29
Vor der Klinik standen Demonstrantinnen von FLAME mit ihren Plakaten. Schluss mit den Schlafenden Schönen. Schluss mit der Erniedrigung der Frauen. Eine trat an mich heran, als ich die Treppe hochging. Sie wirkte verlegen. »Entschuldigung …«
»Ich möchte nur meinen Dad besuchen – er arbeitet hier.«
»Hat er mit den Schlafenden Schönen zu tun?«
»Nein. Er züchtet Embryos für die MTS-Forschung. Für Tiere.«
Das Mädchen nickte erleichtert, und ich drückte gegen die Drehtür. Der Wachmann grinste und betätigte den Öffner. Als ich durch war, ging ich zu dem blauen Warteraum der Ambulanz, den ich von der Anmeldung her kannte. Rosa war natürlich schon da, und auch das schüchterne Mädchen Theresa. Ich nickte Theresa zu. Rosa wollte ich nicht anschauen. Bestimmt guckte sie hämisch. Ich spürte, dass ich knallrot war im Gesicht. Bevor das erste Wort fiel, trat Mr. Golding zusammen mit einer Krankenschwester ein. Er wirkte so mollig, freundlich und munter wie eh und je, und allein sein Anblick besserte meine Stimmung. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich vor uns drei. Die Schwester schaltete ihr Diktiergerät ein.
»Die machen mir das Leben schwer!«, sagte er mit einem betrübten Lächeln.
»Ist jetzt Schluss?«, fragte Rosa. Ich zwang mich, sie anzusehen. Sie sah hübsch aus mit ihrem blassen Teint und dem dunklen Haar. Hübscher als ich, wenn man von ihrem merkwürdigen Blick einmal absah. Aber wenn Baz auf sie stand, weshalb hatte er dann so getan, als ob er mich mochte?
»Ah-ha! Das möchten sie euch glauben machen. Aber wir haben noch eine Geheimwaffe im Ärmel!« Er zog seinen Stuhl etwas näher heran und musterte uns nacheinander. »Was halten Sie von den Nachrichten?«
»Die sind nicht gut. In einem Jahr werden wir zu alt sein«, sagte ich. Rosa nickte.
»Und Theresa, was meinen Sie?«, fragte er freundlich. Er trug eine kleine marineblaue Fliege mit gelben Punkten, die lustig wirkte; mit seinem kahlen Schädel sah er aus wie ein Osterei.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich denken soll.«
Er tätschelte ihr die Hand. »Das wundert mich nicht, meine Liebe. Das geht vielen so. Nun, ich werde Ihnen sagen, was ich weiß, und dann entscheiden wir, wie es weitergehen soll, einverstanden?«
Er redete über die Prae-MTS-Embryos. Aus seinem Mund hörte sich das an wie ein Märchen. Er sagte, die Menschheit habe sich in einem gefährlichen Wald verirrt. Und die tiefgefrorenen Embryos wiesen den Weg nach draußen. Es gebe vielleicht noch andere gewundene Pfade in dem dunklen Wald, die einen durch tiefe Schluchten und Flüsse hindurch irgendwann in die Zukunft führen würden. Doch dies sei der einzige bekannte Weg. »Wir haben Erfahrungen mit den Schlafenden Schönen gesammelt und wissen, wie wir lebende Kinder zur Welt bringen können«, sagte er. »Und wir können die Embryos impfen. Es gibt Gerüchte über andere Heilmittel, Wunderdrogen, was weiß ich. Aber Wissenschaftler müssen nach Antworten suchen, die hier oben …« – er tippte sich an den glänzenden Schädel und zwinkerte uns zu – »… einen Sinn ergeben, und mein eingebauter Computer sagt mir, dass dieser Weg am aussichtsreichsten ist. Mit jedem Tag, den wir warten …« – er zuckte mit den Schultern – »… wird es schwerer für die Kinder. Es wird mehr Alte und weniger Junge geben.«
»Aber warum haben sie dann geschrieben, wir müssten warten?«, wollte Rosa wissen.
»Was ist auf dieser Welt jetzt kostbar? Nur diese Embryos. Geld kann einem nicht helfen, Grundbesitz kann einem nicht helfen, ein brillanter Verstand oder der Körper eines Athleten kann einem nicht helfen. Die Reichen sind es, die die Zukunft erben. Versteht ihr? Die am besten Angepassten werden überleben.«
Wir nickten, obwohl ich nicht verstand, worauf er hinauswollte.
»Am besten angepasst sind die tiefgefrorenen Embryos. Allein ihre Gene werden überleben. Die Eltern der Embryos besitzen Macht, und wenn wir sie ihnen vorenthalten, werden sie darum kämpfen. Das ist der Instinkt, ohne den wir alle sterben, ohne den die Menschheit ausstirbt – der Instinkt, unsere Nachkommen zu schützen.«
Ich dachte an Mum und Dad. Manchmal konnte der Instinkt schon recht lästig sein. Dr. Humpty Dumpty Golding lehnte sich zurück und streckte die Glieder. Selbst seine Schuhe glänzten wie neu. »So«, sagte er. »Bedauerlicherweise muss ich einräumen, dass die Politiker ihre Sache ganz gut machen. Wir müssen uns an das Gesetz halten. Wir setzen so große Hoffnungen auf diese Kinder, wir dürfen nicht zulassen, dass sie zum Spielball der Interessen werden. Und jetzt sagen Sie mir, was Sie denken. Wollen Sie immer noch mitmachen?«
»Ja«, sagten Rosa und ich im Chor. Ich blickte Theresa an. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
»Ich danke Ihnen«, sagte er ernst. »Theresa, Sie brauchen keine Angst zu haben. Die ganze Welt spielt verrückt, aber Sie sind Ihr eigener Herr, Sie brauchen nichts zu überstürzen.« Er lächelte Theresa an, und sie begann zu weinen. Behutsam tätschelte er ihr die Hand, zog ein zusammengefaltetes blassblaues Taschentuch aus der Brusttasche, schüttelte es aus und reichte es ihr. Er fragte sie, ob sie bleiben wolle, während er mit uns redete, und sie nickte. »Ich sage Ihnen was«, fuhr er fort. »Es ist machbar. Es gibt einige elternlose Embryos.« Er blickte uns erwartungsvoll an, zufrieden mit seiner rätselhaften Bemerkung. »Wenn wir in der Vergangenheit eine Totaloperation ausführen mussten, haben wir die Patientin gebeten, die Eizellen behalten zu dürfen. Die brauchte sie ja nicht mehr. Sie hatte ihre Kinder bereits bekommen, oder es waren Embryos von ihr gelagert. Ihre überzähligen Eizellen konnten anderen Frauen zugutekommen. Aber – aber, aber, aber! Eizellen kann man nicht einfrieren!« Dad hatte mir mal erzählt, man könne Eier nicht ins Gefrierfach tun. »Okay. Wir haben also diese gespendeten Eizellen. Aber wie sollen wir sie aufbewahren?«
Wir wussten beide keine Antwort.
»Man muss sie befruchten«, sagte er. »Wenn wir sie in vitro befruchten, ist die Eizelle glücklich, sie beginnt sich zu teilen. Ovum, Spermium, Zygote, Embryo. Alles ist bestens, und wir können sie einfrieren.« Er musterte uns triumphierend, und ich war froh, dass Rosa nachfragte.
»Wie wird die Eizelle befruchtet?«
»Hausintern. Der Embryo ist anonym.« Ich wurde auf die Schwester aufmerksam, die am Fenster sitzend der Unterhaltung lauschte. Ein Lächeln spielte um ihre Züge.
»Was bedeutet hausintern?«, fragte Rosa.
»Hier, in der Klinik«, antwortete Mr. Golding kurz und bündig.
Rosa verstand noch immer nicht, deshalb erklärte er es ihr geduldig. Ich musste an die Helden aus der Anfangszeit der künstlichen Befruchtung denken, von denen der Quell aller Weisheit mir erzählt hatte. Damals konnte man noch nichts einfrieren, deshalb mussten sie immer frisches Sperma einsetzen – ihr eigenes. Jetzt hatte auch Rosa es kapiert. »Die Spender von Eizelle und Sperma wissen nicht einmal, dass sie gemeinsam einen Embryo gezeugt haben.«
»Die Samenspender wissen es schon«, erwiderte er. »Aber sie wissen auch, dass diese Embryos ausschließlich der Forschung dienen.«
»Sie gehören niemandem.«
»Stimmt.« Es war, als sei eine schwere Tür aufgesperrt worden. Erst fiel ein Sonnenstrahl hindurch, dann verbreiterte er sich zu einem Lichtkeil, und dann auf einmal öffnete sich vor uns ein leuchtend heller Durchgang.
»Werden Sie keine Probleme bekommen?«, fragte Rosa. »Wenn alle anderen ein Jahr warten müssen? Werden Sie nicht Schwierigkeiten bekommen, wenn herauskommt, dass wir schwanger sind?«
»Verwaiste Embryos.« Er zuckte mit den Schultern. »In Kliniken ist das übliche Praxis. Im Charing Cross Hospital werden bereits die ersten Prä-MTS-Implantationen von anonymen Spenderinnen vorbereitet. Meine Kollegen in Birmingham stehen auch schon in den Startlöchern. Die Damen, die unsere Eingänge belagern, dürften allerdings kaum erfreut darüber sein.«
»FLAME weiß nichts davon?«, fragte ich.
Er legte den Zeigefinger an die Lippen und lächelte. »Das Fehlen namentlich bekannter biologischer Eltern macht es für uns leichter«, sagte er. »Wenn Sie und Ihre Eltern es wünschen, wird man ihnen Ihr Kind überlassen. Das müssen Sie mit ihnen besprechen.«
»Und wenn sie es nicht wollen?«, fragte Rosa in aggressivem Ton.
»Es besteht kein Mangel an Paaren, die es gerne adoptieren würden.«
»Kann ich eine Erklärung unterschreiben? Das Kind zur Adoption freigeben?«
Er antwortete, das könne sie tun, dann wandte er sich mir zu. Ich sagte, ich wolle mit Mum und Dad darüber sprechen. Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, dass sie die Eltern meines Kindes wären. Mr. Golding schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »So, meine Lieben. Jetzt haben Sie Zeit, sich alles in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen.« Er schüttelte uns beinahe feierlich die Hand, dann hielt er uns die Tür auf. Theresa ging als Erste hinaus. Rosa blieb zurück, und ich zögerte, weil ich ihre Unterhaltung mitbekommen wollte. Sie sollte nicht mehr wissen als ich auch.
»Mr. Golding, darf ich hierbleiben?«
»Hier?«
»In der Klink.«
»Moment.« Er rief die Krankenschwester zurück, die sich bereits über den Flur entfernte, und bat sie, wieder mit uns ins Zimmer zu kommen und das Diktiergerät einzuschalten. Ich ahnte schon, was Rosa vorhatte, und bekam Herzklopfen. Mr. Golding schloss die Tür. »Rosa?«, sagte er.
»Ich brauche keine Bedenkzeit. Und es ist nicht mehr lange bis zu meinem Eisprung. Wenn ich jetzt nicht loslege, muss ich einen Monat warten.«
»Bei mir ist es das Gleiche«, warf ich ein.
Er blickte von Rosa zu mir und wieder zurück. »Können Sie beide am Montag kommen?«
»Ich würde lieber gleich hierbleiben«, sagte sie. »Bitte.«
»Verraten Sie mir den Grund«, bat er freundlich.
»Ich will den Abschied umgehen. Das ganze Tamtam. Ich will es einfach hinter mich bringen.«
»Sie müssen mit Ihrer Mutter sprechen«, sagte er.
»Sie kann mich doch hier besuchen. In der Klink.« Rosa verstand es, ihren Willen durchzusetzen, und schließlich willigte er ein. Bedauerlicherweise fehlte mir die Geistesgegenwart, es ihr gleichzutun.
Aber so war es halt. Ich schlüpfte zwischen den Demonstrantinnen hindurch und nahm mir sogar Zeit, dem verlegenen Mädchen zu sagen: »Mein Dad wünscht euch viel Glück!« Ich war aufgeregt. Aufgeregt wegen Montag, aufgeregt wegen des Wochenendes. Ich glaubte, Mum und Dad wären fast schon überzeugt, sodass die Nachricht, dass das Kind zu ihnen käme, den Ausschlag geben würde. Ich stellte mir vor, was wir unternehmen würden; zu den Dovestones spazieren und nach dem Eisvogel Ausschau halten; wie ich die letzten kostbaren Minuten meines Lebens genießen würde.
Und als Dad mich bat, mit ihm zusammen Oma Bessies Haus einen Besuch abzustatten, und meinte, sie wollten es mutterlosen Kindern schenken, war ich glücklich. Glücklich darüber, dass wir etwas Nützliches zusammen unternahmen.