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Ich simste Sal immer wieder an, doch die einzige Antwort, die sie mir schickte, war »x«. Als ich ihre Mum anrief, meinte sie, Sal fühle sich nicht gut und liege im Bett. Ich war mir ziemlich sicher, dass ihre Mum nicht wusste, was passiert war. Ich überlegte gerade, ob ich es ihr sagen sollte, da schickte Sal mir endlich eine Nachricht: »Kommst du mit zu Fr-Protestvers? Do um 8 xS«.

Wir trafen uns an der Bushaltestelle. Sie hatte sich unter einer dicken Schicht Make-up versteckt, und als ich mich erkundigte, wie es ihr gehe, antwortete sie kurz angebunden: »Prima. Red nicht drüber.« Und so plapperte ich vom College daher. Sie hatte durch eine Freundin ihrer Mutter von der Gruppe erfahren; die Frauen nannten sich FLAME, Feminist Link Against Men – Feministische Liga gegen Männer. Sie trafen sich in Glossop in einem großen Haus, in dem eine Frauengruppe wohnte. Der Wohnraum erinnerte an ein Wartezimmer, denn Stühle und Sofas hatte man an die Wände gerückt. Es waren etwa zwanzig Frauen gekommen. Alle waren älter als ich und eine vielleicht sogar älter als Mum. Alle wirkten ein bisschen hippiemäßig mit ihren Schichten von alten Klamotten und ihren eingelaufenen Strickjacken oder Ponchos. Ich hätte auch gern eine Schicht mehr getragen, denn es war eiskalt.

Verglichen mit YOFI ging es hier eher ernsthaft zu. Das Ganze hatte etwas Lebloses. Die Frau, welche die Versammlung leitete, hieß Gina. Sie war schlagfertig und energisch und lächelte kein einziges Mal. Sie sprach über den Krieg gegen Frauen. Sie sagte, die Entwicklung von MTS sei die logische Folge der mehrtausendjährigen Unterdrückung und des Missbrauchs durch die Männer. Männer hätten einen Abscheu vor der weiblichen Sexualität und neideten der Mutter ihre Beziehung zum Ungeborenen. Deshalb wollten sie Jungfrauen heiraten und die Unterwürfigkeit der Frauen bewahren, denn sie könnten sich nie sicher sein, dass das Kind auch von ihnen wäre. Und die Frauen seien nur der Besitz der Männer gewesen, und nur Männer könnten erben, und niemand wolle Töchter haben. Millionen von weiblichen Babys würden getötet oder abgetrieben. Dann kam sie wieder aufs Kinderkriegen zu sprechen. Früher hätten ihnen weise Frauen bei der Geburt geholfen, doch die Männer hätten die Hebammen als Hexen verteufelt und auf männlichen Ärzten bestanden. Und weil manche Frauen nicht schwanger werden konnten, hätten männliche Wissenschaftler Methoden entwickelt, um Babys außerhalb des weiblichen Körpers zu zeugen. Das wäre seit jeher ihr Ziel gewesen, denn sie wollten, dass das Geheimnis und die Macht, Kinder zu zeugen, ganz ihnen gehörte. Sie sprach von den ersten Reagenzglasbabys und meinte, Männer hätten die Kontrolle über den Zeugungsvorgang an sich gerissen und aus Frauen passive Kühe gemacht. »Der Rinderwahnsinn ist kein Irrtum, das könnt ihr mir glauben, denn genau das sind wir für sie.« Sie bezeichnete MTS als die Atombombe des Geschlechterkriegs. »Indem sie die Schwangerschaft in ein Todesurteil verwandeln, rauben sie sie uns für immer. Jetzt können sie behaupten, es gäbe keine andere Möglichkeit als das vom Mann erzeugte Kind.«

Ich blickte Sal an, doch sie ließ sich kein Wort des Vortrags entgehen. Eine andere Frau sprach über Sex und erklärte, Männer hätten lieber Sex mit ihresgleichen, wären aber gezwungen, Sex mit Frauen zu haben, wenn sie Kinder zeugen wollten. Sie sagte, das sei der wahre Ursprung der religiösen Gesetze gegen Homosexualität, denn es liege im Interesse der Religion, dass möglichst viele Kinder geboren würden, welche den Glauben weiter verbreiten könnten. Jetzt aber sei die sexuelle Reproduktion am Ende, die alten Verbote der Homosexualität lösten sich auf, und Millionen Männer würden ihr Coming-out haben.

Andere Frauen meldeten sich zu Wort und beklagten sich, die Männer würden sie wegen der Krankheit wie Aussätzige behandeln. Sal blickte starr ins Leere, doch ihre Augen glitzerten. Behutsam legte ich ihr die Hand auf den Arm, und sie ließ es sich gefallen. Ich dachte an die Kerle im Auto und den Typ, der mich angespuckt hatte. Ich dachte daran, wie Sal in der nach Lavendel duftenden Wanne gesessen und sich geschrubbt hatte.

Dann sprachen sie darüber, wie die MTS-Frauen in aller Welt behandelt würden, dass man einige wie Hunde auf der Straße habe sterben lassen oder dass sie interniert, fehlinformiert oder von der Polizei drangsaliert worden seien – wären die Betroffenen Männer gewesen, wäre all das nicht passiert. Sie meinten, wenn die Krankheit Männer befallen würde, hätten die Forscher längst ein Heilmittel entwickelt. Die schrecklichen Behauptungen wirbelten wie Laub durch meinen Kopf. Ich konnte die Gedanken nicht zum Schweigen bringen. Die Behauptung, Männer wären lieber schwul, erinnerte mich ans College.

Irgendetwas war tatsächlich anders geworden. Sagte man in der Zeit vor MTS von einem Jungen, er sei schwul, war das eine Beleidigung. Alle wussten, dass es Schwule gab, dass es legal war und überhaupt, und im TV sah man jede Menge schwule Berühmtheiten. Wenn man im richtigen Leben einem schwulen Paar begegnete, behandelte man es höflich, doch auf der Uni war es eine Beleidigung. Nannte man einen Jungen schwul, war das herabsetzend gemeint. Und die Jungs und Mädchen, die tatsächlich homosexuell waren, hielten das geheim. Man sah es einem einfach nicht an. In den Monaten nach dem Ausbruch von MTS aber änderte sich das. Es geschah so allmählich, dass es einem fast nicht auffiel.

Jungs bildeten Grüppchen mit Jungs und Mädchen mit Mädchen. Einige Mädchen bekamen Angst vor Jungs – obwohl wir alle Implanon nahmen, war die Vorstellung trotzdem bedrückend, zumal für diejenigen, die eine Frau kannten, die gestorben war. Sex war das Risiko anscheinend nicht wert. Und die Jungs – also, ich wusste nicht, was sie dachten, aber die Atmosphäre veränderte sich. Sie blieben für sich und gaben sich weniger Mühe, uns zum Lachen zu bringen. In gewisser Weise wurden sie schüchterner. Das galt nicht für alle; es gab auch welche, die sich genau entgegengesetzt verhielten. Wie zum Beispiel die Gangs, bei denen man häufig Jungs und Mädchen zusammen sah – oder auch Sal und Damien zu Beginn ihrer Beziehung. Die Leute wechselten von einem Extrem ins andere, als wüssten wir nicht mehr, wie wir uns verhalten sollten.

Ich erinnere mich an einen besonders sonnigen Nachmittag, kurz nach Semesterbeginn. Bis zur Französischvorlesung war noch etwas Zeit. Ich schaute in der Bibliothek vorbei, und wegen der Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, war es dort so heiß wie in einem Gewächshaus. Es war niemand da, nur die rotgesichtige Bibliothekarin, der das schweißnasse Haar am Kopf klebte. Ich ging zum Hinterausgang raus, um ein Sonnenbad zu nehmen, während ich die Vokabeln durchging. Ich wollte mich gerade auf die Treppenstufen hinter der Turnhalle setzen, doch als ich den Blick übers Spielfeld schweifen ließ, bemerkte ich mehrere Studenten, die entlang der Hecke im Gras lagen. Ich hoffte, dort jemand anzutreffen, den ich kannte, außerdem wäre ich vor der prallen Sonne geschützt. Der Rasen war vor Kurzem gemäht worden, und der Duft des frisch geschnittenen Grases war verlockend. Im Gehen musterte ich die Sonnenbadenden, doch als ich ihnen näher kam, stellte ich fest, dass es ausschließlich Jungs waren. Sie hatten sich das T-Shirt ausgezogen, um sich zu bräunen. Ich wurde verlegen, blickte zur Spielfeldecke, die ich ansteuerte, und ging so schnell ich konnte, als hätte ich die Jungs gar nicht bemerkt. Ich legte mich auf den Rasen und wandte ihnen den Rücken zu, vor mir das aufgeschlagene Vokabelbuch. Ich hörte sie flüstern und lachen. Sie stachelten welche an, drängten sie, irgendetwas zu tun.

Ich konzentrierte mich auf mein Buch und schreckte zusammen, als ein Schatten auf die Seite fiel. Ich schaute auf. Vor mir standen zwei Händchen haltende Jungs, dunkle Schatten im Gegenlicht.

»Entschuldigung«, sagte der eine, und der andere lachte. »Das Sonnenbad ist privat.«

»Schwulenstrand«, meinte der andere grinsend.

»Für Mädchen verboten«, sagte der Erste. Ich hörte die anderen lachen. Als ich meine Sachen aufsammelte, blickte ich mich unwillkürlich zu ihnen um, sah ihre höhnischen Gesichter und ihre geröteten nackten Oberkörper, erhaschte einen Blick auf nackte Beine und Pos. Ich marschierte über das Spielfeld zurück und wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Ein seltsamer Gedanke stahl sich in meinen Kopf. Er betraf Baz. Ich überlegte, weshalb nie etwas zwischen uns passierte, obwohl ich den Eindruck hatte, es könnte jeden Moment dazu kommen. Aber warum hatte er mich dann gefragt, ob Iain mich geküsst habe? Weshalb sollte ihn das interessieren?

Auf der Heimfahrt im Bus teilte Sal mir mit, sie wolle sich FLAME anschließen.

»Die sind ein bisschen radikal«, meinte ich.

»Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, sich zu radikalisieren? Millionen Frauen sind gestorben, und es gibt immer noch kein Heilmittel. Wenn wir uns jetzt nicht radikalisieren, wann dann?«

Ich überlegte, ob ich ihr von den Frauenärzten erzählen sollte, die im Labor meines Dads arbeiteten, und von den unfruchtbaren Frauen, die in die Klinik gingen und froh waren über die IVF, die sie sich wünschten. Dabei hörte ich im Kopf die Stimme meines Dads, der alles zerpflückte, was Gina sagte. Ich glaubte nicht, dass sie recht hatte. Aber vielleicht irrte ich mich. Weshalb musste ich immer meinem Dad glauben?

Ich schämte mich, als wäre Sal älter und wüsste mehr als ich, weil sie schon mehr erlebt hatte. Als hätte ich kein Recht, ihr zu widersprechen oder sie beeinflussen zu wollen. Zweifellos wusste sie, wie mir zumute war, und das ärgerte mich; sie wollte keine Anteilnahme und kein Mitgefühl, sie wollte einfach nur, dass niemand davon erfuhr. Sie war wütend auf mich, weil ich davon wusste, aber natürlich war uns klar, dass ich nichts dafür konnte. Wir konnten uns beide nicht normal verhalten.

Die Äußerungen der FLAME-Frauen brannten sich in mein Hirn, wie wenn ich beim Aufwachen Mum und Dad streiten hörte. Hat man einmal etwas in sich aufgenommen, wird man es nicht wieder los. Es wird zu einem Teil von einem, es arbeitet wie der Hefeteig, den Sal und ich einmal am Wochenende gemacht haben. Man deckt ihn zu und lässt ihn stehen, und er geht auf und verändert die Form. Er wird immer größer, bis er sich in etwas ganz anderes verwandelt hat.