23

Irgendwann am Nachmittag wurde leise an die Haustür geklopft. Ich schlich mich in die Diele und starrte wie gelähmt auf die Tür. Wieder wurde geklopft, in einem speziellen Rhythmus, und da wusste ich, dass es nicht Iain war. Ich rannte zur Haustür und riss sie auf. Baz grinste auf mich herab. Er war so dick angezogen, dass er beinahe fett wirkte. Dicker roter Vliesstoff quoll aus seinem Mantelkragen, und er hatte sich eine grüne Wollmütze über die Ohren gezogen, unter der schwarze Haarsträhnen hervorlugten. Die Hose hatte er wie ein Kosak in die gefütterten Stiefel gestopft. »Hallo«, sagte er und grinste wie verrückt, als wüssten wir beide, dass es ein Scherz war. Ich machte ihm Platz, doch irgendwie stießen wir trotzdem zusammen. Er legte mir die Hände auf die Schultern, um mich zu stützen, und wir schafften es, die Tür zu schließen. Dann umarmten wir uns fest. Sein Mantel fühlte sich kratzig an. Ich schnupperte den Geruch von Kälte, Rauch und Wolle und die unter den Stoffschichten verborgene Körperwärme.

Als wir uns unbeholfen voneinander lösten, sagte er: »Ich sterbe vor Hunger.« Ich geleitete ihn in die Küche und machte Rührei. Es war noch immer kein Brot da, deshalb tat ich Knäckebrot auf den Teller. Er legte den Mantel und die Vliesjacke ab, dann zog er die Stiefel aus und trommelte mit den Fingern auf den Küchentisch.

»Bist du gerade erst zurückgekommen?«

Er nickte.

»Warst du in dem Labor in Wettenhall?«

»Nein. Josh – der den Film gedreht hat – und Nat waren in einem Studentenwohnheim, und ich hab mich ihnen angeschlossen. Sie wollten nichts weiter, als den Film schneiden und ins Netz hochladen. Sie wussten, dass die Medien sich darauf stürzen würden. Aber es gab noch eine andere Gruppe Kids aus London, die dort eindringen und die Tiere befreien wollten. Davon haben wir erst am Morgen erfahren.«

»Und das Feuer im Labor …«

»Hatte nichts mit uns zu tun. Wir wollten keine Gewalt anwenden. Uns ging es nur darum, öffentlich zu machen, was dort passiert. Um alles Weitere sollten sich andere kümmern.«

»Die Kliniken müssen mit Straßensperren geschützt werden«, sagte ich. »Menschen wie mein Dad werden angegriffen.«

»Damit hat niemand gerechnet. Ich meine, ein paar Reporter und der harte Kern von ALF, vielleicht noch ein paar erboste Spenderinnen … Das hat niemand vorausgesehen …«

»Was habt ihr gemacht?«

»Als wir den Film ins Netz gestellt hatten, haben wir Plakate vorbereitet und sind früh am Morgen mit ein paar Taxis zum Demonstrieren hingefahren. Wir kamen kurz nach der Explosion dort an. Die Sicherheitskräfte drehten durch, dann erfuhren wir, dass die ALF-Leute, die ins Gebäude eingedrungen waren, die Tiere zu befreien versuchten. Die Polizei glaubte, wir gehörten dazu – sie wollten uns nicht in die Nähe lassen … und dann sind die Busse von FLAME aufgetaucht … und die Noahs …«

»Das hab ich im Fernsehen gesehen.« Ich gab das Rührei auf den Teller und schnitt eine Tomate in Scheiben.

»Die waren wie Heuschrecken, haben sich alles geschnappt, was nicht niet- und nagelfest war, Stöcke, Steine, Büsche, Teile vom Zaun.« Er war mit Nat dort gewesen, und sie wurden getrennt, als die Polizei die Reihen der Demonstranten durchbrach und jemand einen Brandsatz warf. Schwarzer Qualm wogte, alle mussten husten, und er verlor Nat aus den Augen. »Dann griff uns die Polizei auch noch von hinten an. Offenbar waren sie aus den Gebäuden herausgekommen. Immer mehr Rauch wehte über das Haupttor, und jemand meinte, das sei Tränengas.«

»Wie bist du weggekommen? Die Straßen waren gesperrt …«

»Ich hab es bis zur Mauer geschafft und bin daran entlang bis zur Rückseite des Geländes gegangen, wo die Verbrennungsanlage liegt. Ich bin hinübergeklettert und zur Straße gerannt. Dann bin ich den Nebenstraßen gefolgt und habe nach Straßenschildern nach Chester gesucht. In der Ferne waren Hubschrauber zu sehen, die kreisten über der Schnellstraße. Nach Einbruch der Dunkelheit fand ich eine unverschlossene Kirche, da hab ich drin geschlafen. Und heute Morgen bin ich nach Chester gelaufen und mit dem Zug hierhergefahren.«

»Und wie ist es Nathan ergangen?«, fragte ich.

»Ich glaube, er wurde festgenommen. Jessie?«

»Ja?«

»Hast du dich mit Iain getroffen?«

»Weshalb fragst du?«

»Er hat etwas Seltsames über dich auf der YOFI-Website veröffentlicht.«

»Seltsam, inwiefern?«

»Von wegen, du hättest dich für das Programm gemeldet.«

»Das kann doch nicht wahr sein …« Ich rannte ins Nebenzimmer und schaltete den Rechner ein.

Baz brachte seinen Teller mit, setzte sich aufs Bett und aß weiter, während ich ungeduldig wartete, dass der Computer hochfuhr. Dann rief ich die YOFI-Website auf und gab mein Passwort ein. Die Mitgliederseite baute sich auf, und als Erstes sah ich ein Foto von mir. Neue Freiwillige Jessie weist die Richtung.

»Das muss er heute Morgen gepostet haben. Ich bin in Chester ins Internet gegangen, um einen Blick auf die Seite von ALF zu werfen.«

»Das darf er nicht! Dazu hat er kein Recht!«

»Soll ich’s löschen?«

»Das ist geheim!«

Ich schaute zu, wie Baz sein eigenes Passwort eingab und in den Nachrichtenbereich ging. Er tippte konzentriert – eine Zeichenfolge, vermutlich ein weiteres Passwort. Eine Warnmeldung wurde angezeigt, doch er ignorierte sie und tippte weiter. Die Bildschirmanzeige gefror, dann verschwand die Hälfte. Er machte wiederholt eine Eingabe. Keine Reaktion. Er schloss den Browser und öffnete ihn erneut. Rief Google auf und gab die Adresse von YOFI ein. Die angeforderte Website ist vorübergehend nicht erreichbar. Er lachte. »Probier du’s mal.« Ich versuchte es und ließ die Seite neu laden, doch es passierte noch immer nichts. »Hat geklappt!«, meinte Baz lachend. »Iain sei Dank. Bei der Programmierung der Website wollte er diese Möglichkeit offenhalten für den Fall, dass sie gehackt würde.« Er wandte mir sein strahlendes Gesicht zu, beugte sich vor und küsste mich. Daraus wurde ein richtig langer Kuss. Als wir zwischendurch nach Luft schnappten, flüsterte Baz: »Und, magst du mich noch?« Und ich antwortete flüsternd: »Ja. Magst du mich auch noch?«

»Dummerchen«, meinte er lachend. Er setzte sich zu mir aufs Bett, und wir fuhren fort, uns zu küssen. Plötzlich hielt er inne. »Was hast du damit gemeint, das wäre geheim?«

»Meine Teilnahme am Programm.«

»Deine Teilnahme?«

Ich war mit dem Lift in einem Wolkenkratzer ganz nach oben unterwegs, da rissen auf einmal die Seile. Ich stürzte dem Boden entgegen. »Ja. Ich wollte dir das noch erklären …«

»Was erklären?«

»Also, erinnerst du dich noch, dass ich dir an dem Abend, als wir geschaukelt haben, etwas sagen wollte?«

»Wovon redest du?«

»Weißt du noch, die MTS-freien Babys?«

»Denen man einen Impfstoff spritzt und die man Mädchen einpflanzt, die sterben müssen?«

»Ich … ja … ich habe mich dafür angemeldet.«

»Dafür?«

»Ja.«

»Bist du verrückt geworden?«

»Nein.« Eine dumme Bemerkung, denn jede Erwiderung war sinnlos.

Baz stand auf, lehnte sich an die Wand und sah mich an. »Hat er dich darauf gebracht?«

»Wer?«

»Iain. Ist das sein Masterplan?«

»Nein, natürlich nicht. Das war meine Idee.«

»Er hat dich einer Gehirnwäsche unterzogen.«

»Nein! Das war meine Idee, ich habe mich dazu entschlossen, mich zu melden.«

»Wieso weiß er davon?«

»Er kam gestern vorbei und hat mich danach gefragt – hör mal, das ist vollkommen unwichtig.«

»Aber du … du …« Er starrte mich an, und sein Tonfall klang auf einmal nicht mehr zornig. »Jessie, was hast du vor?«

Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Ich wusste, er würde mich nicht verstehen. Je mehr Fragen er stellte, desto größer wurde meine Panik. Ich erzählte ihm von Mandy, dann von den Seepferdchen, die ich mir mit Dad zusammen angeschaut hatte.

Schließlich sagte er: »Ist das wahr?«

»Ja.«

»Du willst dich tatsächlich freiwillig melden, ins Krankenhaus gehen und dich töten lassen?«

»Baz, das stimmt so nicht.«

»Dann begreife ich nicht, weshalb du diesen Mist verzapfst.«

»Okay, hör zu.« Ich ging noch einmal alles langsam durch, von Anfang an. Dann erklärte ich ihm, dass Iain nur zufällig vorbeigeschaut habe. Alles, was ich sagte, klang irgendwie fadenscheinig. Als ich fertig war, drehte Baz sich um und ging hinaus. Ich hörte, dass er in die Küche ging, dann wurde es still. Ich erhob mich und ging ihm nach. »Baz? Baz?«

»Was ist?« Er zog seine Vliesjacke an.

»Wo willst du hin?«

»Nach Hause.« Er schob die Füße in die Stiefel und bückte sich, um sie zu schnüren.

»Aber …«

»Was, aber?«

»Ich … ich will nicht, dass du gehst.«

Keine Antwort.

»Also, du kannst nicht so einfach … weggehen.«

»Warum nicht?«

»Weshalb bist du mir böse?«

Er richtete sich auf. »Du willst, dass ich hierbleibe, dir Beifall klatsche und sage: Bist du nicht tapfer?«

»Nein, aber …«

»Das kann Iain machen. Frag ihn.«

»Mit Iain hat das nichts zu tun. Ich hasse Iain. Hör auf damit!«

»Was soll ich hier noch? Wenn du trotzdem tust, was du vorhast?«

»Ich dachte, du magst mich.«

»Ich dachte, du magst mich.«

»Tu ich doch!«

»Ja, klar.« Er nahm seine Jacke, zwängte sich an mir vorbei, riss die Haustür auf und schlug sie hinter sich zu.

Ich war wie versteinert. Bestimmt würde er zurückkommen. Auf seine Reaktion wusste ich mir keinen Reim zu machen. Ich versuchte, vernünftig zu überlegen, doch seine hasserfüllte Ablehnung hatte mich vollkommen gelähmt. Er machte sich nichts aus mir, er mochte mich nicht einmal, er hielt mich einfach nur für dämlich. Er hielt mein Vorhaben für Blödsinn. Diese Ungerechtigkeit verschlug mir den Atem. Wie hätte ich an seiner Stelle empfunden? Er erzählt mir, er wolle bei einem Medikamententest mitmachen und dazu beitragen, ein Mittel gegen MTS zu finden. Die Teilnahme werde ihn das Leben kosten. Würde ich ihn für tapfer halten? Würde ich ihn nicht bewundern und noch mehr lieben? Würde ich nicht versuchen, das Beste aus der kurzen Zeit zu machen, die uns noch bliebe? Würde ich ihn nicht unterstützen? Mir war danach aufzuspringen, brüllend im Zimmer umherzutoben und mit Gegenständen um mich zu werfen.

Doch ich blieb zusammengesunken am Tisch sitzen, erlaubte mir keine Regung. Ich versetzte mich in die Situation hinein, was sich anfühlte, als quetschte ich mich durch einen Türspalt in ein anderes Zimmer. Wenn er sich dafür meldete, würde er mir damit zu verstehen geben: »Das bedeutet mir mehr als du.« Immerhin ein Ansatz. Okay. Er würde sagen: »Ich habe dir nicht genug vertraut, um das mit dir zu besprechen, und eigentlich ist mir gleichgültig, was du davon hältst, denn für mich geht das auf jeden Fall in Ordnung.« Er würde sagen: »Ich bin dir überlegen, denn mir geht es darum, die Welt zu retten, während du dich einfach nur durchwurstelst und mit dummen kleinen Aktionen wie Demos begnügst.«

Ich überlegte so angestrengt, dass ich das Gefühl hatte, meine Augäpfel träten aus ihren Höhlen. Er konnte mich nicht lieben. Niemand konnte mich lieben. Mein Vorhaben war die eigensüchtigste Sache der Welt. Ich saß so lange da, bis ich den harten Holzstuhl nicht mehr vom steifen, knochigen Jessie-Hintern unterscheiden konnte. Ich hatte kein Recht, irgendjemanden um Unterstützung zu bitten, denn ich begab mich willentlich außerhalb ihrer Reichweite.

Du kannst ihn nicht besuchen, sagte ich mir. Du kannst nicht einfach hingehen und ihn bitten, dir wieder gut zu sein; du kannst ihn nicht küssen und umarmen, denn er hat recht, das wäre gelogen. Du liebst dein Vorhaben mehr als ihn. Es war nicht so, als hätte ich aufgehört, ein Mensch zu sein. Wenn ich weitermachte, würde ich allein sein. Würde Mum und Dad wehtun; würde meine Freunde gegen mich aufbringen; würde alles hinter mir lassen.

Aber wenn ich es mir anders überlegte – dann könnten Baz und ich zusammen glücklich sein. Ich könnte Sal wiedersehen, und nach und nach würde sie wieder so werden wie früher. Ich könnte mich um Mum und Dad kümmern und sie nach Mandys furchtbarer Krankheit trösten. Ich könnte lieben und geliebt werden. Aber bei alldem empfand ich eine Traurigkeit wie für etwas Vergangenes. Der Schock des Begreifens war kalt, als würde ich mit dem Fallschirm am Nordpol abgesetzt. Ich war allein und wusste es, und alles andere war Schauspielerei. Alles andere war ein Bild meines Lebens, eine Geschichte. Weiterzugehen bis zu der Nadelspitze in der Klinik – das war real. Ich war ein Pfeil im Flug und konnte von niemandem Mitgefühl oder Freundlichkeit erwarten.

Als ich schließlich vom Stuhl rutschte und in die Küche schlurfte, um Wasser heiß zu machen, war ich um hundert Jahre gealtert. Wie Rip van Winkle. Mein Herz war zu Eis gefroren.