich beschloss, meine Aufzeichnungen abzuschließen. Dad kann sie zu dem Stapel mit Oma Bessies Sachen legen.

Die Geschichte meiner Entscheidung. Für dich, mein Kind. Ich möchte, dass du meine Geschichte kennst – unsere Geschichte, deinen Anfang. Damit du verstehst, wie ich dachte und fühlte, damit niemand dir erzählen kann, ich wäre ein dummes, irregeleitetes Mädchen gewesen oder eine Marionette Iains. Ich will nicht, dass dich jemand für eine Bewegung oder eine Idee einspannt. Du bist frei und kannst dein Leben so leben, wie du möchtest. Dieser Gedanke macht mich froh. Du sollst vor allem wissen, dass ich froh bin. Froh darüber, dass es so gekommen ist.

Ich habe geschrieben und geschrieben, bis mir die Finger wehtaten und ich einen steifen Hals hatte; ich will meine Geschichte zum Abschluss bringen und dir erzählen, wie diese Woche verlaufen ist und wie ich mich im Moment fühle, bis zur allerletzten Minute. Aber jetzt, da ich mich an dich wende, muss ich dir einen Namen geben. Wie soll ich dich nennen? Ich weiß nicht einmal, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist. Lange habe ich mir den Kopf über deinen Namen zerbrochen und bin schließlich auf Ray gekommen (oder Rae, wenn dir das lieber ist). Ray wie Sonnenstrahl oder Hoffnungsstrahl. Aber wie alt wirst du wohl sein, wenn du das liest? Als ich dreizehn war, wäre ich vor so etwas Sentimentalem zurückgeschreckt. Vielleicht solltest du dir lieber einen anderen Strahl vorstellen, etwa einen Fisch, der wie ein Pfeil über dem Meeresboden dahinschießt. Und an die Taschen der Seepferdchen, die man am Strand findet und in denen die Strahleneier wohlbehalten übers Meer gereist sind. Vielleicht kommt dir das passender vor. Wenn nicht, ändere deinen Namen. Mir soll’s recht sein!

Es ist seltsam, dir zu schreiben – ich kann einfach nicht glauben, dass ich dich nie zu Gesicht bekommen werde, Rae. Du wirst mich sehen – Mum und Dad haben jede Menge Fotos und Urlaubsvideos, es wird dich zu Tode langweilen, mich im Meer planschen und Eis schlecken zu sehen. Vielleicht komme ich dir zu jung vor für eine Mum. Aber nein – natürlich werden in deiner Welt alle Mütter so jung aussehen.

Ich möchte dir eines sagen, mein Schatz. Wenn das Implantat, das man mir am Montag einsetzt, nicht anschlägt – wenn sich meine Schwangerschaft nicht bis zum Wochenende bestätigt hat –, werde ich es nicht noch einmal versuchen. Die Möglichkeit, dass ich nicht schwanger werde, ist mein letzter Strohhalm. Wenn ich schwanger werde, bedeutet das, du sollst leben. Wenn nicht, dann nicht – das heißt, es wird dich nicht geben! Du wirst das hier nicht lesen. Und ich werde am Leben bleiben und nach Eden gehen.

In der Nacht waren ständig Polizeisirenen zu hören. Heute früh sind in der Nebenstraße am Park viele Einsatzwagen vorgefahren, und Polizisten mit Schutzschilden sind über die Straße gerannt. Das Fenster lässt sich nicht öffnen, aber ich habe Geschrei und Sprechchöre gehört. Ich habe den kleinen Fernseher in der Ecke eingeschaltet, und es war schon merkwürdig, den Haupteingang dieses Krankenhauses zu sehen. Es gab heftige Proteste. FLAME-Demonstrantinnen natürlich, aber auch ein paar Frauen mit den purpurroten Transparenten von Mütter für das Leben und ein Sprechchor der Noahs. Auch ALF-Kids waren dabei, der Kommentator meinte, die Polizei nehme die Drohungen sehr ernst. Ich stellte den Ton ab. Ich sah, wie die Menschen vorrückten und kämpften und mit den Armen fuchtelten und wie die Polizei sie zurückdrängte, und mir wurde langweilig dabei. Sollen sie ruhig machen, dachte ich. Sie werden weitermachen. Sie werden genauso weitermachen, sich prügeln, sich mit Gegenständen bewerfen, blindlings auf die Welt einschlagen – so lange, bis sich ein Weg in die Zukunft auftut. Bis die neuen Kinder zur Welt kommen. Ich tippte auf die Fernbedienung, und die wogende Menschenmenge verschwand.

Mr. Golding kam mich am Morgen besuchen und brachte mir ein Einwilligungsformular mit, das ich unterschreiben sollte. Er sagte mir, dass im Moment niemand herein- oder hinauskomme. Die Belegschaft habe im Krankenhaus übernachtet. »Wir stehen unter Belagerung!«, scherzte er. FLAME-Aktivistinnen hätten sämtliche Eingänge blockiert. Mehrere Tierbefreier seien festgenommen worden. Er meinte, das Krankenhaus verfüge über ausreichend Vorräte. »Wir hoffen, dass sie irgendwann müde werden und nach Hause gehen«, sagte er. »Wir gehen einer Eskalation aus dem Weg. Aber wir müssen Ihre Eltern informieren.«

Ich war erleichtert, dass Mum ans Telefon ging, doch sobald sie meine Stimme hörte, brach sie in Tränen aus. Sie wiederholte in einem fort, es sei noch zu früh. Eine Unterhaltung war das nicht, sondern eine ständige Wiederholung gegensätzlicher Standpunkte.

Ich: Mir geht’s gut, ich bin an dem Ort, wo ich sein will.

Mum: Du brauchst mehr Zeit.

Schließlich sagte ich ihr, wir würden uns bald sehen, und legte auf. Ich wollte meine Zuversicht und Gelassenheit für dich bewahren, in meinem Ruhezustand verharren und vorwärtstreiben.

Den ganzen Tag lang schrieb ich, hielt hin und wieder inne und schaute zum Himmel hinaus, zu den unendlich langsam sich bewegenden Wolken. Am Nachmittag klopfte Rosa an, und ich sagte ihr, ich würde sie später besuchen. Wir aßen zusammen zu Abend, anschließend unterhielten wir uns lange. Sie war anders. Ich weiß noch immer nicht, ob ich alles glauben soll, was sie sagt, aber ich glaubte ihr, als sie meinte: »Mir passiert nie was Gutes.« Sie hat ihren Dad nie gekannt. Der Freund ihrer Mum war gemein zu Rosa und wollte Sex mit ihr haben. Sie hatte niemanden, mit dem sie hätte reden können, und wusste sich nicht zu helfen. Da lief sie von zu Hause weg. Sie fuhr nach London und schlief in einem Hostel. Um an Geld zu kommen, hatte sie Sex mit Männern. Als ihre Mum ihren Freund rauswarf, ging sie wieder nach Hause, aber sie und ihre Mutter hatten ständig Streit. In einem Club lernte Rosa einen Drummer kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick, und sie zog zu ihm. Wenn er getrunken hatte, wurde er jedoch gewalttätig. Er verprügelte sie, deshalb zog sie wieder zu ihrer Mum. Ihre Mum war Aushilfskrankenschwester, und so erfuhr Rosa von den tiefgefrorenen Embryos.

Alle Menschen, die Rosa kennenlernte, machten ihr das Leben nur noch schwerer. Die Kids in der Schule – auch ich. Ich ging ihr aus dem Weg, hielt sie für seltsam, hasste sie, weil sie mit Baz gegangen war. Beinahe kam ich mir vor wie ihre Mörderin. Ich dachte, sie hat sich nur wegen uns für das Programm gemeldet. Ich dachte daran, mit Mr. Golding darüber zu sprechen. Dann musste ich an Baz’ Bemerkung denken: »Ihr seid beide verrückt.« Was würde sie tun, wenn Golding sie abwiese? Zu ihrer Mum zurückkehren? Sie wollte hier sein; genau wie ich.

Wir haben angefangen, uns gegenseitig unsere Träume zu erzählen und unsere flüchtigen Gedanken auszutauschen. Und wir sprechen über unsere Kinder und stellen uns vor, sie würden wie Bruder und Schwester sein. Sie möchte ihr Kind Zac nennen. Ich hoffe, die beiden werden einander kennenlernen.

Und das ist merkwürdig. Denn du wirst erfahren, ob es dazu kommt, ich aber nicht. Dein Leben ist mein Traum, und ich verliere mein Leben, damit du leben kannst. Dann werde ich für dich ein Traum sein. Wir tauschen die Plätze, überschreiten die Grenze zwischen Leben und Tod. Aber du wirst nicht tot sein. Du bist noch nicht lebendig, aber ich habe kein Wort für deinen momentanen Zustand. Du wartest darauf, lebendig zu werden. Vielleicht taut man dich gerade auf, und das ganze magische Muster der Gene und Zellen, das dich einmal ausmachen wird, kommt in Gang. Ich muss dabei an eine Zaubermuschel denken, die einmal in meinem Weihnachtsstrumpf steckte; eine unauffällige kleine, graue Muschel. Wirft man sie ins Wasser, öffnet sich die Muschel langsam, und eine wunderschöne, leuchtend rote Blume windet sich heraus. Das bist du!

Die Demonstranten sind durchgedreht, und es gab zahlreiche Festnahmen. Trotzdem kam Dad mich besuchen. Mr. Golding habe ich gesagt, ich wäre nervös, deshalb hat er ihn von einem Wachmann zu meinem Zimmer eskortieren lassen, der draußen gewartet hat. Dad hat mich umarmt, dann hat er sich auf den Stuhl am Fenster gesetzt. Er hatte einen Verband an der rechten Hand, die Finger schauten heraus. Ich saß auf dem Bett, und wir schwiegen. Ich überlegte, was ich sagen könnte, dann schaute ich hoch, und er weinte. Ich bat ihn aufzuhören. Er stand auf und wandte mir den Rücken zu, sah aus dem Fenster und rieb sich die Augen. Als er sich beruhigt hatte, ging ich zu ihm, und er legte mir den Arm um die Schultern. Wir schauten gemeinsam in den kraftlosen Frühlingssonnenschein und zu den Baumknospen hinaus.

»Das perfekte Verbrechen«, sagte er leise.

»Ja?«

»Rede einer unschuldigen, idealistischen jungen Frau ein, die Zukunft der Menschheit hinge davon ab, dass sie ihr Leben opfert. Sie geht so vertrauensvoll ins Krankenhaus wie ein Lamm zur Schlachtbank. Sie freut sich auf das Einpflanzen des Kindes, das sie umbringen wird. Während ihr Gehirn zerstört wird, liegt sie neun volle Monate lang da, und die Polizei wird dich nicht festnehmen, kein Gericht wird dich verurteilen, du kommst ungeschoren davon. Nach Ablauf der neun Monate schaltet man die lebenserhaltenden Geräte ab, dann ist sie tot. Und niemand wird zur Rechenschaft gezogen.«

»Dad«, sagte ich. »Das stimmt doch nicht.«

Er schüttelte den Kopf.

»Hör mal zu«, sagte ich. »Weißt du, was das perfekte Verbrechen ist? MTS. Stell ein Virus her, das tödlich und ansteckend ist. Man braucht nicht einmal vor Ort zu sein, das Virus verbreitet sich von allein auf der ganzen Welt und tötet Millionen Frauen, und es gibt keine Verbindung zum Täter. Massenmord aus der Ferne. Das ist das perfekte Verbrechen.«

»Das stimmt«, sagte er.

»Und was ich vorhabe, ist die perfekte Lösung.«

Er drückte mir die Schultern. »Du bist wirklich nie um eine Antwort verlegen, Jessie.«

»Mein Vater ist schließlich der Quell aller Weisheit.«

Er schaute mich an, und ich forschte nach den kleinen Fältchen, die bei ihm ein Lächeln ankündigten. Dann aber sagte er: »Das ist nicht richtig, Jess. Ich wünschte, du würdest es nicht tun.«

»Ich weiß. Aber ich tu’s trotzdem.«

Er ließ mich los und setzte sich wieder auf den Stuhl. »Na schön. Und worüber möchtest du reden?« Nach einer Pause sagte er: »Übers Wetter?«

»Ich möchte, dass du und Mum mir versprecht, dass ihr euch um sie kümmern werdet.«

»Sie?«

»Sie, ihn, ich weiß es nicht. Ich stelle mir immer ein Mädchen vor.«

»Wenn ich mich weigere, würde dich das von deinem Vorhaben abhalten?«

»Nein.«

»Cath und ich sollen unsere eigene Tochter aufgeben und ein fremdes Kind großziehen. Wir sollen jeden einzelnen Schritt der vergangenen sechzehn Jahre, die wir mit dir zusammen glücklich durchlebt haben, wiederholen, und uns jeden Tag an das erinnern, was wir verloren haben.«

»Sie ist kein fremdes Kind für euch.«

Er stutzte.

»Das Kind wird meine Halbschwester oder mein Halbbruder sein. Mr. Golding hat gemeint, das wäre in Ordnung.«

Es entstand ein kurzes Schweigen. »Du hast keinen Anlass zu glauben, dass wir damit einverstanden wären.«

»Ihr habt einen Grund, euch um das Kind zu kümmern.«

»Es gibt keinen Grund. Du musst das nicht tun. Es wird andere Lösungen geben.«

»Dad …«

»Die wird es geben, das kannst du mir glauben. Bitte.« Er kniete nieder und schlang die Arme um meine Beine. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Der Wachmann zog ihn hoch und brachte ihn weg. Der Besuch von Mum am Nachmittag verlief ebenso schlimm. Ich ertrage es nicht, und ich kann’s nicht ändern, und ich kann nichts tun. Es tut mir leid. So leid.