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Meine Eltern waren nicht so schlimm wie seine, aber schlimm genug. Am Wochenende hatten sie einen besonders idiotischen Streit. Mum fragte Dad, ob er etwas dagegen habe, sie am Sonntag zur Geburtstagsfeier eines Kollegen zu begleiten. Geistesabwesend, wie es seine Art ist, wenn er lesen möchte und sich gestört fühlt, antwortete er: »Ja, sicher.«

Doch anstatt es dabei bewenden zu lassen, griff sie ihn an.

»Es ist dir doch scheißegal, ob ich hier bin, oder? Solange du nur deine Bücher hast, kann ich meinetwegen auch nackt auf der Straße tanzen.«

»Was habe ich getan?«, fragte er. »Ich weiß nicht, warum du dich aufregst. Ich dachte, du wolltest mit mir ausgehen.«

»Ich bin es leid, ständig unsichtbar zu sein!«, schrie Mum. Am Sonntag zog sie ein pinkfarbenes Top und eine schwarze Wollhose an, beide Teile offenbar neu, obwohl sie beide den Vertrag unterschrieben hatten, und kam erst nach Hause, als ich schon im Bett lag.

Und dann ließ Mandy die Bombe platzen. Eines Abends, als ich gerade vom College heimgekommen war, rief sie an, und ich nahm das Gespräch entgegen. Sie sagte, sie wolle heiraten. Ich stand in der Jacke in der Küche und blickte in den kalten, dunklen Garten hinaus, während Mandy mir ins Ohr plapperte. »Die Hochzeit soll im März stattfinden. Das wird eine Open-Air-Veranstaltung auf den Platt Fields mit Hunderten Gästen. Ich werde mein Kleid selbst schneidern, der Stil ist egal, solange es nur weiß ist. Ich habe noch wunderschöne alte Spitze …«

Ich begriff nicht, wen sie heiraten wollte. Ich hatte nicht mal gewusst, dass sie einen Freund hatte.

»Am Sonntag bekommen wir die Namen genannt«, sagte sie.

»Von wem?«

»Beim Treffen. Bei den Noahs.«

»Und wessen Namen bekommt ihr genannt?«

»Die Namen der Männer, die wir heiraten!« Je mehr sie mir erzählte, desto verrückter wurde es. Fünfzig Paare sollten gleichzeitig heiraten, und sie kannten nicht einmal den Namen ihres Partners. Ich war ungeduldig, weil Sal seit langer Zeit wieder mal vorbeikommen wollte, um eine DVD mit mir zu schauen, und ich wollte vorher mein Zimmer aufräumen. Außerdem sollte ich Mum und Dad Tee kochen.

»Weiß Mum Bescheid?«, fragte ich.

»Natürlich nicht. Ich habe mich gerade erst angemeldet.«

»Soll sie dich zurückrufen?«

»Ja, prima.«

Als ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich mies, denn ich hatte seit einer Ewigkeit nicht mehr mit ihr gesprochen. Ich putzte ein paar Folienkartoffeln und legte sie in die Mikrowelle, dann rief ich Mandy zurück. Sie war immer noch ganz aufgeregt.

»Die Noahs organisieren drei große Feiern in verschiedenen Städten, und nur Frauen aus sauberen, geweihten Vierteln dürfen sich bewerben.«

»Was ist denn ein sauberes, geweihtes Viertel?«

»Zwischen der Bibliothek und dem Co-Op, begrenzt von der Manchester Road im Norden und dem Spielfeld im Süden, haben wir über die Hälfte der Haushalte bekehrt.«

»Verstehe.« Offenbar war sie verrückt geworden.

»Das alte Ehepaar nebenan, du weißt schon, die, die sich immer über Clives laute Musik beschwert haben, waren die härteste Nuss. Ich habe Stunden damit zugebracht, ihnen alles zu erklären – irgendwann aber hat es bei ihnen klick gemacht, und letzten Sonntag sind sie zum Treffen erschienen.«

»Ich verstehe noch immer nicht …«

»Hör zu«, sagte sie geduldig. »Weißt du, dass wir es möglich gemacht haben, dass weiterhin Babys zur Welt kommen?«

»Das haben die Noahs geschafft?«

»Ja. Durch Gebet und Fürbitte.«

»Du meinst die Schlafenden Schönen?«

»Ja, ja. Die Noahs haben begonnen, die Flut des Bösen zu brechen, und die Schlafenden Schönen haben Kinder zur Welt gebracht.«

»Ist es nicht eher so, dass die Ärzte sie ins Koma versetzt haben?«

»Du musst dir die wahren Ursachen klarmachen, Jess. Du darfst nicht den Schein mit dem Sein verwechseln. Wenn du in die Bibel schaust …«

Draußen fuhr ein Wagen vor. »Du meinst, den Ärzten wäre das nur deshalb gelungen, weil die Noahs für sie gebetet haben?«

»Genau.«

»Aber die Schlafenden Schönen gehören nicht alle den Noahs an.«

»Du würdest dich wundern, wie viele zu uns gehören. Und selbst diejenigen, die es nicht tun, kommen aus sauberen, geweihten Gegenden. Und deshalb haben ihnen die Gebete der Noahs geholfen.«

Meine Mum kam in die Küche. Ich reichte ihr das Telefon und rieb Käse. Mum kam viel schneller auf den Punkt als ich.

»Und du weißt nicht mal, wer es ist?«, fragte sie. »Mandy, das könnte jeder Beliebige sein – ein schmutziger alter Perverser, irgendein religiöser Spinner …«

Ich hörte, wie Mandy am anderen Ende der Leitung dagegen argumentierte.

»Joe hat recht«, sagte meine Mum. »Du wurdest einer Gehirnwäsche unterzogen. Jetzt hör mir mal zu. Ein Mann, den du nicht mal kennst – in deinem Haus. In deinem Bett …«

Die Stimme im Hörer wurde lauter. Mum hielt sich das Telefon vom Ohr weg und sah mich kopfschüttelnd an. In eine Pause hinein sagte sie: »Hör mal, Mandy, du kannst das nicht machen. Ich möchte, dass du dort anrufst und – nein, nein, sei still – nein, ich möchte, dass du glücklich wirst, natürlich will ich das … das ist ungerecht …« Nach kurzem Schweigen legte Mum das Telefon weg. Eine Weile schaute sie es betrübt an. Dad kam in die Küche, noch im Mantel. »Hallo, mein nussbraunes Mädchen«, sagte er. Er wollte abends weg, deshalb brauchte ich nicht für ihn mitzukochen. Ich sagte ihm, es gäbe nur gebackene Kartoffeln, und er meinte grinsend, das habe er geahnt.

»Joe«, sagte Mum. »Gib mal einen Moment Ruhe, ich bitte dich. Mandy sagt, sie wolle an einer dieser Massenhochzeiten der Noahs teilnehmen.«

»Ich soll Ruhe geben?«, sagte mein Dad. »Ich hab doch nicht angefangen!«

»Bitte …«

»Eben noch wirfst du mir vor, ich würde dich missachten, und jetzt soll ich dir auf einmal helfen …«

»Es tut mir leid«, sagte Mum. Sie rieb sich das Gesicht. »Wirklich.«

»Was soll ich sagen?«

Es entstand ein Schweigen. Mum schüttelte den Kopf, als wehrte sie ein zudringliches Insekt ab. »Es geht um Mandy«, sagte sie. »Können wir sie in die Klinik bringen?«

»Das soll wohl ein Scherz sein. Man müsste schon alle Noahs für verrückt erklären, was sie offensichtlich auch sind, aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass die Ärzte sich mit Zwangsjacken auf den Weg machen.« Er küsste mich auf den Kopf und ging zum Wagen hinaus, ohne sich von Mum zu verabschieden.

Mum besuchte Mandy am Samstag und brachte sie am Abend zu uns. Dad musste ihr helfen, sie aus dem Wagen zu zerren. Mum gab ihr eine Schlaftablette und blieb bei ihr im Gästezimmer sitzen, bis sie eingeschlafen war. Dann berichtete sie mir und Dad, was geschehen war. Als sie bei Mandy ankam, hatte sie die Nähmaschine ausgepackt und nähte an ihrem Hochzeitskleid. Sie hatte ein paar Spitzengardinen zurechtgeschnitten und hatte vor, sie auf einen hautfarbenen seidenen Unterrock aufzunähen. Mum versuchte in Erfahrung zu bringen, wer die Hochzeit organisierte, doch Mandy lachte nur und sagte: »Die Noahs haben mich frei gemacht!« Sie war vollkommen aufgedreht, hantierte an der surrenden Nähmaschine und kicherte, weil Mum so ernst war. Dann läutete das Telefon, und sie beeilte sich abzunehmen. Und fiel in sich zusammen wie ein geplatzter Luftballon.

Man sagte ihr, sie sei zu alt, sie wollten bei der Massenhochzeit nur junge Frauen dabeihaben. Das brach ihr das Herz – für sie war es so, als würde sie ein zweites Mal von Clive verlassen. Bloß dass sie diesmal den Mann, den sie nicht heiraten würde, gar nicht gekannt hatte. Aber wie mein Dad erklärte, war es auch gar nicht der Mann, der sie interessierte. Er meinte, die Noahs wüssten, dass die Krankenhäuser und Kliniken nur junge Freiwillige als Schlafende Schöne akzeptieren würden. Das wären die Einzigen, deren Kinder überlebten. Mum hatte sie zu uns gebracht, weil sie fürchtete, Mandy könnte eine Dummheit machen. Dad nahm alle Tabletten aus dem Toilettenschrank und versteckte sie.

Mandy blieb die ganze Woche über im Bett. Sie wollte nicht essen und trank kaum etwas; sie lag einfach nur mit versteinerter Miene da. Mum ließ sie nur ungern allein, doch sie musste zur Arbeit gehen. Dad nahm sich ein paar Tage frei, und anschließend kümmerte ich mich um sie, wann immer ich Zeit hatte. Es war traurig; ich brachte ihr etwas zu trinken, und sie lag einfach nur mit geschlossenen Augen da, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Wenn ich sie bat zu trinken, drehte sie langsam den Kopf weg, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich kniete ich am Bett, hielt ihr die Hand und weinte ebenfalls. Sie öffnete einen Spalt weit die Augen, als wären ihre Lider zu schwer, um sie anzuheben, und murmelte: »Sie haben es versprochen. Gott erhört deine Gebete, er wird dir deinen Herzenswunsch erfüllen.«

»Mandy, niemand kann …«

»Sie haben es versprochen.«

Der Arzt verschrieb ihr eine Menge Pillen, und Mum suchte einen erfahrenen Pfleger – er nannte sich Paul –, der sich um sie kümmerte. Das war teuer, und Mandy hatte kein Geld. Hätte Oma Bessies Haus einen Käufer gefunden, wäre das hilfreich gewesen, denn es gehörte jetzt Mandy und meiner Mum, doch bislang hatte es sich noch niemand angeschaut.

Wenn Oma Bessies Haus einen Käufer gefunden hätte – wo wäre ich dann wohl jetzt? Hätte er ein anderes Versteck gefunden, das für eine Entführung ebenso gut geeignet gewesen wäre?

Mum und Dad hatten eine heftige Auseinandersetzung, beinahe einen Streit, als Mum erklärte, die einzige Möglichkeit, Mandys Pflege zu bezahlen, bestehe darin, den Wagen nicht zu ersetzen und auf den Urlaub zu verzichten. Und er sagte, er habe nichts dagegen. Zwei gute Entscheidungen für das Wohl der Erde; doch in der Nacht verfolgte mich Mandys verweintes Gesicht.

Alles Mögliche ging mir durch den Kopf. All die Frauen wie Mandy, die sich Kinder wünschten und in ihren Betten weinten. Die Selbstmorde. Die umherstreifenden Banden, die raubten, was ihnen gefiel. Und Sals Überzeugung – die Ansichten der FLAME-Frauen, die Art und Weise, wie MTS Männer und Frauen entzweite. Und das Geschnatter der kleinen Protestgruppen, die nichts erreichten.

Ich dachte, irgendetwas muss man doch tun können, bevor alles auseinanderfällt und den Bach runtergeht. Ich dachte daran, wie wir mal auf der Schnellstraße gefahren waren. Ein Stein kam angeflogen und prallte gegen die Windschutzscheibe. Das Glas bekam einen Knacks, von dem langsam ein Riss zur Fahrerseite wanderte. Mein Dad fuhr auf die Standspur, um die nächste Ausfahrt zu nehmen. Der Riss im Glas wanderte weiter, ganz langsam, als wäre er lebendig, und schlängelte sich über die Windschutzscheibe. Als wir an der Ausfahrt anlangten, erreichte der Riss die andere Seite, und von dort ging ein neuer Riss aus, der einen leicht ansteigenden Verlauf nahm. Es war, als kritzele jemand Linien aufs Glas. Dad musste am Kreisverkehr halten, und als er wieder anfuhr, ruckte der Wagen, und auf einmal barst das ganze Fenster. Dad musste das Glas mit dem Straßenatlas herausschlagen. Und ich dachte, so geht es auch uns. MTS war erst ein Riss, aber jetzt bricht die ganze Welt in Stücke.

Der einzige Hoffnungsschimmer, den ich sehen konnte, waren die tiefgefrorenen Embryos, deren Geburt ihre Mütter das Leben kosten würde.