20

Samstagvormittag packte Dad einen Rucksack mit Snacks und einer Thermoskanne Kakao, wie es bei uns üblich war, wenn wir wandern gingen. »Ich fahre aber nicht mit dem Wagen«, sagte ich.

»Wie zum Teufel sollen wir dann zu den Dovestones kommen?«

»Mit dem Bus nach Greenfield, dann weiter zu Fuß.«

Dad rollte mit den Augen. »Dann werden wir an Unterkühlung sterben, bevor wir überhaupt da sind.«

»Du hörst mir einfach nie zu, oder? Die Menschheit muss aufhören, Öl zu verschwenden.«

»Ja, ja, ja, ja«, sagte er. »Wir müssen wieder in Hütten rumhocken und im Schein eines qualmenden Feuers Wurzelgemüse knabbern. Und nie weiter reisen, als unsere Füße uns tragen.«

»Ha, ha.«

»So lautet doch eure Empfehlung, hab ich recht? Wir sollen zurück ins Mittelalter. Hast du einen Busfahrplan?«

»Den gibt’s online.«

»Ts, ts. Stromverschwender!« Er grinste.

Ich zog mir gerade zwei Paar dicke Socken an, als er mich ins Gästezimmer rief. »Schau mal, kluges Kind.« Der nächste Bus kam um 12.15 Uhr, in zweieinhalb Stunden. »Steig zu mir in den Wagen, und ich verspreche dir, dass ich in der kommenden Woche zum Ausgleich an einem Tag mit dem Bus zur Arbeit fahren werde.«

»Das wäre gemogelt.«

»An zwei Tagen. Versprochen. Heute Abend muss ich zu Mandy gehen, damit deine Mum sich mal ausruhen kann.«

»Habt ihr euch wieder versöhnt?«

»Ja.«

»Du machst dich nicht wieder aus dem Staub?«

»Nein, Schatz. Die Dummheiten, die wir angestellt haben, reichen für eine Weile.«

Schön, dass auch ich das erfahre, dachte ich. Aber ich sagte nichts. Die Sonne schien, und er hatte gute Laune. Ich wollte mich nicht streiten. Als wir am Pike vorbeifuhren, funkelten die schneebedeckten Felder in der Sonne, dass es einen blendete. Und am Dovestones-Staubecken war das Moor unter einer Schneeschicht verborgen, alle Konturen waren sanft und abgerundet, und die Tannenäste waren an der dem Wind zugewandten Seite von großen weißen Klumpen beschwert. »So viel Schnee habe ich hier oben noch nicht gesehen«, sagte mein Dad. Er war auf den am höchsten gelegenen Parkplatz eingebogen, hatte dann aber aus Angst, im Schnee stecken zu bleiben, zurückgesetzt und den Wagen am Straßenrand abgestellt. Als wir ausstiegen, atmeten wir die eiskalte Luft ein, die ebenso schneidend war wie das Licht.

»Vielleicht sehen wir ja einen Eisvogel«, scherzte ich.

Dad lachte. »Der blaueste Vogel im ganzen Land.«

»Prächtiger als ein Pfau?«

»Viel prächtiger als ein Pfau.« Wir setzten unsere Mützen auf, zogen die Handschuhe an und gingen über die Treppe in den kleinen Wald. Die Treppe führte von der Höhe der Baumwipfel hinab zu den Wurzeln und Stämmen, wobei man sich vorkam, als ob man schrumpfte. Die untere Seite wird von einer hohen Steinmauer begrenzt, und man gelangt nur durch das Drehkreuz wieder hinaus. Wenn man sich auf dem Gelände befindet, fühlt man sich deshalb sicher und vom Rest der Welt abgeschlossen. Als ich klein war, haben Dad und ich dort Verstecken gespielt. Er schloss die Augen und zählte bis hundert, und ich kletterte über herabgefallene Äste hinweg und versteckte mich hinter einem dicken Baumstamm. Aus der Deckung hervor beobachtete ich, wie er in die falsche Richtung losmarschierte. Ich schnupperte das Harz und den modrigen Pilzgeruch an meiner Wange und spürte die kratzigen kleinen Nadeln, die in meine Turnschuhe geraten waren und mich piksten.

»Weißt du noch, wie wir Verstecken gespielt haben?«, fragte ich.

»Ich hatte immer Angst, du könntest dich verirren.«

»Das Gelände ist kaum größer als ein Fußballfeld!«

»Ich weiß«, sagte er, »das ist lächerlich.«

Ich erinnerte mich, dass ich so reglos wie eine Statue dastand, während mir das Herz bis zum Hals schlug. Wie ich auf das Knacken von Zweigen und das leise Knirschen der Baumnadeln lauschte, während das Geräusch seiner Schritte näher kam und sich dann wieder entfernte. Wie ich den Moment abschätzte, da ich zum Anschlag losrennen musste. Wenn ich gewann, raufte er sich stöhnend das Haar, und ich musste so heftig lachen, dass ich Schluckauf bekam. Wir passierten das Drehkreuz, marschierten den breiten Weg entlang und bogen dann auf den Pfad ein, der am oberen Staubecken entlangführt.

»Also, Jess«, sagte er. »Sollen wir jetzt darüber reden?«

»Mein Entschluss steht fest.«

»Was sagen deine Freunde dazu?«

»Sie wissen nichts davon. Ich soll mit niemandem reden.«

»Was war der Anstoß?«

»Du.«

»Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest.«

»Du hast gemeint, es wäre notwendig. Da wäre es scheinheilig, wenn du …«

»Ich habe gesagt, es wäre notwendig. Damit habe ich nicht gemeint, es wäre notwendig für dich

»Jedes Mädchen, das sich für das Programm meldet, ist jemandes Tochter.«

»Stimmt.« Wir gingen schweigend weiter, unsere Schritte knirschten im Schnee. Ich hatte gewusst, dass er mich missverstehen würde – wie sollte es auch anders sein. »Ich tue das nicht, weil du mich auf die Idee gebracht hast. Ich tue das, weil ich es will.«

»Dann nenn mir deine Beweggründe.«

»Da gibt es viele.«

»Zum Beispiel, Jessie?«

»Wie sonst soll je wieder Normalität einkehren?« Er schwieg. »Frauen, die sterben müssen, wenn sie Kinder bekommen«, sagte ich. »Die Banden. Menschen, die sich umbringen wollen. Die Sachen, die wir bei YOFI besprochen haben.«

»Ah, YOFI. Dein Freund Iain. Was haben die dazu gesagt?«

»Nichts. Außerdem bin ich ausgetreten.«

»Hör mal, Jess, nur weil du irgendwelche Gedankensprünge vollführst, heißt das nicht, dass ich dir automatisch folgen kann.«

»Wenn man etwas zum Guten verändern möchte, nützt es nichts, anderen Leuten davon zu erzählen. Wie du selbst gesagt hast, muss jemand den ersten Schuss abfeuern.«

»Haben sie auch andere Mädchen gebeten, mit gutem Beispiel voranzugehen?«

»Niemand hat irgendjemanden gefragt.«

»Aber wollen nicht einige von den anderen Mädchen mitmachen?«

»Soviel ich weiß, nicht. Keine von ihnen war in der Klinik. Das kam schließlich nicht in den Nachrichten, oder?«

»Du hast es von mir erfahren«, wiederholte er.

»Früher oder später hätte ich’s sowieso erfahren.«

»Zu versuchen anders zu leben, und sich freiwillig zum Sterben zu melden, sind das nicht zwei ganz verschiedene Dinge?«

»Es geht um das Gleiche.« Ich hielt an und schaute den Weg zurück, den wir gekommen waren. Außer uns war noch niemand hier entlanggegangen, und wir hatten zwei funkelnde Fußspuren hinterlassen. Ich zeigte sie Dad. »Schau mal. Eine prima Fährte, falls uns jemand folgen will.«

»Ja«, sagte er zerstreut.

»Das perfekte Verbrechen«, meinte ich. »Man geht mit einer anderen Person zum oberen Ende des Staubeckens. Bringt sie um und zieht ihr die Schuhe aus, wirft die Leiche ins Wasser. Dann steckt man die Hände in die Schuhe und geht auf allen vieren zurück. Das perfekte Alibi.«

Er wirkt überrascht. »Du meinst das doch nicht ernst, oder?«

»Das mit dem Alibi?«

»Das mit der Teilnahme am Programm.«

»Nein.« Das sagte ich nur deshalb, weil ich nicht ewig darauf herumreiten wollte. Erwachsene werden manchmal so pathetisch, dann reißt einem der Geduldsfaden. Man ist ganz ernst bei der Sache, dann wechselt die Stimmung, weil irgendwas komisch ist, und man wird urplötzlich ausgelassen. Erwachsene marschieren immer weiter, als wären sie mit Steinen beschwert.

»Gut, dann lass uns über Wissenschaft reden.«

»Du wirst mich nicht davon abbringen.«

»In Ordnung. Aber da ich den wissenschaftlichen Hintergrund kenne, finde ich, du hast es verdient, das Ganze sehenden Auges in Angriff zu nehmen.«

»Dad, du wirst mich doch nicht anlügen, oder?«

»Jessielein.« Er schloss mich in die Arme und drückte mich, und auf einmal wurde ich von einer eiskalten Woge der Angst erfasst. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte nicht, dass er mich weinen sah. Dad küsste mich auf die Stirn. »Mein armes, kleines nussbraunes Mädchen. Keine Lügen. Nur Fakten, okay?«

»Okay.«

»Fangen wir mit den künstlichen Gebärmüttern an. Sie wurden entwickelt, bevor es MTS gab, aber jetzt hat die Forschung daran Priorität. Man gibt den Embryo in eine künstliche Gebärmutter, und dort wird er in einer stabilen Umgebung überwacht und versorgt. Das Risiko einer Infektion durch eine menschliche Mutter ist ausgeschlossen – und keine Frau braucht ihr Leben zu opfern.«

»Wurden sie schon getestet?«

»Die Forschung steht knapp vor dem Durchbruch.«

»Warum sucht Mr. Golding dann Freiwillige?«

»Ich hab dir doch gesagt, die Gebärmütter sind noch in der Entwicklung.«

»Dann steht also nicht fest, dass sie jemals funktionieren werden.«

»Man verfolgt verschiedene Optionen, Jessie. Nicht nur die mit den künstlichen Gebärmüttern. Man forscht auch an genetisch veränderten Schafen. Ich persönlich glaube, dass der Durchbruch hier erfolgen wird. Der Uterus der Schafe hat die gleiche Größe wie beim Menschen, und es gibt sehr ermutigende Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass es möglich sein könnte, modifizierten Schafen Embryos zu implantieren.«

»Transgenen Schafen?«, fragte ich. »Die zur Hälfte Menschen sind?«

Er lachte. »Wer hat denn gesagt, sie wären zur Hälfte Menschen?« Baz hatte erzählt, in Wettenhall gäbe es Monster.

»Das habe ich irgendwo gelesen.«

»Das sind ganz normale Schafe mit leicht veränderten Genen. Man kann sie nicht von anderen Schafen unterscheiden. Sie sind genauso wollig und genauso dumm. Und für mich ist es keine Frage, was ich lieber opfern würde, ein Schaf oder ein junges Mädchen.«

»Wäre es nicht peinlich, wenn man seine Mutter beim Elternabend entschuldigen müsste, weil sie ein Schaf ist?«

Dad lachte. Nach einer Weile sagte er: »Ein anderer Blickwinkel, auch wenn ihn in diesem Land niemand zur Kenntnis nehmen will. Man könnte die Embryos auch von gehirngeschädigten, geistig schwer behinderten Frauen austragen lassen.«

»Weshalb sollte jemand, der sich nicht wehren kann …«

»Einverstanden, das ist nicht schön.« Wir schwiegen. »Was du außerdem noch wissen solltest, ist, dass man daran arbeitet, MTS für normale Frauen erträglicher zu machen. Im Moment werden Medikamentencocktails getestet, die das Auftreten von Symptomen hinauszögern sollen. Eines Tages werden die Frauen ihre Kinder austragen können, ohne dass man sie ins Koma versetzen muss.«

Er war ein Teufel, der mich in Versuchung führte.

»Ich finde, du solltest damit warten. Warte ein Jahr, lass den Eierköpfen Zeit, neue Lösungen zu finden.«

Doch ich weiß, je jünger ich bin, desto besser ist es für das Kind. Das weiß jeder. Ich würde ein Jahr meines Lebens gewinnen und dabei die Existenz eines Kindes aufs Spiel setzen. Wir gelangten zum Damm und mussten über die steile Böschung zu dem Weg an der anderen Seite hinunterklettern. Der Schnee war richtig tief. Erst versuchte ich, seitwärts zu gehen, dann rannte ich mit Riesenschritten hinunter und wartete auf dem Weg auf Dad, um ihn aufzufangen. Ich spürte die Schneeklumpen in meinen Stiefeln, die zu schmelzen anfingen und meine Socken durchnässten. Das Wasser des Stausees war schwarz an dieser Seite, tief und dunkel und torfig.

»Warum gefriert das Wasser nicht?«, fragte ich.

»Es ist ständig in Bewegung, weil immer neues Wasser nachfließt.«

»Es wäre schön, wenn man darauf Schlittschuh laufen könnte.«

»Würdest du gern Schlittschuh laufen?«

»Ja.«

»Du könntest Unterricht nehmen. Wir könnten in die Eishalle gehen.«

»Die verschwenden bestimmt tonnenweise Energie für die Kühlung.«

»Du bist ein bisschen willkürlich, Jess. Glaubst du nicht, auch im SeaLife würde man für die Heizung und die Beleuchtung Energie brauchen?«

Daran hatte ich noch nicht gedacht.

»Noch etwas«, sagte er. »Du solltest dir über die Wahrscheinlichkeit eines positiven Ausgangs Gedanken machen. Über die Überlebenschancen das Kindes.«

»Wie meinst du das?« Allmählich bekam ich kalte Füße.

»Bei den Schwangerschaften vieler Schlafender Schönen treten Komplikationen auf. Entweder es kommt zu einer spontanen Fehlgeburt, oder die MTS-Symptome treten mit unerwarteter Heftigkeit auf, und das Kind wird in Mitleidenschaft gezogen – alles Mögliche kann schiefgehen. Aber die Überlebensrate der Babys steigt, im Moment liegt sie bei fünfzig Prozent. In einem Jahr werden vielleicht schon zwei Drittel überleben. Wäre das nicht allein schon ein Grund, noch zu warten? Auf eine bessere Überlebenschance des Kindes? Es gibt nichts Traurigeres, als wenn man sieht, wie diese Mädchen ihr Leben für nichts verlieren.«

»Aber Sechzehnjährige haben die beste Erfolgsrate. Das hat Mr. Golding uns gesagt.«

»Dabei geht es um ein neues Verfahren. Das ist nicht das Gleiche wie bei den Schlafenden Schönen.«

Ich schaute zu Dad hoch. Er achtete genau darauf, wohin er trat. »Du glaubst, wenn ich warte, würde ich es mir vielleicht anders überlegen.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Jetzt sah er mich an und kniff die Augen zusammen, da der Schnee ihn blendete.

»Na schön«, sagte ich. »Was noch?«

»Es gibt eine Menge tiefgefrorene Embryos, aber die Vorräte sind nicht unerschöpflich. Und das ist unsere einzige Quelle potenziell MTS-freier Kinder. Deshalb glaube ich, wir sollten nichts überstürzen. Es wird Testprogramme geben, bei denen man einer begrenzten Zahl von Mädchen Embryos einpflanzt. Über das weitere Vorgehen wird dann auf der Grundlage der Resultate entschieden werden.«

»Resultate?«

»Wie viele Kinder überleben. Ob das Impfmittel zu hundert Prozent wirksam ist. Ich vermute, die meisten Kliniken werden ein paar Tests machen, und in neun Monaten, wenn die ersten Ergebnisse vorliegen, werden die Ärzte sie vergleichen und analysieren und dann das zweite Programm starten. Bei dem die Erfolgsaussichten logischerweise besser sein werden. Die ersten Freiwilligen sind im Grunde nur Versuchskaninchen.«

Wir waren beide stehen geblieben. Ich wackelte mit den Zehen meines linken Fußes, um die Durchblutung anzuregen.

»Hör mal«, sagte er. »Ich verspreche dir, ich werde nicht versuchen, dich umzustimmen, wenn du einwilligst, aus dieser Runde auszusteigen und neun Monate auf die nächste zu warten.«

»Mir ist kalt«, sagte ich. »Lass uns zum Wagen zurückgehen.«

»Möchtest du Kakao?«

»Nein.« Ich ging voraus, stapfte knirschend durch den Schnee. Von der blendenden Helligkeit taten mir die Augen weh. Ich dachte, wenn ich nach Hause komme, nehme ich ein heißes Bad und lasse mir alles durch den Kopf gehen, was er gesagt hat. Dann überlege ich mir ganz vernünftig, was ich tun werde. Ich mache mir eine Fragenliste für Mr. Golding. Ich bin kein Kind. Aber wie ich so durch den stillen Wald stapfte und die vielen Treppenstufen hochstieg, fühlte ich mich elend und innerlich leer, als wären all meine Hoffnungen zunichtegeworden.

Auf dem Rückweg nahm Dad nicht die Ashton Road, sondern bog nach Oldham ab. »Wohin fahren wir?«

»Ich lade dich zum Essen ein. Wir sprechen nicht mehr darüber, okay? Lass uns einfach zusammen essen und ein bisschen Spaß haben, Jess. Ich wollte nur, dass du die Fakten kennst.« Er bog auf die Straße zum White Hart ab, eine schöne Überraschung. Dort gehen wir nur selten hin, wegen der hohen Preise. Die selbst gemachten vegetarischen Würstchen mit Kartoffelbrei sind mein Lieblingsgericht aller Zeiten, und es gibt dort auch einen Kamin, wo ich meine eiskalten Zehen wärmen konnte. Auf einmal verspürte ich eine prickelnde Erregung bei dem Gedanken, was ich noch alles tun könnte, wenn ich neun Monate mehr Zeit hätte. Ich könnte weiter aufs College gehen und meine Freundschaft mit Sal erneuern; ich könnte im Frühjahr zusammen mit Dad einen Gemüsegarten anlegen; und dann war da noch Baz!

Im Pub waren nur wenige Gäste, ein älteres Ehepaar und ein paar Geschäftsleute, die zu Mittag speisten. Die Eheleute redeten kein Wort miteinander, und als der alte Mann sich erhob und zur Toilette schlurfte, goss seine Frau den klaren Inhalt ihres Glases in das seine, in dem anscheinend Orangensaft war. Sie war so verschrumpelt wie eine Dörrpflaume, mit wirrem weißem Haar, und als sie bemerkte, dass ich sie anschaute, nickte sie mir lächelnd zu. »Das perfekte Alibi«, flüsterte Dad.

»Red weiter.«

»Die Herztabletten, die er nimmt, vertragen sich nicht mit Wodka. Deshalb trinkt er Orangensaft. Sie schüttet ihm den Wodka ins Glas, und er trinkt ihn. Dann erzählt sie allen, er habe wohl aus Versehen ihr Glas leer getrunken.«

»Ein halbes Glas Wodka würde ihn bestimmt nicht umbringen.«

»Du weiß nicht, wie oft sie das schon getan hat.« Wie zum Beleg für seine Vermutung ging die verschrumpelte Dame zum Tresen und bestellte neue Drinks. Der alte Mann leerte in ihrer Abwesenheit sein Glas. Dad und ich kicherten.

Als wir nach Hause kamen, duftete es nach gebratenen Zwiebeln. Mum kam aus der Küche. »Ihr seid bestimmt ganz durchgefroren. Ich habe Suppe gemacht.«

»Das ist nett, aber wir haben schon im White Hart gegessen.«

»Oh.« Sie schaute zu, wie wir in der Diele unsere Sachen auszogen.

»Wie geht es ihr?«, fragte Dad freundlich.

»Mandy? Ist immer noch wütend. Es ist wirklich nicht einfach, Joe.« Wir gingen in die Küche, und sie schöpfte etwas Suppe in eine Schale und setzte sich an den Tisch.

»Ist Caroline bei ihr?«, fragte Dad.

»Ja. Ich musste mal Pause machen. Sie schimpft den ganzen Tag mit mir, weil ich diesen kleinen Scheißer in die Wüste geschickt habe. Angeblich habe ich ihr Leben ruiniert …«

»Hör mal«, sagte Dad. »Jeder Tag, den du ihr zusätzlich verschaffst, ist ein Gewinn.«

Mum schüttelte den Kopf. »Jetzt treibt sie mich in den Wahnsinn.«

»Ich begleite dich zu ihr«, sagte er.

»Weshalb habt ihr im White Hart gegessen?«

»Das hat sich so ergeben«, meinte Dad. »Ich wusste ja nicht, dass du nach Hause kommen würdest.«

Mum schaute mich an, als hätte sie mich eine ganze Weile nicht mehr gesehen. »Dann hat er dich wieder zur Vernunft gebracht?«

»Ist schon gut, Cath«, sagte mein Dad. »Wir hatten eine Unterhaltung.«

»Und?«

»Lass gut sein«, meinte Dad.

Ich wollte nicht, dass sie wieder zu streiten anfingen. »Ich werde vielleicht ein Jahr warten, wie Dad es vorgeschlagen hat.«

»Gut.« Mum starrte Dad an, dann beugte sie sich über ihre Suppe. Ich hängte meine Jacke auf und ging nach oben. Ich wollte dafür sorgen, dass es wenigstens ein Baby gab, das gesund wäre. Ich setzte mich aufs Bett und schaute zum Baum hinaus. Ich kam mir vor wie eine Verräterin.