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Dann gab es eine offizielle Bekanntmachung. Sie wurde die ganze Woche über im Fernsehen und in den Zeitungen wiederholt; damit wurde offiziell bestätigt, dass es sich bei MTS um eine weltweite Seuche handele und dass alle Menschen infiziert seien. Man verglich die Krankheit mit HIV und erklärte, die meisten von uns könnten ihr Leben weiterleben, ohne zu erkranken; der Auslöser für die tödliche Erkrankung sei die Schwangerschaft. Uns wurde versichert, die Regierungen in aller Welt arbeiteten zusammen, um die Forschung voranzutreiben, bla, bla, bla.
Ich weiß noch, dass ich die Verlautbarung mit Mum und Dad im Fernsehen sah und meine Eltern anschließend anstarrte. Sie hatten die Krankheit. Ich hatte sie. Wir alle hatten MTS. Es war, als wüsste man, dass man ein langsam wirkendes Gift geschluckt hat. Ich wollte nicht mit ihnen zusammensitzen, deshalb ging ich nach oben auf mein Zimmer und simste Baz an. (Wie lächerlich. Schon allein seinen Namen zu schreiben macht mich glücklich. Baz, Baz, Baz. Und jetzt laufen mir dumme Tränen über die Wangen.)
Damals war er nur ein Freund. Wir hatten zusammen die Grundschule besucht. Jahrelang besuchte ich nur wegen ihm die Sonntagsschule – sein Dad war Vikar, und Baz ging immer hin, also schloss ich mich ihm an. Wenn man mit ihm redet, hat man manchmal das Gefühl, er übe im Kopf noch immer Klavier, und man fragt sich, ob er einen überhaupt gehört hat. Wenn er dann den Mund aufmacht, stellt man fest, dass er nur gründlich nachgedacht hat, anstatt einfach loszuplappern. Als wir zur höheren Schule wechselten, schlossen wir neue Freundschaften und gingen uns dort aus dem Weg, als ob wir uns gegenseitig peinlich wären. Allerdings trafen wir uns noch immer zu Hause.
An dem Abend rief er mich an und meinte, seine Eltern wären ausgegangen, ich solle vorbeikommen und Sal und noch ein paar Leute mitbringen. Ich wollte Sal nicht dabeihaben. Mir war danach, mich mit ihm allein zu unterhalten. Ich hatte geglaubt, er wäre der einzige Junge, der sich nichts aus Sal machte, doch da hatte ich mich anscheinend geirrt. Ich betrachtete mich im Spiegel und dachte, wie schön das Leben doch wäre, wenn meine Beine länger und meine Titten größer wären und näher beieinandersäßen. Ich überlegte, ob ich mir das Haar blond färben sollte wie alle anderen, doch dann fiel mir ein, dass wenigstens meinem Dad meine braunen Haare gefielen. Er nannte mich sein nussbraunes Mädchen wegen meiner haselnussbraunen Augen und meines kastanienbraunen Haars. Meine buschigen braunen Raupenbrauen vergaß er zu erwähnen. Es hatte keinen Sinn, mein Haar zu entwirren, ich sah abstoßend aus, na und?
Also ging ich mit Sal bei ihm vorbei, und alle waren in einer seltsamen Stimmung. Rosa Davis war da, mit der Baz im vorigen Jahr kurz zusammen gewesen war. Das zählte nicht, nach zwei Wochen hatte er Schluss gemacht. Sie tat so, als wäre sie stockbesoffen. Baz trug ein schwarzes T-Shirt mit einem blauen Wal darauf, der genau die Farbe seiner Augen hatte. Nach einer halben Stunde rief Sal Damien an und brachte ihn dazu vorbeizukommen. Die beiden knutschten eine Weile, dann gingen sie nach oben. Ich fragte Baz, wo seine Eltern wären. Sein Dad arbeitete mit Obdachlosen und veranstaltete ein Beratungswochenende, um ihnen Trost und Halt im Glauben zu vermitteln, und seine Mum half ihm dabei. Wir lachten darüber, dass MTS gut fürs Geschäft sei – für Priester und Bestatter. Ich fragte ihn, ob er die Bekanntmachung im Fernsehen gesehen hätte, und er bestätigte das zögernd, als wollte er noch mehr dazu sagen.
»Was ist?«, fragte ich.
»Ich glaube, wir haben es vielleicht verdient.«
»MTS?«
Er nickte.
»Warum?«
»Früher oder später musste etwas Schlimmes passieren. Die Menschen haben so vieles vermurkst …«
»Wie zum Beispiel die globale Erwärmung?«
»Ja. Und dass uns Öl, Wasser und Nahrung ausgehen. Ich glaube, irgendetwas Schlimmes musste passieren. Der Boden war bereitet.«
»Nicht von uns«, sagte ich. »Von unseren Eltern. Und von deren Eltern. Das sind die, die alles verbockt haben.«
»Stimmt. Aber jetzt, wo es passiert ist, können alle jemand anderem die Schuld geben. Anstatt wütend auf die Regierung zu sein, weil sie Wissenschaftler dafür bezahlt, dass sie schreckliche Waffen entwickeln, oder auf sich selbst, weil sie die ganze Welt verdreckt haben, geben sie einem unbekannten Monster die Schuld.« Baz klopfte einen kurzen Rhythmus auf seine Bierflasche, dann pustete er ein paarmal in die Öffnung, bis es pfiff. »Die Leute glauben immer, die Zeit reiche noch aus, um was zu ändern«, sagte er.
»Weil sie dumm sind.«
Jemand stellte die Musik lauter, wir plünderten den Barschrank seiner Eltern, und Baz reichte einen Joint herum. Ich kam mir sehr schlau vor, weil ich daran dachte, meine Eltern anzurufen und ihnen zu sagen, dass ich bei Sal übernachten würde. Ich erinnere mich, mit Danny geknutscht zu haben, den ich nicht mal mochte, und dann saß ich auf einmal im Bad, und mir war übel. Sal meinte, ich solle mir die Finger in den Hals stecken, und ich würgte ein bisschen, aber nicht genug. Anschließend ging ich in den Keller runter zu Baz. Er war allein und spielte Klavier, er bemerkte mich nicht. Ich kuschelte mich in seinen großen Schaukelstuhl und versuchte zu dösen, während die Töne wie Wasser aus seinen Fingern hervorströmten. Alle paar Minuten musste ich die Augen aufmachen, weil sich alles um mich drehte. Irgendwann schlief ich anscheinend ein, denn als ich erwachte, war ich mit einer Decke zugedeckt, und Baz war verschwunden. Ich fühlte mich natürlich elend, und es wurde noch schlimmer, als ich nach oben ging, wo Rosa Baz beim Aufräumen half. Ich fragte sie, wo sie geschlafen habe, und sie meinte grinsend, seine Eltern hätten ein französisches Bett. Ich ging nach Hause und blieb den ganzen Tag lang auf meinem Zimmer. Meiner Mum erzählte ich, ich hätte Kopfschmerzen, was auch stimmte.
Am Vorabend aber, bevor mir übel wurde, als wir alle wie wahnsinnig tanzten, bis sich alles um uns drehte, hatte ich ein wundervolles Gefühl von Freiheit gehabt. Ich glaubte, ich könnte mich von Mum und Dad und ihren Zankereien frei machen. Ich könnte fliegen. Niemand hatte mir etwas zu sagen, besonders keiner, der älter war als ich. Denn die hatten alles vermurkst.
Ein Gefühl von Macht, wie bei den Gelegenheiten, da ich meiner Tante Mandy im Theater half. Sie fertigte nicht nur Marionetten und Masken für das Kindertheater an, sondern kümmerte sich auch um die Beleuchtung. In den Ferien bat sie mich manchmal, ihr zu helfen, und das tat ich mit Freuden. Der große, heiße Scheinwerfer ist von einem Rahmen mit einem Griff eingefasst, und daran bewegt man ihn so, dass der Lichtstrahl dem Schauspieler folgt und er ständig beleuchtet ist. Man muss seine Bewegungen kennen und wissen, wohin er als Nächstes geht, um den Scheinwerfer ausrichten zu können. Eine Zeit lang wollte ich den gleichen Beruf ergreifen wie sie, im Dunkeln am Beleuchtungstisch sitzen, vor mir die vielen Knöpfe, und leise die Seiten des mit Anmerkungen versehenen Skripts umblättern. Die Figuren in Licht tauchen, die es brauchten, Sonnenschein nachahmen oder es dunkel werden lassen, die Bühne in ein vom Kaminfeuer erhelltes Cottage verwandeln oder in einen wolkenlosen Sommertag. Die Beleuchtung erweckt die Charaktere zum Leben. Diese Art Macht spürte ich in mir.
Wir erfuhren, dass Caitlin gestorben war, und ein paar Leute aus meiner Klasse gingen zur Beerdigung. Ich ging nicht hin, denn ich hatte sie nicht gut gekannt. Rosa Davis verschwand, und es hieß, sie sei ebenfalls schwanger. Das wunderte niemanden, denn sie war schon immer seltsam gewesen. Sie hatte keine richtigen Freundinnen, sondern hing immer am Rand der Cliquen herum. Ich war froh, dass sie weg war.
Als ich wieder zur Schule ging, kam ich mir ein bisschen schizo vor. Einerseits machte ich mir Sorgen wegen meines Abschlusses, und gleichzeitig dachte ich: »Was soll’s? Es hat eh alles keinen Sinn.« Ich machte mir Sorgen, Baz könnte mich für einen Trunkenbold halten. Dann rief er an und fragte mich, ob ich an einer Veranstaltung teilnehmen wolle. »Es geht um das Thema, über das wir neulich gesprochen haben«, sagte er. »Wie die Menschen die Welt vermurkst haben.«
Ich sagte zu, denn ich dachte, er wolle mit mir zusammen dorthin gehen – dann aber stellte sich heraus, dass er in Manchester eine Klavierprüfung hatte und seine Mum ihn hinterher absetzen wollte. Ich kam mir dumm vor, und das ärgerte mich zusätzlich. Ich fragte Sal, ob sie mitkommen wolle, doch sie wollte nicht.
»Das ist doch langweilig«, meinte sie. »Wieder eine dieser Grünengeschichten. Den Planeten retten, was hat das noch für einen Sinn?« Sal hatte in ihrem Kopf nur für Damien Platz. Wenn sich eine Gelegenheit bot, trieben sie es miteinander. Schließlich ging ich allein zu der Veranstaltung.
Sie fand in einem heruntergekommenen Viertel statt, am Westrand von Ashton, in einem flachen, nahezu fensterlosen Backsteingebäude, das einer Festung glich. Drinnen roch es nach Essen und Schweiß, und ich hörte Stimmen. Zur Linken war ein Büro, die Tür stand offen – niemand da –, und direkt vor mir lag ein großer Raum mit niedriger Decke, aus dem die Stimmen kamen. Ich ging zur Tür und blickte geradewegs auf Baz’ langes schwarzes Haar. Er sprach mit einem Jungen, den ich nicht kannte. Es waren etwa dreißig Jungs gekommen, aber außer mir nur drei Mädchen. Ein Junge saß im Rollstuhl. Ein magerer Typ mit Zöpfchen im Bart – ein Studententyp – stand uns gegenüber und sagte: »Ruhe bitte.« Er brummte etwas in der Art, die Menschen hätten die Erde anvertraut bekommen und sie missbraucht. Die vorn sitzenden Jungs wechselten Blicke, dann begannen sie zu tuscheln. Ein Junge asiatischer Herkunft in der ersten Reihe erhob sich und bat die Anwesenden zuzuhören. Es wurde gerufen: »Red weiter!«, »Halt den Mund!«, und rhythmisches Händeklatschen setzte ein. Der Zopfbart ließ sich unermüdlich über nutzlose Politiker aus, dann schrie ein blasser Junge mit schlaff herabhängendem braunem Haar auf uns ein. Er sah aus, als werde er jeden Moment in Tränen ausbrechen, und plötzlich wurden alle still. »Das ist kein Witz! Die Experimente der Wissenschaftler laufen der Natur zuwider. Weil sie die Natur angreifen, wehrt sich die Natur. Sie quälen Tiere …«
Zopfbart bat ihn, den Vortrag nicht zu stören, doch der Asiate rief: »Warte, bis du dran bist!«, und vor mir kreischte ein Mädchen, es kreischte tatsächlich. »Frauen sterben! Und da redet ihr über Tiere? Frauen sterben!« Niemand hörte mehr irgendjemandem zu.
Einige standen auf und gingen, und ich war froh, als Baz seine magere Gestalt aufrichtete und zum Ende meiner Sitzreihe kam. »Willst du gehen?«, formte er mit den Lippen, und ich stand auf. Neben mir saß ein Mann mit kurz geschorenem blondem Haar. Er erhob sich, um mich vorbeizulassen, dann bat er Baz und mich, noch einen Moment zu warten. Er ging nach vorn, hob die Hände, klatschte einmal laut und rief: »Freunde! Freunde!«
Es war wie in der Schule; Mr. Clarke kommt herein, und es wird still. Ganz ruhig bat er uns, unsere Stühle im Kreis aufzustellen. Geduldig wartete er, bis wir alle wieder saßen, dann stellte er sich vor – Iain – und sagte, wir müssten unserer Stimme Gehör verschaffen, denn der Jugend gehöre die Zukunft. Der Junge im Rollstuhl, Jacob hieß er, rief: »Es gibt keine Zukunft!«, und das zornige Mädchen, Lisa, murmelte so laut, dass alle sie verstehen konnten: »Wer hat dich nach deiner Meinung gefragt?« Iain blickte sie an.
»Ich sollte euch vielleicht etwas von mir erzählen«, wandte er sich an uns alle. »Ich bin Aktivist. Ich lebe in einem Solidaritätscamp und kämpfe dort gegen eine Hochdruckgasleitung. Vorher habe ich gegen eine neue Landebahn protestiert. Ich weiß also, wie das läuft. Ich bin nicht hergekommen, um euch Vorschriften zu machen.« Iain hat etwas Vorsichtiges an sich. Er zappelt nicht herum, ist immer ruhig, seine Stimme ist gelassen und bestimmt. Er fixiert einen mit seinen grauen Augen, so wie man ein verängstigtes Tier anschaut, das man wieder einfangen will. Man hat den Eindruck, dass er seine Worte sehr sorgfältig wählt, als überlege er in einem fort, wie er einen ansprechen soll, damit alles unter Kontrolle bleibt. Das fand ich faszinierend. Lisa sah auf ihre Hände nieder, als ginge sie das nichts an.
»Okay«, sagte Iain. »Wie wär’s, wenn wir uns der Reihe nach kurz vorstellen würden, und jeder nennt eine wichtige Sache, die er gern ändern würde? Dann sprechen wir darüber, womit wir anfangen wollen.« Ein rotgesichtiger Junge in meiner Nähe schob lautstark seinen Stuhl zurück und meinte, das wär ja wie in der beschissenen Schule. Er ging raus und schlug die Tür hinter sich zu. »Noch jemand?«, fragte Iain, doch niemand rührte sich. Er zog das Flipchart heran und bat Ahmed, die Wünsche jedes Einzelnen zu notieren. Lisa sagte, sie wolle, dass mehr Geld in die MTS-Forschung gesteckt werde und dass die Wissenschaftler alle Experimente durchführen dürften, die dazu beitragen könnten, ein Heilmittel zu finden. Dabei blickte sie den blassen Tierbefreier Nat an, und der sagte natürlich, sämtliche Tierexperimente müssten unverzüglich eingestellt werden. Andere Leute stellten die üblichen Forderungen auf: Reduzierung des CO2-Ausstoßes, Ausstieg aus der Atomkraftnutzung, Waffenverkäufe verbieten, den Krieg verbieten, kein Genfood mehr. Als Jacob an die Reihe kam, sagte er: »Ich kann’s einfach nicht glauben. Hört ihr keine Nachrichten? In siebzig Jahren werden wir ausgelöscht sein, und ihr quasselt hier von biologischer Landwirtschaft?« Iain fragte ihn, was er verändern wolle, und Jacob antwortete: »Ich will’s diesen Schweinen zeigen, Mann. Ich will das Parlament in die Luft jagen!« Jemand rief: »Guy Fawkes!«, und alle lachten, auch Jacob.
Iain hob hin und wieder beschwichtigend die Hand, wenn jemand dazwischenreden wollte, aber wir griffen unsere Vorschläge gegenseitig auf. Es ging um Wut, darum, dass die Erwachsenen, unsere Eltern, die Politiker und Geschäftsleute die ganze Welt ruiniert hatten. Wir wollten die Macht. Wir würden die Katastrophe, die sie angerichtet hatten, ausbaden müssen. MTS war das Schlimmste, aber es gab noch viele andere Dinge – Kriege, Überschwemmungen, Hungersnöte. Die Menschen hatten einfach damit weitergemacht, sich zu amüsieren – jetzt aber musste das ein Ende haben. »Sie können uns keine Vorschriften mehr machen«, sagte Jacob.
»Nein«, sagte Lisa, »sie stehen in unserer Schuld.« Neben ihr saß ihr kleiner Bruder Gabriel. Als sie sprach, begann er zu weinen, und sie legte ihm den Arm um die Schulter und zog ihn an sich, redete währenddessen aber weiter. »Sie sind uns eine Entschädigung schuldig«, sagte sie. »Unsere Mütter sind tot, sie müssen uns anhören, sie müssen uns Geld geben.« Bestürzte Stille. Ich kannte bisher niemanden in meinem Alter, dessen Mutter tatsächlich gestorben war. Meistens erwischte es die Mütter jüngerer Kinder. Dann ging das Geschrei weiter von wegen, wir müssten uns Gehör verschaffen, Meetings abhalten, Versammlungen, bei denen viele Kinder zuhören und ihren Willen kundtun könnten. Iain sagte, wir sollten uns am nächsten Freitag wieder treffen, bis dahin wolle er eine Agenda aufstellen.
Baz und ich gingen gemeinsam heim. Wir scherzten darüber, in Ashton eine Revolution auszurufen. Als ich am Ende meiner Straße abbog, sagte er: »Gute Nacht, Genossin.« Im Bett überlegte ich mir, dass es schön wäre, einer Gruppe anzugehören, welche die Dinge zum Besseren wenden wollte. Aber mir gefiel immer noch die Vorstellung, dass alles zusammenbrach und endete. MTS war eine Art Strafe, und ich glaubte, die Menschen – zumal die Alten – hätten es verdient, bestraft zu werden.