17
Im dahinschleichenden Bus checkte ich mein Handy. Ich hatte nicht nur eine SMS bekommen, sondern sogar zwei! Die erste war von meinem Provider; O2 informierte mich über meinen Bonus, und die zweite SMS war von Baz. Ich sagte mir, dass Dad bestimmt auf meine E-Mail antworten würde. Baz wollte wissen, wo ich steckte, und als ich es ihm sagte, bat er mich, in der Nähe seiner Wohnung auszusteigen, er wolle mich an der Haltestelle abholen. Ich stieg aus, und bald darauf tauchte sein verschwommener Umriss auf, bis er auf einmal vor mir stand.
»Sie sind okay! Niemand wurde verletzt!«
»Von wem redest du?«
»Von Nat und den anderen. Sie waren alle gerade außer Haus.«
Offenbar war es in den Nachrichten gekommen; zwei Häuser in Chester waren explodiert und nur noch Schutt und Asche. Dort hatten Nat und seine ALF-Kumpel gewohnt. Auf dem Weg zu ihm nach Hause erzählte Baz mir alles. Sie hatten mit Sprengstoff gearbeitet.
»Wozu denn das?«, fragte ich, und Baz musterte mich mitleidig.
»Was glaubst du?«
»Bomben?«
»Wie sollen sie sich sonst Aufmerksamkeit verschaffen?«
Ich wusste, dass es ihnen ernst war – aber Bomben? Baz meinte, der Sprengstoff sei hochgegangen, weil etwas instabil geworden sei. Es sei purer Zufall, dass gerade niemand zu Hause gewesen sei. Als er die Nachricht hörte, sei er geschockt gewesen.
»Ich hätte nicht mal gewusst, dass es ihr Haus war«, erklärte ich. »Weiß die Polizei, dass sie für die Explosion verantwortlich sind?«
»Das Haus wurde unter falschem Namen angemietet. Vorausgesetzt, dass bei der Explosion alles zerstört wurde …« Er öffnete die Haustür, es roch nach Putzmittel.
»Ist dein Dad noch im Krankenhaus?«
»Das ist die gute Nachricht. Er wurde in ein Wohnheim für psychisch Kranke verlegt, und dort wird er für längere Zeit bleiben.«
»Geht das für deine Mum in Ordnung?«
»Glaub schon. Sie weiß, dass es schlimm würde, wenn er wieder heimkäme. Sie räumt jetzt gründlich auf. Aber nächste Woche geht sie wieder arbeiten, Gott sei Dank.«
Wir gingen nach unten in sein Zimmer, und er setzte sich ans Klavier und spielte ein paar triumphierende kleine Triller. Ich zog die Jacke aus und setzte mich aufs Bett. »Und was willst du jetzt tun?«, fragte ich.
»Das, was ich vorhatte. Runterfahren und Nat helfen. Er hat mich heute angerufen und mir gesagt, dass alle unverletzt wären, aber sie bräuchten jetzt Unterstützung dringender denn je. Für den Fall, dass die Polizei ihnen auf die Spur kommt, müssen sie schnell handeln. Sie stellen ihren Film ins Netz.«
»Den Film über die Labortiere?«
»Jep. Er glaubt, der wird eine Menge Staub aufwirbeln. Gleichzeitig planen sie Demonstrationen, und sie brauchen Leute, die ihnen bei den Internetsachen helfen. Ich habe gesagt, ich käme morgen.«
»Wow. Morgen?«
»Jep.«
»Dann … gute Reise.«
»Ist doch nur vorübergehend. Jessie?« Er blickte angestrengt auf die Klaviertasten nieder.
Ich wartete, dann sagte ich: »Was ist?«
Das Schweigen dehnte sich. Mein Herz verwandelte sich in eine Feder und flatterte durch meinen Brustkorb, fast bis zur Kehle hoch. »Glaubst du …?« Seine strahlenden Augen bohrten praktisch Löcher in die Tasten.
»Ja?«
»Glaubst du … du weißt schon?«
Ich musste unwillkürlich lachen, und er lachte ebenfalls. »Ich dachte schon, du würdest mich nicht mögen«, sagte ich.
»Du hast jeden gemocht außer mir.«
»Wie meinst du das?«
»Du hast mit Danny geknutscht. Dann bist du mit Nat nach Hause gegangen, und alle konnten sehen, wie toll du ihn findest. Und dann Iain …«
»Ich mag Iain nicht. Nicht so. Er hat mich einmal geküsst, aber es war schrecklich. Ich wollte das nicht.«
Baz schaute mich an, als lege er sich eine Erwiderung zurecht, doch ich konnte nicht warten.
»Danny mochte ich auch nicht. Ich habe nur deshalb mit ihm geknutscht, weil ich an dem Abend betrunken war. Ich wollte …«
»Ja?«
»Ich bin zu dir nach unten gegangen. Aber du hast nur Klavier gespielt und mich nicht beachtet.«
»Was hast du erwartet? Ich hatte dich eben mit Danny knutschen sehen.«
»Nat mochte ich, aber … es ist nichts zwischen uns passiert.«
»Alle Mädchen mögen Nat.«
»Du tust so, als wäre ich hier die Schwierige, aber was ist mit dir?«
»Mit mir? Was soll mit mir sein?«
»Du hast Rosa Davis zu der Party eingeladen.«
»Warum nicht?«
»Und sie hat dir am Morgen beim Aufräumen geholfen.«
»Ja, und?«
»Wohin ist sie anschließend gegangen?«
»Woher soll ich das wissen? Sie hat ihre eigenen Gründe für das, was sie tut.«
Ich wusste, dass er sie eigentlich nicht mochte. Sie ging mit vielen Jungs. Es wurde gemunkelt, sie nehme Drogen. »Also …« Ich spürte, dass ich errötete, als habe man mir einen Topf Farbe über den Kopf gekippt. »Bist du …«
»Ja«, sagte er. Wir saßen da, schauten uns an und waren so verlegen, dass es wehtat.
»Okay«, sagte ich schließlich. »Gut, dass das geklärt ist.« Aus reiner Nervosität brach ich wieder in Gelächter aus, und wir saßen da und lachten wie zwei Verrückte. Dann erhob er sich und kam zu mir herüber. Er setzte sich zu mir aufs Bett, nicht besonders nahe, und ergriff mit seiner Rechten meine linke Hand. Wir schauten beide unsere Hände an, als sich unsere Finger langsam verschränkten, wie Wesen, die nicht zu uns gehörten. Dann küssten wir uns unbeholfen, wobei unsere Nasen zusammenstießen. Es gab einen Tempowechsel. Wir ließen uns aufs Bett zurückfallen und fassten uns überall an. Wir waren beide so heiß und fest und nah und glatt unter unseren Kleidern, dass ich es kaum aushielt. Ich wollte alles gleichzeitig tun, mein Körper fühlte sich leicht und lebendig an. Plötzlich erstarrte Baz.
»Was ist?«, flüsterte ich.
»Meine Mum ist gerade nach Hause gekommen. Ich hab die Haustür gehört.« Wir wälzten uns voneinander weg und richteten unsere Sachen.
»Wird sie runterkommen?«, fragte ich.
»Nein, aber …«
Ich wusste, was er meinte. Wir machten uns ansehnlich und stiegen langsam die Treppe hoch. Baz ging in die Küche, um nach ihr zu sehen. Ich wartete im Wohnzimmer, und nach einer Weile tauchte er wieder auf und schüttelte den Kopf. »Sie hat Dad besucht und sich aufgeregt.«
»Soll ich gehen?«
Er schnitt eine Grimasse und nickte. »Ich rufe dich später an.«
Ich ging allein hinaus. Der Nebel hatte sich gelichtet, die Sonne schien. Ich flog nach Hause, so glücklich wie ein Vogel. Und als ich dort angelangt war, checkte ich meine E-Mail. Und da war sie: die Nachricht von Dad. »Hi, Jessie, ich komme morgen zurück, dann kannst du mir alles erzählen. Alles Liebe, dein ausgerissener Dad. Xxx« Ja! Ich wirbelte ein paarmal im Kreis, dann schrieb ich Mum eine SMS. Es ging ihm gut, er kam zurück, er war mir nicht böse. Alles war auf dem richtigen Weg.
Nach dem Abendessen rief Baz mich an, und wir spazierten zum alten Spielplatz. Der Himmel war klar, und unser Atem entwich wie Rauch in die kalte Luft. Wir setzten uns nebeneinander auf zwei Schaukeln. Obwohl ich Handschuhe trug, waren mir die Ketten zu kalt, um sie anzufassen. Ich schaukelte leicht, die Hände in den Taschen. Wir redeten über unsere Eltern, und ich erzählte ihm von Dad. Wir versuchten uns vorzustellen, wie unser Leben ohne MTS verlaufen würde. Baz hätte das Stipendium in Österreich wahrgenommen, er wäre Konzertpianist geworden und hätte in den großen Konzertsälen der Welt gespielt. Vielleicht wird es dazu ja doch noch kommen. Und ich – ich wusste nicht, was ich gemacht hätte, ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Und das brachte mich wieder auf mein Vorhaben. Auf mein wärmendes, dunkles Geheimnis, meine Bestimmung. Ich dachte daran, es ihm zu erzählen, obwohl ich wusste, dass ich es nicht tun sollte. Allerdings könnte es nicht schaden, wenn ich das Thema theoretisch mit ihm erörterte. Ich fragte ihn, ob er von dem Plan wisse, gelagerte Embryos zu impfen, und weil er davon noch nichts gehört hatte, erklärte ich es ihm.
»Klingt wie ein Science-Fiction-Albtraum«, meinte er.
»Das ist es nicht. Vielleicht für unsere Generation, aber wenn erst einmal die ersten Kinder geboren sind, können die Frauen wieder auf natürlichem Weg Kinder bekommen.«
»Gefrierschränke voller Embryos, als wären das Tiefkühlerbsen? Dann will man sie also impfen – aber woher will man wissen, welche Auswirkungen das auf die winzigen ungeborenen Kinder haben wird? Dann wird man sie Frauen einsetzen, die erkranken und sterben werden, und sie in ihnen heranwachsen lassen wie … wie Parasiten. Und dann schneidet man sie raus? Stell dir nur mal vor, was alles dabei schiefgehen kann! Ich finde, sie sollten endlich aufhören, mit dem Leben herumzupfuschen.«
»Baz, hör zu, dabei kommen am Ende richtige Kinder heraus. Sie werden gesund sein, so wie wir … wie wir früher waren. Und sie können das ganze Grauen irgendwann vergessen, sie können ein normales Leben führen, sich verlieben und miteinander Kinder haben.«
»Die übliche Lüge der Wissenschaftler. Lasst es uns tun, auch wenn es noch so verrückt ist, denn das ist der Fortschritt. Ist es jetzt etwa besser als zu Zeiten unserer Großeltern?«
»Diese Art Wissenschaft kann uns vor dem Aussterben retten.«
»O ja. Ich kann mir schon denken, von wem du das hast.«
»Die Menschen werden ihre Lebensweise ändern, wenn sie wieder Hoffnung schöpfen. Das ist, als würden alle eine zweite Chance bekommen.«
Er lachte und sprang von seiner Schaukel. »Du bist ja ein solcher Optimist! Lass uns gehen. Inzwischen müsste sie zum Krankenhaus gegangen sein.« Er stellte sich vor mich hin und fing mich auf, als ich ihm entgegenschwang. Wir küssten uns, seine Lippen und sein Mund waren heiß wie Kakao. Es erstaunte mich nicht, dass er gegen das Verfahren war; schließlich war ich selbst zu Anfang dagegen gewesen. Ich wusste, dass ich ihn würde umstimmen können.
Wir eilten zu ihm nach Hause, gingen gleich in sein Zimmer und ließen uns auf sein Bett fallen. Es gab so viele Klamotten auszuziehen! Und je mehr wir auszogen, desto heißer wurde uns. »Hast du es schon mal gemacht?«, flüsterte er, und ich sagte: »Nein, du schon?«
»Sozusagen.«
Ich wollte ihn fragen, mit wem, doch der Moment ging vorüber, und wir waren nur noch zwei heiße, glatte Wesen, die sich ineinanderschlangen, bis es fast unerträglich schön war, und dann flüsterte er: »Soll ich?« Er drückte sich an mich, und auf einmal hatte ich Angst. Sein Glied presste sich gegen mich, tat mir weh, und ich fragte mich, ob er es richtig machte. Ich erstarrte und bat ihn aufzuhören. Er legte sein Gesicht an meine Schulter, und wir lagen so reglos da wie gefällte Bäume. Ich spürte seinen Herzschlag an meiner Brust. »Baz?«, sagte ich. »Baz?«
Nach einer Weile sagte er: »Alles in Ordnung. Das liegt daran, dass du noch Jungfrau bist. Soll ich die Finger nehmen?«
Ich wollte, dass es wieder so würde wie gerade eben. Jetzt kam es mir eher vor wie eine Operation, und all die schönen Gefühle hatten sich verflüchtigt. Ich wollte, dass es richtig wäre, so wie Sal es mir geschildert hatte, dass wir beide stöhnten vor Ekstase. »Nein«, flüsterte ich, »nein.«
»Ich probier’s noch mal. Wenn es wehtut, höre ich auf. Ach, Jessie …« Und er küsste und streichelte mich und atmete keuchend, und etwas davon übertrug sich auf mich, sodass auch mein Atem immer schneller ging und Hitzeschauer von meiner Vagina ausstrahlten. Und dann stieß sein Kopf gegen meine Schulter wie ein Lamm, das die Zitze seiner Mutter sucht. Sein Kopf stieß, und er zwängte sich in mich hinein, und es war schmerzhaft und glühend heiß und feurig, als wären wir im Begriff zu schmelzen, und dann stieß er kräftiger zu, und ich spürte, dass er richtig in mich hineinglitt wie ein Fisch ins Wasser, und er schrie: »Ah!«, und sein Kopf kam an meiner Schulter zur Ruhe. Es war, als hätte mich ein Messer durchbohrt, ich wollte, dass er es aus mir rausnahm. Gleichzeitig aber wollte ich unbedingt, dass er weitermachte; die tiefe, glitschige Feuchte machte mich ganz schwindelig. Er hob den Kopf.
»Alles in Ordnung?«
»Ja. Ja.«
Er langte mit den Fingern nach unten, dann zeigte er sie mir. Blut.
»Hab ich dir wehgetan?«
»Nicht sehr. Ich fühle mich … ich fühle mich …« Eine Zeit lang lagen wir still da.
Er begann, mich wieder zu küssen. Und bewegte sich so langsam und so sanft wie ein kleiner, rosafarbener Regenwurm, wenn man ihn auf der flachen Hand hält. Und das wundervolle Gefühl stellte sich wieder ein, wund und lieblich, lieblich und wund, steigerte sich immer mehr, bis ich kaum mehr Luft bekam und wir uns in vollkommener Abstimmung wiegten und uns, erschauernd vor Lust, aneinanderklammerten.
Anschließend lagen wir nebeneinander auf dem Bett, nur unsere Fingerspitzen berührten sich – für alles andere war uns zu heiß. Ich war froh, aber ich glaube, ich hatte einen Schock. Alles an mir war hyperempfindlich. Dann fiel mir ein, dass Baz fortgehen würde, um Nat und den Tierbefreiern zu helfen, und ich dachte, das ertrage ich nicht. Ich würde es nicht ertragen, allein zu sein, ich war dermaßen empfindlich geworden, dass er mich ständig in den Armen halten müsste. Ich fühlte mich, als wäre ich geschält worden. Als er mich fragte: »Was hast du?«, sagte ich es ihm, und er umarmte mich und meinte, er werde bald wiederkommen. Trotzdem brach ich in Tränen aus. »Hör auf«, flüsterte Baz, »hör auf, hör auf«, und er leckte mir die Tränen vom Gesicht wie ein Hund, bis ich lachen musste, und nannte mich ein Dummchen. Wir sprachen darüber, dass er Nat helfen würde, und er versprach mir, sich nicht in Gefahr zu begeben. »Aber ruf mich nicht an und schreib mir auch keine SMS – wir müssen für ein paar Tage den Kontakt abbrechen, Jess, damit die Polizei uns nicht aufspüren kann.« Mir war es recht, alles war mir recht. Ein Teil von mir wollte, dass er aufhörte zu reden und mich wieder küsste. Mein Blut war in Wallung, mein ganzer Körper prickelte. Ein anderer Teil von mir aber wollte, dass ich mich anzog und durch die kalte Nacht nach Hause ging, die dunkle Luft einatmete und mein Denken mit meinen Gefühlen in Einklang brachte. Oben rumorte es, deshalb war es tatsächlich Zeit zum Aufbruch; Baz meinte, er wolle mich nach Hause begleiten.
Als wir nach oben kamen, saugte seine Mutter gerade die Vorhänge. Sie stellte den Staubsauger ab, fragte uns, wohin wir wollten, und verabschiedete sich von mir, dann saugte sie weiter. Als wir Arm in Arm zu mir nach Hause gingen, tat sie mir furchtbar leid. Der Himmel war voller Sterne. Wir verharrten einen Moment lang im Schatten einer Tanne, die die Straßenlaterne verdeckte, und schauten zu den Sternbildern hoch, deren Namen wir beide nicht kannten. Dann gingen wir Hand in Hand bis zu meinem Haus, ohne zu reden und in dem Gefühl, die Nacht und alles darin gehöre uns: Mond, Sterne, die dunklen Schatten der Bäume, die geduckten, stillen Häuser. Wir wussten, dass wir die Fehler unserer Eltern nicht wiederholen würden.