27

Ich konnte Mum nicht dazu bewegen, mich zu den Müttern für das Leben zu begleiten. Sie meinte, das sei ihr unerträglich, und ich empfand es auch so. Nichts war erträglich. Mein Herz war tot, und ich funktionierte wie ein Uhrwerk. Aber es war aufgezogen und würde nicht versagen. Sie rief mich von der Arbeit aus an, denn wir hatten verabredet, uns in der Stadt zu treffen. Ich sagte, wenn sie heimkäme, hätte ich das Abendessen fertig.

In der Küche öffnete ich das Tiefkühlfach und wühlte darin. Der Kälteschmerz in den Fingern war eine Erleichterung. Ich war noch damit beschäftigt, als Dad nach Hause kam – schon am frühen Nachmittag. Er hatte einen Karton mit Akten und Papieren dabei. »Was gibt’s?«

Er brachte den Karton ins Gästezimmer und kam wieder in die Küche.

»Dad? Was ist passiert?«

»Ich habe gekündigt.«

»Gekündigt?«

»Wegen Unstimmigkeiten mit Golding.«

»Wegen mir?«

Er füllte ein Glas mit Wasser.

»Kannst du nicht wieder zurückgehen?«

»Jess, weshalb sollte ich für einen Mann arbeiten, der meine Tochter ermorden will?«

»Aber du kannst doch nicht deine Arbeit aufgeben!«

»Glaubst du nicht, es gibt wichtigere Dinge als meine Arbeit?«

»Nein. Nein. Ich möchte, dass ihr euer Leben weiterführt. Ich will nicht, dass sich etwas ändert.«

»Na so was. Vielleicht solltest du mal drüber nachdenken, welche Auswirkungen dein Handeln auf andere Menschen hat.«

»Das weiß ich doch … ich weiß es … ich sage doch ständig, es tut mir leid.«

»Stimmt. Jedenfalls habe ich gekündigt.«

Er würde wieder zur Arbeit gehen, wenn ich nicht mehr da war, ganz bestimmt. »Was hat Mr. Golding gesagt?«

»Er hat gesagt, ich soll meinen Schreibtisch ausräumen, und er werde heute noch den Zugangscode ändern.«

»Was hast du getan? Hast du ihn geschlagen?«

Er zuckte mit den Schultern, füllte sein Glas auf und ging ins Nebenzimmer. Hinter sich schloss er die Tür.

Während ich kochte (ich hatte Tiefkühlspinat und Hüttenkäse gefunden, also, hey, presto – Spinatlasagne), spürte ich, dass er nebenan schlechte Laune verstrahlte wie radioaktiver Abfall. Je länger ich Zwiebeln und Knoblauch hackte und briet, desto überzeugter wurde ich, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse. Mum und Dad verstanden einfach nichts. Sie hielten das für etwas Schlimmes. Wenn ich ihnen begreiflich machen könnte, dass es mich glücklich machte; dass es mir Macht verlieh, eine Entscheidung zu treffen und sie in die Tat umzusetzen; dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben sicher fühlte und die Fäden in der Hand hielt – wenn ich ihnen das klarmachen könnte, würden sie mir bestimmt nicht mehr böse sein. Denn sie wollten doch, dass ich glücklich würde? Ich überlegte, wie ich es ihnen leichter machen könnte. Ich stand auf einem dieser Laufbänder am Flughafen – auf einem Rollsteig −; alle Vorbereitungen waren erledigt, die ganze Hektik, das Vergleichen der Angebote, das Reisefieber und der Abschiedsschmerz waren überstanden, und jetzt war ich unterwegs zum Check-in, wo man mich abfertigen und an Bord des Flugzeugs gehen lassen würde. Und dann … dann würde ich losfliegen. Das hatte nichts Trauriges.

Was Dad getan hatte, war emotionale Erpressung – er wollte mir demonstrieren, welches Unheil ich in sein Leben brachte, damit ich mich schuldig fühlte und es mir anders überlegte. Er war unglücklich – das stimmte. Ich wünschte, er wäre es nicht gewesen. Aber seine Wutanfälle und sein Schmollen waren ein Versuch, seinen Willen durchzusetzen, und das würde ihm niemals gelingen.

Bisweilen empfinde ich immer noch so wie damals – fühle mich überlegen, bemitleide ihn; bin traurig darüber, dass er das große Ganze nicht sehen kann. Dann erzittert alles und verwandelt sich, und ich bin wieder das Kind und er der Vater, und ich fürchte mich vor seinem Zorn und dem, was er weiß und ich nicht. Ich fürchte mich vor meinen eigenen Fehlern, ich ertrage seine Missbilligung nicht. Ich hacke Kräuter und verwandele mich wie Alice im Wunderland, wenn sie ihre Trink-mich-Medizin einnimmt und daraufhin wächst oder schrumpft, aber immer die falsche Größe bekommt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto schlimmer wird es. Mir bleibt nichts anderes übrig, als auf Biegen und Brechen an meiner Entscheidung festzuhalten. Nirgendwo sehe ich einen festen Halt.

An jenem Nachmittag, als ich die Tomatensauce machte, erschien mir alles einfacher. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich eine Art herablassendes Mitleid für ihn empfand, wie eine Mutter, die ihr ungezogenes Kind aufs Zimmer schickt. »Bleib schön auf deinem Zimmer und schmolle, bis du wieder zur Vernunft gekommen bist.«

Als Mum nach Hause kam, wusste sie es bereits; offenbar hatte er mit ihr telefoniert. Sie ging ins Nebenzimmer und schloss die Tür, und ich hörte, wie sie sich stritten. Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee kam, aber ich hatte den Eindruck, sie machten sich gegenseitig Vorwürfe. Die Lasagne war im Backofen, und ich zog die Jacke an und trat in den Garten hinaus. Es war feucht und bewölkt, nicht besonders kalt; die unbelaubten Büsche und Stängel im Garten warfen im Schein der Straßenlaterne spitze schwarze Schatten. Baz kam mir in den Sinn, doch ich versuchte, nicht an ihn zu denken. Nein. Nein. Mum und Dad hatten sich auch schon vorher gestritten, sagte ich mir. Ich kann mein Leben nicht danach ausrichten, es ihnen recht zu machen. Ihre Stimmen erfüllten das Haus, aber hier draußen herrschte Dunkelheit, Weite und Stille. Würde meine Tochter eines Tages hier draußen stehen? Würde sie in der Dunkelheit des Gartens stehen, zu den erleuchteten Fenstern aufblicken und denken, mein Leben ist größer als ihres? Das würde sie, ganz bestimmt. Aber ich sah wieder Rosa vor mir, zugedeckt in Baz’ Bett, mich anfunkelnd wie eine Katze.

Irgendwie war der Abend gelaufen, und als er endete, war Dad wieder im Nebenzimmer, und Mum saß am Tisch und starrte auf ihre Hände. Ich räumte die Spülmaschine aus. Der vernichtende Schmerz, der von Baz und dem Elend meiner Eltern ausging, erdrückte mich fast. Erst als ich mich auf mein Vorhaben konzentrierte, konnte ich wieder freier durchatmen. Ich saß nicht in der Falle. Ich konnte entkommen. »Mum, es bringt nichts, wenn er die Arbeit aufgibt, das ändert nichts …«

»Vielleicht ändert es etwas für ihn.«

Er würde sich nur einen anderen Job suchen müssen, der ihm weniger zusagen würde. Ich nahm ihr gegenüber Platz und ergriff ihre Hand.

»Was willst du?«, fragte sie.

»Ich möchte, dass ihr akzeptiert, was ich tue, und nicht fies zueinander seid.«

»Du bist nicht schuld, wenn wir uns streiten.«

»Nein, aber …«

»Und du kannst nicht im Ernst glauben, wir würden uns mit deinem Vorhaben jemals abfinden.«

»Ihr habt mir das Leben geschenkt. Dann müsst ihr mir auch erlauben, selbst zu entscheiden, was ich damit anfangen will.«

»Nicht, wenn du es wegwirfst …«

»Ich werfe es nicht weg. Ich opfere es für die Zukunft.«

»Die Zukunft ist etwas Abstraktes, Jess.«

»Nein, es geht um mein Kind und das Kind meines Kindes.«

»Ich will das nicht hören.«

»Aber du musst. Es macht mich glücklich, verstehst du?«

»Nein«, sagte sie, »das verstehe ich nicht. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt.«

»Hm. Irgendetwas muss dich doch glücklich machen? Deine Freundinnen, deine Arbeit …«

»Nein, nichts.«

»Urlaub machen.«

Sie lachte auf und schüttelte den Kopf.

»Ich kann dich glücklich machen.«

»Das ist Unsinn, Jess.«

»Mum, ich habe die Bestimmung meines Lebens entdeckt. Und du wirst dich um das Kind kümmern und es lieben.«

»Ich will nicht deine Tochter haben. Ich will meine Tochter.«

»Ich gehöre dir ebenso wenig, wie du Oma gehört hast.«

Ruckartig schob sie den Stuhl zurück und ging zur Tür. Dort hielt sie inne und kam um den Tisch herum. Sie legte mir die Hände auf die Schultern, küsste mich auf die Wange und sagte mir, sie liebe mich. Dann ging sie nach oben.

Nach einer Weile lauschte ich an der Tür zum Nebenzimmer. Dad wollte vermutlich unten schlafen, das tat er immer, wenn sie sich stritten. Ich war ihre Gefangene. Wie in Gullivers Reisen, wenn die Liliputaner ihn im Schlaf mit zahllosen Stricken fesseln, die nicht dicker sind als ein Haar, die ihn aber in ihrer Gesamtheit bewegungsunfähig machen. Irgendetwas musste geschehen.

Ich legte mich ins Bett und schaute durch die offenen Vorhänge zur Buche und zum Himmel hinaus. Ständig musste ich die Gedankentüren zu Baz zuschlagen, immer wieder, weil er sich nicht meldete und auch in Zukunft nicht melden würde und mir nichts anderes übrigblieb, als es zu verdrängen. Irgendwie musste ich zu Mum und Dad durchdringen. Ganz allmählich. Einen Schritt nach dem andern.

Die Wolke zog weg. Ich sah ein paar helle Sterne, die durchs Geäst hindurchfunkelten. Die Sterne hatten all das schon tausendmal gesehen; Eltern, die sich aufregen, weil ihr Kind fortgeht. Als ich die Augen schloss, zeichnete sich hinter den Lidern das Geäst des Baumes ab wie das Netz, aus dem ich entwischen wollte. Der weite Himmel wartete auf mich. Meine Träume in dieser Nacht waren so weit und groß wie das Weltall, und mitten darin schwebte eine Idee, eine Lösung, wie ich mit Mum sprechen könnte.

Ich staune immer wieder darüber, wozu unser Gehirn imstande ist – es löst Probleme im Schlaf. Ich erinnere mich, vor Jahren mit Dad darüber gesprochen zu haben. Er meinte, das stimme und sei ein Beleg dafür, dass wir große Teile unseres Gehirns nicht bewusst nutzten, genau wie in der Geschichte von den Elfen und dem Schuster. Wenn der Schuster am Abend zu Bett ging, blieben immer unfertige Schuhe stehen, weil er zu müde war, um die Arbeit abzuschließen. Und während er schlief, kamen jede Nacht die Elfen und hämmerten, schnitten zu und nähten, und wenn er aufwachte, fand er ein fertiges Paar Schuhe vor.

Genau das taten meine Elfen in jener Nacht. Als ich erwachte, war mir klar, dass Mum schwankend wurde. Sie wurde schwach. Ich brauchte sie nur eine Weile aus Dads Nähe zu entfernen, dann würde sie sich abfinden. Ich musste sie an einen Ort bringen, wo sie Licht und Weite um sich hätte. Wo sie sehen könnte, was ich sah. Und der perfekte Ort dafür war: das Meer!

Ich würde mit ihr nach Scarborough fahren. Oma Bessies Wohnwagen war mir einer der liebsten Orte auf der ganzen Welt. Ich weiß noch, wie ich mich auf meine schmale Pritsche kniete und den steifen kleinen Vorhang nach einer Seite schob, damit ich nach draußen schauen konnte. Ich erinnere mich, wie die Morgensonne in den Wohnwagen fiel und wie das Meer hinter den anderen Wohnwagen gleißte, die sich wie Scherenschnitte auf dem Feld aneinanderreihten. An der anderen Seite der Hecke führt der Küstenweg entlang, auf den bröckelnden Klippen. Schäumende Wellen rauschen über die Kiesel am Strand, die Luft ist erfüllt von ihrem Klackern. Und wenn man aufs Meer hinausschaut, sieht man die Lichtschneise, die die Sonne darauf malt und die direkt zu einem herführt, zu den stürmischen Klippen.

Mit dem Auto nahmen wir immer zwei Koffer, einen Karton mit Lebensmitteln und Mums Strandtasche mit, in der sie Eimer, Schaufel und Frisbeescheibe verstaut hatte, und sangen verrückte Lieder. Ich spielte »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Jetzt könnten wir mit dem Zug fahren, ohne Dad davon zu erzählen. Ich würde ihr sagen, dass ich dorthin wolle, und das stimmte auch. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, und ich wollte keine Minute länger warten als nötig. Ich schlich mich in Mums Zimmer und kroch zu ihr ins Bett, wie ich es früher immer getan hatte, als ich noch klein war. Ich sagte ihr, ich wolle ans Meer. Ich überredete sie, sich einen Tag freizunehmen.