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Früher war ich so unstet wie eine Feder im Wind. Ich dachte, die Sachen in den Nachrichten und Zeitungen wären für Erwachsene. Das war ein Bereich ihrer dummen, erbärmlichen, komplizierten Welt, der mich nicht interessierte. Ich erinnere mich, dass ich eines Abends am Fußgängerüberweg hinter Roaches auf dem Zaun saß, zusammen mit Sal, Danny und ein paar anderen. Es war dunkel, zumal beiderseits der Schienen, denn die Erika auf dem Damm war verbrannt. Wir schauten hinunter auf die erleuchteten Fenster des Gasthofs im Tal und die kleinen gelben Augen der Autos auf der Straße. Außer uns waren alle drinnen, und wir saßen dort oben in der windigen Nacht, gegenüber der schwarzen Fläche des Moors auf der anderen Talseite.

Ein Zug sauste vorbei, unterwegs nach Huddersfield, und der heiße Luftschwall hätte uns fast vom Zaun geweht. Danny meinte, wir sollten ein Stück weit auf den Schienen gehen, wie auf einem Seil balancieren und gucken, wer am weitesten käme. »Wenn ein Zug kommt, springt einfach runter«, sagte er. »Es kommt nur einer jede Stunde.« Sal kletterte vom Zaun hinunter und balancierte mit ausgestreckten Armen über die Schiene. Ich konnte sie kaum erkennen, sie zerrann in der Dunkelheit, und ich war mir nicht sicher, ob sie ihre Ausgleichsbewegungen übertrieb oder ob ich sie nur nicht von der Dunkelheit unterscheiden konnte. Sie schimpfte, und da wusste ich, sie war gefallen, und dann probierten es auch die anderen, und wir zählten laut im Chor. »Eins und zwei und drei und Raus!«, und warteten ab, wer es als Erster bis zehn schaffen würde.

Als ich an die Reihe kam, konnte ich die Schiene nicht mal sehen, spürte sie aber durch die Schuhsohlen hindurch. Ich fand das Gleichgewicht und schaute auf die grüne Signalleuchte in der Ferne. Ich hatte eine Art Tosen in den Ohren. Ich weiß nicht, war es der Wind auf dem Damm oder das Geschrei und Gelächter der anderen. Aber ich hatte das Gefühl, alles wäre möglich, buchstäblich alles, und mir könnte nichts geschehen. Ich dachte, wenn ich zwanzig Schritte schaffen würde, wäre das der Beweis. Mit dem einundzwanzigsten Schritt hüpfte ich von der Schiene, und als ich auf den Zaun kletterte, kam von hinten ein Zug aus der Dunkelheit herangerast und stieß einen ohrenbetäubend lauten Pfiff aus. Und da kam mir der Gedanke: Ich könnte MTS heilen. Ich hätte die Macht, alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber weil mich niemand darum bat, würde ich es sein lassen.

Das ist so wie mit den blöden Sachen, die man glaubt, wenn man noch sehr klein ist, wie zum Beispiel, man könne fliegen. Ich glaubte das jahrelang, aber niemand durfte davon erfahren. Wenn ich jemandem davon erzählte oder es vorführte, würde ich die Fähigkeit verlieren. Und wenn ich daran zweifelte oder es ausprobierte, würde ich die Fähigkeit ebenfalls verlieren – deshalb ließ ich es sein. Ich glaubte daran. Ich wusste, wenn es darauf ankam, würde ich fliegen können. Glücklicherweise trat der Fall niemals ein.

Ich erinnere mich an Vorkommnisse, deren ich mich schäme. Einmal fuhr ich mit Mum und Dad vom Wohnwagen, der in Scarborough stand, nach Hause, und die Straßen rund um York waren alle verstopft, weil im Dom eine Massentrauerfeier stattfand. Dad hatte vergessen, sich online zu informieren. Und ich brannte darauf, nach Hause zu kommen und Sal anzurufen. Wir standen zwei Stunden lang im Stau. Und ich schaute mir die armen Leute in den Autos an und sagte: »Wieso können die nicht zu Hause trauern? Den toten Frauen ist es doch egal!«

Ich hielt das für normal, so war das. Wenn man jung ist, hält mal alles für normal. Hat die Mutter einen spitzen Kopf und grüne Ohren, findet man das normal. Erst wenn man älter wird, begreift man, dass nicht alle Menschen so sind. Nach und nach wird einem klar, dass man in einer seltsamen Zeit lebt und dass es früher anders war. Je unbehaglicher und verunsicherter man sich fühlt, desto stärker wird der Wunsch zu sein wie alle anderen und sich anzupassen, desto mehr entgleitet einem die Normalität, weil für einen selbst eben nichts mehr normal ist. Oder wenn doch, ist man darauf angewiesen, sich bei anderen Menschen eine Bestätigung dafür zu holen. Wozu ich anscheinend überhaupt nicht in der Lage bin.

Damals, in der Vergangenheit, lieferte Sal mir Bestätigung. Wir beide kannten alle Antworten. Und wir hielten es für normal, dass Frauen starben. Oder schlimmer noch, wir glaubten, sie hätten es vielleicht verdient, weil sie etwas Schändliches getan hatten. Ich glaubte damals, wenn man aus dem Leben schied, träfe einen zumindest eine Mitschuld. Man musste etwas Schlechtes in sich tragen, um ein solches Schicksal auf sich zu ziehen – zumal wenn man an MTS starb, denn das bedeutete, man hatte Sex gehabt.

Die erste Bekannte von mir, die starb, passte genau in das Schema. Caitlin McDonagh im zehnten Schuljahr. Die Lehrer, die ich von der Grundschule an hatte, oder die Frauen, die Mum und Dad kannten, zählten für mich nicht, denn das waren Erwachsene, und Erwachsene waren (jedenfalls damals in meinen Augen) alle alt und würden bald sterben. Caitlin aber heulte sich im Geschichtsunterricht auf einmal die Augen aus dem Kopf, und man brachte sie ins Büro des Direktors, und sie kehrte nicht mehr zurück. Ihre beste Freundin erzählte uns, sie sei schwanger, und wir stellten sie uns mit ihrem ordinären Freund vor, der um die zwanzig war, und sie kamen uns vor wie Verräter. Aber ein paar Wochen danach kamen Ärzte in die Schule und verpassten uns allen Implanon-Implantate, obwohl die meisten von uns noch keinen Freund hatten, deshalb würde keine von uns so bestraft werden wie Caitlin, egal, was für schlimme Sachen wir anstellten.

Sal und ich waren neugierig, doch es berührte uns nicht sehr. Das kam erst später – an dem Tag, als wir von ihrem Tantchen erfuhren. Wir waren in ihrem Zimmer, auf dem Boden war ihre Kleidung verstreut. Wir versuchten, die besorgte Stimme ihrer Mutter zu überhören, die unten telefonierte.

»Hast du gestern Abend die Ärzte in den Nachrichten gesehen?«, fragte Sal.

»Ich glaub nicht.«

»Die haben erklärt, wie sich MTS auf das Gehirn auswirkt. Da entstehen Löcher. Sie haben gemeint, bei Frauen, die es bekommen, sieht das Gehirn irgendwann aus wie Schweizer Käse.«

»Widerlich.«

»Ja, die verlieren Teile ihres Gehirns, können nicht mehr das Gleichgewicht halten und werden vergesslich.«

»Glaubst du, es tut weh?«

»Das haben sie nicht gesagt. Einige sterben ganz schnell. Nach nur dreitägiger Krankheit.«

Wir waren uns darin einig, dass das Wissen um das, was einem bevorstand, das Schlimmste sei. Wer möchte schon gern wissen, dass sich das eigene Hirn in einen Schweizer Käse verwandeln wird? Eine Weile saßen wir da und schwiegen. Sal hatte viel mechanisches Spielzeug, denn das sammelte sie – wir zogen eine Nonne und eine Lisa Simpson auf und ließen sie auf dem Schreibtisch um die Wette laufen. Die Nonne gewann. Wir brachten auch noch einen Bleistiftspitzer in Briefkastenform und ein Auto ins Spiel. Mit vier Wettläufern ist es schwieriger, denn man muss sie aufziehen und festhalten, ohne dass das Federwerk abläuft. Ich dachte, wenn die Nonne noch einmal gewinnt, würde sie bestimmt ein Heilmittel für MTS finden, Lisa aber fiel vom Schreibtisch, und die Nonne und der Briefkasten stießen zusammen.

»Vielleicht werden wir nie Kinder haben«, meinte Sal.

»Wenn die jüngsten Menschen, die jetzt leben, einmal alt sind …«

»Werden sie die letzten Menschen auf Erden sein.« Das kam seit einer Ewigkeit in den Nachrichten, aber auf einmal konnte ich es mir auch vorstellen. »Wenn wir alt werden, wird es keine Kinder mehr geben.«

»Man wird die Schulen schließen müssen.«

»Alle Sachen, die Kinder brauchen – die werden nicht mehr hergestellt.«

»Windeln, Babykleider, Kinderwagen.«

»Das wird richtig unheimlich sein.«

»Und wenn wir alt sind, werden alle alt sein. Niemand wird mehr arbeiten.«

»Keine Geschäfte mehr, keine Müllmänner und keine Busse.«

»Nichts. Alles wird knirschend zum Stehen kommen.«

Sal schaltete den Fernseher ein. An einem heiligen Ort in Indien war es zu Unruhen gekommen. Zu viele Frauen wollten dort gleichzeitig beten, einige waren in Panik geraten, und viele Menschen wurden zu Tode getrampelt. Sie stellte den Ton ab. »Eigentlich ist es sinnlos, dass wir Hausaufgaben machen, findest du nicht? Wenn wir demnächst aussterben.«

Wir dachten an all das, was sinnlos werden würde, die Uni, Arbeit, Ehe, Hausbau, Landwirtschaft, Straßenreparaturen.

»Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als das Beste daraus zu machen, bis wir sterben«, sagte Sal. »Es wäre völlig egal, was wir machen. Da würde sich niemand drum scheren.«

Ich wollte schon meiner Sorge Ausdruck verleihen, dass es dann niemanden mehr gäbe, der die letzten Toten einäschern oder begraben würde. Dann aber fiel mir ein, dass wohl Tiere sie fressen würden. »Die Erde wird ein friedlicher Ort sein. Keine Autos, Flugzeuge und Fabriken mehr – keine Luftverschmutzung. Die Pflanzen werden sich nach und nach in den Städten ausbreiten …«

Wir stellten uns vor, dass unsere Häuser allmählich verfallen würden, und unterhielten uns darüber, wie es wohl wäre. Bevor die letzten Menschen starben, müsste man die Zootiere freilassen. Die würden wahrscheinlich einigen von uns ein noch früheres Ende bereiten. Und die Tiere würden sich an das Leben in ihrem neuen Revier gewöhnen und es in Besitz nehmen. In England würde es wieder Wölfe und Bären geben. Tiger würden sich von den Rinderherden ernähren, die niemand mehr hütete. Die Äste der Bäume würden über die Straße ragen, die Hecken würden verwildern, Unkraut würde aus dem Asphalt sprießen. Nach hundert Jahren wäre die Welt wieder ein einziger großer Naturpark, die bedrohten Tierarten würden sich wieder vermehren, im Meer gäbe es riesige Kabeljauschwärme, auf den Kirchtürmen würden Adler nisten. Ich musste an den Garten Eden denken, an das Paradies, wie es gewesen war, bevor Adam und Eva es vermurkst hatten.

»Aber stell dir nur mal vor, niemals ein Baby in den Armen zu halten.« Sal stellte den Ton lauter; es lief der Werbespot mit den tanzenden Joghurtbechern, den wir immer mit hoher, gequetschter Stimme mitsangen, und das taten wir auch diesmal.

Dann kam ihre Mum verweint zu uns nach oben und teilte Sal mit, dass ihr Tantchen gestorben sei. Ich hatte nicht mal gewusst, dass Tantchen schwanger gewesen war. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und war ganz fixiert auf den Geruch nach Verbranntem, der zu uns hereinwehte, als ihre Mum die Tür öffnete. Ein süßlicher Geruch, der im Hals kratzte – es war der Schokoladenkuchen, den wir gemacht hatten und den ihre Mum im Auge behalten sollte. Ich verabschiedete mich verlegen und ging nach unten. An der Hintertür winselte ihr Hund Sammy, und ich ließ ihn rein, dann stellte ich den Backofen ab. Es hatte keinen Sinn hineinzuschauen, denn ich konnte mir denken, dass der Kuchen verbrannt war. Trauer empfand ich keine. Es war mir einfach gleichgültig. Was wird wohl als Nächstes passieren?, überlegte ich. Als gingen mich die Menschheit und deren Schicksal nicht das Geringste an. Als raste ich mit dem Fahrrad im Leerlauf bergab, hinein in die stille Schwärze der Nacht.