24

Ich sah Mandy nicht mehr wieder. Am Nachmittag hatte sie eine »schlechte Phase«, wie Dad sich ausdrückte, und meine Eltern riefen den Arzt, der sie auf der Stelle sedierte. Von da an war es so, als wäre sie bereits von uns gegangen.

Am Abend kam Dad nach Hause, und wir sprachen über Mandy und Mum, und dann holten wir die Fotoschachtel hervor und schauten uns die alten Bilder an, angefangen mit denen, auf denen ich noch ganz klein war. Mandy mit uns im Urlaub; Mandy, wie sie mir Fahrradfahren beibrachte; Mandy lachend im Wasser planschend; Mandy, wie sie mein Stoffseepferdchen zum Tanzen brachte. Die besten wählten wir für ihre Beerdigung aus. Ich musste daran denken, dass Mum und Dad das Gleiche bald für mich würden tun müssen. Als ich die Fotos betrachtete, auf denen ich lächelnd am Strand entlangstapfte oder mir Hände voll Sand in den Mund stopfte, dachte ich zum ersten Mal an das Baby. An mein Kind. Ich stellte es mir mit Mum und Dad vor. Ich stellte mir die drei zusammen vor und war neidisch und froh und voller Angst, alles zugleich.

Dad erzählte mir, Frauen von FLAME hätten die Klinik blockiert – seine und auch noch die anderen Kliniken im ganzen Land, in denen Schlafende Schöne untergebracht seien. Man habe Wachposten an den Eingängen aufgestellt, doch die Laborangestellten hätten auch eine eigene Patrouille organisiert, um zu verhindern, dass die Embryos gefährdet würden. Alle fünf Tage müsse er in der Klinik übernachten.

Als er am nächsten Morgen zur Arbeit gefahren war, brachte ich drei der Plastiktüten mit den Sachen aus meinem Zimmer zum Secondhandladen für Kinder in Ashton. Drinnen sah es deprimierend aus; Haufen von Plastiksäcken warteten darauf, ausgepackt zu werden, sie lagen auf der Theke, auf Tischen und auf dem Boden. Als ich die Frau fragte, wo ich meine Säcke abladen solle, zuckte sie mit den Schultern. Sie meinte, die Leute schleppten immer mehr Sachen an. Frauenkleider und Haushaltsgüter; davon hätten sie mehr, als sie gebrauchen könnten, und sie schickten unsortierte Wagenladungen als Lumpen zu den Papierproduzenten. Es tat mir weh, meinen geliebten Besitz an einem Ort zu lassen, wo niemand dafür Verwendung hatte. Dann fiel mir ein, dass meine Eltern mein Zimmer würden ausräumen müssen, und da war ich auf einmal froh, dass ich es getan hatte.

Als ich aus dem Laden trat, klingelte mein Handy. Lisa. Sie berichtete von ihren neuesten Plänen; sie wollte noch immer von dem Kids’ House aufs Land ziehen und dort Selbstversorger werden. Über einen Bekannten, der mit jemandem gesprochen hatte, der es an einen Dritten weitergegeben hatte, war ihr ein kleiner Bauernhof für mutterlose Kinder angeboten worden. Er lag in Wales, und sie fragte mich, ob ich ihn mir mit ihr anschauen wolle. »Ich weiß, du hältst das für Realitätsflucht«, sagte sie, »aber du könntest doch mal mitkommen und es dir anschauen, was meinst du?« Dass sie mich von der Teilnahme am Programm abhalten wollte, erwähnte sie nicht, doch ich hörte es aus ihren Worten heraus. Egal. Ich war froh, dass sie mich gefragt hatte, ich war des Alleinseins überdrüssig. Wir verabredeten uns für neun Uhr freitags am Piccadilly, um mit dem Zug nach Wales zu fahren. Sie meinte, ich solle mein Fahrrad mitbringen, denn es sei ein weiter Weg vom Bahnhof zum Hof.

Bis Freitag musste ich noch etwas erledigen – die Besprechung in der Klinik. Dr. Nichol hatte sich per SMS bei mir erkundigt, wie es mir gehe und ob ich einen weiteren Beratungstermin wünsche. Ich hatte mit Nein geantwortet. Jetzt stand die Besprechung an, bei der meines Wissens die endgültige Entscheidung fallen würde.

Ich versuchte, nicht daran zu denken, mich nicht mit dem Thema zu beschäftigen. Ich würde einfach hingehen und Ja sagen. Ganz am Rande, im peripheren Gesichtsfeld, das man hat, wenn einem jemand die Hand auf die Augen legt, spielte ich mit der Möglichkeit, Nein zu sagen und wieder mein eigenes Leben zu leben. Dann wurde mir klar, dass ich spät dran war und zur Bushaltestelle laufen musste. Das Wetter war umgeschlagen, es war schwül, und als ich in den Bus einstieg, schwitzte ich. Während der Fahrt starrte ich vor mich hin, die Tasche auf den Knien, und kam mir vor wie eine Statue. Als die Krankenschwester mich in ein Wartezimmer führte, in dem ich noch nicht gewesen war, saß dort ein mir unbekanntes Mädchen. Wir sahen einander an, und ich nickte ihr zu; ich glaube, wir hatten beide vergessen, wie man lächelt. Wenigstens war es nicht Rosa. Sie wurde gleich aufgerufen. Ich nahm mein Buch aus der Tasche und starrte die Seite an, damit ich sie nicht ansehen musste, wenn sie zurückkam. Ich wollte sie nicht weinen oder lächeln sehen, je nach Ausgang der Besprechung. Die Zeit verging nur langsam. Als ich endlich aufgerufen wurde, saß Dr. Nichol hinter ihrem Schreibtisch. Sie erhob sich, kam um den Tisch herum, klopfte mir auf die Schulter und geleitete mich zu einem bequemen Sessel. Dann nahm sie mir gegenüber Platz. »Also, Jessie«, sagte sie. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich weiß nicht.«

»Das wundert mich nicht«, sagte sie. »Das ist eine sehr schwerwiegende Entscheidung. Wie stehen Ihre Eltern dazu?«

»Also, ehrlich gesagt glauben sie, sie hätten mich dazu gebracht, noch ein Jahr zu warten.«

»Ah.«

»Dann wäre ich zu alt, nicht wahr?«

Sie nickte. »Mr. Golding nimmt keine Frauen, die älter sind als sechzehneinhalb. Aus der Statistik zu den Schlafenden Schönen geht hervor, dass jeder zusätzliche Monat die Chance einer Lebendgeburt verschlechtert.«

»Meine Eltern wissen das.«

»Vielleicht sollten Sie mit Ihrer Mutter zu einem Treffen der Mütter für das Leben gehen«, sagte sie. »Die Frauen dort haben ein gutes Unterstützernetzwerk aufgebaut. Sie verstehen den Ablauf, sie helfen sich gegenseitig, das durchzustehen.«

Ich hatte nicht die geringste Lust, das Thema bei Mum noch einmal zur Sprache zu bringen.

»Wie steht es mit Ihnen? Wie ist es Ihnen ergangen?«

»Also, ich war ein bisschen durcheinander.« Plötzlich dachte ich, sie sieht genau, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was ich tue. Ich brauche nur aufrichtig zu sein, dann wird es mir gelingen, mich zu retten. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, dass ich mich retten wollte und dass ich eine hinterhältige Ader habe.

»Konnten Sie gut schlafen?«

»Ich hatte ein paar schlaflose Nächte.« Ich lachte, damit sie nicht den Eindruck bekam, ich wollte jammern.

»Das freut mich«, sagte sie. »Es wäre sehr bedenklich, wenn Sie mit einer solchen Entscheidung ruhig und gefasst umgingen. Sie wissen ja, wir wollen keine Mädchen, die sich irgendwelche Illusionen machen. Sie sind im Begriff, eine folgenschwere Entscheidung zu treffen, für die Ihnen zukünftige Generationen dankbar sein werden, die jedoch Ihren Tod zur Folge hat. Sie müssen realistisch darüber nachdenken. Ab einem gewissen Punkt gibt es kein Zurück mehr, und Sie werden Ihre ganze Willensstärke brauchen.«

Ich versuchte nachzudenken, doch mir schwirrte der Kopf.

»Ich möchte, dass Sie sich so viel Zeit nehmen, wie Sie brauchen«, sagte sie. »Das ist Ihre Entscheidung. Sie brauchen jetzt nichts zu sagen, Sie müssen sich nicht heute entscheiden. Ich möchte, dass Sie einfach nach Hause gehen und Ihr Leben so lange fortführen, bis Sie sich vollkommen sicher sind. Wenn Sie sechs Monate brauchen, ist das auch in Ordnung, dann heißt das, Sie werden es nicht tun. Okay? Es entsteht kein Schaden, und Sie brauchen sich auch nicht zu schämen. Ich weiß, dass Sie sich im Moment unsicher sind, und kein Mensch will Sie unter Druck setzen. Leben Sie damit, achten Sie auf Ihre Gefühle, und warten Sie ab, ob sich alles klärt. Okay?«

Ich lachte, teilweise aus Erleichterung und teilweise aus Ärger darüber, dass ich es in die Länge zog. »Was passiert, wenn ich mir tatsächlich sicher bin?«, fragte ich.

»Sie können mich anrufen.« Sie reichte mir eine Karte mit ihrer Telefonnummer. »Hier in der Klinik oder auf dem Handy. Sie können mich jederzeit anrufen.«

»Aber werden Sie mich dann auch nehmen?«

»Falls Sie es wirklich tun wollen, werden wir Sie mit Freuden in das Programm aufnehmen.« Ich saß da wie ein Idiot. Ich begriff nicht, was das sollte. Ich hatte mich entschieden. Du meine Güte, stand meine Entscheidung nicht schon seit Langem fest?

»Erklären Sie mir genau, was passiert, wenn ich zu Ihnen komme und Ja sage.«

»Dann entfernen wir Ihr Implanon-Implantat. Und wir geben Ihnen eine Temperaturtabelle mit, der Sie entnehmen können, wann Sie Ihren Eisprung haben – so können wir den günstigsten Zeitpunkt für das Einpflanzen des Embryos bestimmen.«

»Können Sie das jetzt gleich machen?«

Sie zögerte. »Haben Sie einen Freund?«

»Nein. Nein. Ich brauche das Implanon nicht. Ich möchte, dass Sie es jetzt gleich entfernen.«

»Aber weshalb?«

»Weil … weil ich weiß, dass ich es will, und mich das ganz rappelig macht. Wenn Sie das Implanon entfernen, bin ich wenigstens einen Schritt weiter. Und wenn ich … am Ende … doch nicht …«

»Dann können wir es jederzeit wieder einsetzen«, sagte sie. »Also gut, Jessie, wenn Sie möchten.« Ich musste mich auf den harten Stuhl neben ihrem Schreibtisch setzen, dann machte sie sich mit einem kleinen, sirrenden Instrument an meinem Arm zu schaffen. Es fühlte sich an wie ein Zahnarztbohrer, dann verspürte ich einen brennenden Schmerz. Sie tupfte die Stelle mit etwas Kühlem ab und klebte ein Pflaster darauf. Ich musste daran denken, dass Mandy sich das Implanon mit einer Rasierklinge entfernt hatte. Sie hatte genau gewusst, was sie wollte.

Dr. Nichol gab mir eine Temperaturtabelle und erklärte mir, wie ich sie verwenden sollte. Wir trugen das Datum meiner letzten Periode ein, und sie zählte die Tage bis zum Beginn der Behandlung ab. Dann gaben wir uns die Hand, und ich fand ein wenig Trost im Brennen des Oberarms und der in meiner Tasche zusammengefalteten Tabelle.

Die erste Person, der ich nach der Besprechung mit Dr. Nichol begegnete, war Rosa. Sie saß draußen auf der Eingangstreppe. »Bist du noch dabei?« Sie wirkte irgendwie merkwürdig, und ich hatte den Eindruck, man habe sie abgelehnt.

»Ja, sicher. Und du?«

»Oh, ja, innerhalb der nächsten vier Wochen.« Ich musterte sie erneut und bemerkte, dass sie richtig dick geschminkt war. Irgendetwas war mit ihrem Gesicht. Sie richtete sich auf und ging neben mir her zur Bushaltestelle. »Hast du dir Zeit genommen, dir alles noch mal zu überlegen?«, fragte ich sie. »Bevor du dich endgültig entscheidest?«

»Das brauchte ich nicht! Ich war mir immer schon hundertprozentig sicher.«

»Und wenn du wieder herkommst …«

»Dann bleibe ich da!«

»Ist deine Mum wirklich damit einverstanden?«

»Ja, hab ich dir doch gesagt. Sie lässt ein Video machen.« Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Wenn sie mich ärgern will, sagt sie, ich hätte nicht den Mut, es durchzustehen. Aber den hab ich. Ich werd’s ihr schon zeigen.«

»Und dein Freund?«

»Ach, von dem hab ich mich getrennt. Ein Loser.« Sie lachte. »Du solltest mal meine Facebookseite sehen. Ich habe Hunderte Fans, Hunderte attraktiver Männer, die mit mir ausgehen würden, wenn sie könnten. Alle schicken mir Nachrichten, von wegen, wie tapfer ich wäre und so. Ich brauche ihn nicht. Ich könnte jeden haben.«

»Du hast das auf Facebook gepostet? Dass du dich für das Programm gemeldet hast?«

»Jep.«

»Aber das sollte doch geheim bleiben.«

»Nicht mehr lange. Bald wird man unsere Gesichter in der ganzen Welt kennen.«

Dr. Nichol musste sie doch durchschaut haben? Mir wäre es lieber gewesen, sie hätte sich nicht gemeldet; sie besudelte das Ganze, als wäre das ein Projekt für Spinner. Vielleicht log sie auch.

Dad rief spätabends zu Hause an und meinte, er sei bei Mandy, und dort sei alles friedlich. Er sagte, wenn es mir nichts ausmache, wolle er bei Mum bleiben, denn es sei nicht sicher, dass Mandy die Nacht überstehen werde. Ich sagte ihm, ich wolle mit Lisa nach Wales fahren. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas anderes zu erzählen. Die Ungewissheit kam mir vor wie ein Rätsel, das man lösen muss, bevor man eine Schwelle überschreitet. Ich würde es tun, ich wusste, dass ich es tun würde; aber etwas musste mir erst noch die Zunge lösen, damit ich Ja sagen konnte.

Am Morgen maß ich meine Temperatur und machte an der entsprechenden Stelle ein kleines Kreuz in die Tabelle. Dann ging ich zum Schuppen hinaus. Es war eine richtige Überraschung für mich, mein Fahrrad wiederzusehen. Im Reifenprofil haftete noch alter Dreck. Der stammte wohl von dem Ausflug, den ich mit Sal über den Treidelpfad unternommen hatte, vor einer ganzen Ewigkeit, in der Zeit vor MTS. Als ich das Rad zum Tor schob, platzte der Dreck ab und fiel auf den Boden. Ich fuhr zur Ashton Station und wackelte heftig mit dem Lenker, als ich einen Gang herunterzuschalten versuchte, doch der Hebel klemmte.

Es hätte mich nicht gewundert, wenn Lisa Gabe zum Piccadilly mitgebracht hätte. Aber sie war allein gekommen; er hatte gemeint, er wolle nicht wie ein schmutziger Hippie leben, mit Schafen als einziger Gesellschaft. »Ich glaube, er wird es sich noch überlegen«, meinte sie, doch es war ihr anzumerken, dass sie nicht glücklich damit war. Mir kam der Gedanke, dass dies vielleicht der Grund war, weshalb sie mich gebeten hatte mitzukommen. Wir tauschten Neuigkeiten zu Wettenhall aus. Nat hatte sie von einem sicheren Telefon aus angerufen und ihr mitgeteilt, dass er sich versteckt halte, jedoch nicht mehr. Und ich fragte sie, was sie über den Flughafenprotest wisse. »Also, dadurch ist vollkommen klar geworden, dass Flughäfen Hauptziele des Terrorismus sind. So gesehen war es ein Erfolg.« Sie hatte von keinen Festnahmen von YOFI-Mitgliedern gehört.

In Shrewsbury stiegen wir in einen kleineren, langsameren, leereren Zug um, und die Fahrräder nahmen wir mit ins Abteil. Lisa hatte eine Karte dabei und zeigte mir, wohin wir wollten – die Farm lag acht Meilen vom nächsten Bahnhof entfernt. Draußen zog die menschenleere, wogende Landschaft vorbei, Felder mit Schafen und merkwürdig geduckten Farmen. In der Ferne sah man höhere Hügel. Der Tag hatte mit grauem Nebel begonnen, doch nun brachen die Wolken auf. Ein Flecken blauer Himmel tauchte auf.

Der Bahnhof, an dem wir aussteigen mussten, bestand aus einem Bahnsteig mit Ortsschild, einen Fahrkartenschalter gab es nicht. Wir schoben unsere Räder. Wir waren die einzigen Menschen weit und breit. Zur Rechten lag ein Terrassenhang mit dunklen Häusern und menschenleeren Gärten, die sich bis zu den Bahngleisen hinunterzogen. »Die Farm liegt links hinter dem Bahnübergang.« Lisa schwang sich auf ihr Rad, und ich fuhr hinter ihr her den Hügel hoch, halb so schnell, als wenn ich gegangen wäre, aber mit doppelter Kraftanstrengung. Trotzdem schaffte ich es bis zur Kuppe, und als ich bergab sauste, klickte es auf einmal, und die Schaltung funktionierte wieder.

Nach dem stickigen Zug kam mir die Luft klar und frisch vor, und dank der körperlichen Bewegung pulsierte prickelnder Sauerstoff durch meinen Körper. Sonnenschein und Wolkenschatten wechselten sich ab, als wenn ein Scheinwerfer hier eine Steinmauer und dort ein grünes Feld oder ein silbriges Wäldchen herauspickte. Der nächste Hügel war steiler, und Lisa beugte sich weit auf den Lenker vor und musste heftig strampeln, um oben anzukommen. Auf halber Höhe stieg ich ab und schob. Die einzigen Geräusche waren mein keuchender Atem, das leise Schleifen einer Bremsbacke und das ferne Gekrächze der Krähen. Die Landschaft ringsumher erschien mir weit und leer, mit mir im Mittelpunkt. Lisa erwartete mich auf der Hügelkuppe, und dann sausten wir gemeinsam bergab, juchzend und atemlos. Die Felder entfalteten sich vor uns wie ein Teppich.

Schließlich bogen wir auf eine kleinere Straße nach rechts ab, und dann hielt Lisa an einem Tor an. »Da oben ist es.«

Ein Pfad schlängelte sich bergauf und verschwand zwischen kahlen Bäumen. Das Tor war unverschlossen, doch die Angeln waren kaputt. Wir zwängten unsere Räder durch die Lücke und schoben sie in den Wald. Von der Kuppe aus schauten wir auf einen Bach und eine Farm mit mehreren Nebengebäuden hinunter. Die Sonne kam wieder heraus und überschwemmte das Tal mit Licht. Wir sahen einander an und lachten. Dann lehnten wir die Räder an einen Baum und gingen zum Hof hinunter.

Davor lag ein gepflasterter Hof, an drei Seiten von Gebäuden eingefasst – vom Wohnhaus, einer verfallenen Scheune und ein paar Holzschuppen, die nach Ställen aussahen. Vor der Scheune lagen ein paar modrige Strohballen. Lisa hob einen Stein von der Türstufe hoch, darunter lag ein großer, altmodischer Schlüssel. Sie sperrte die Tür auf, und wir traten in die düstere Küche. »Mein Gott«, sagte sie, »das ist perfekt!« An der einen Wand standen ein alter Kochherd und eine große schwarze Anrichte mit Bechern, Tellern und vergilbtem Papier – Rechnungen, Werbesendungen, Zeitungen. Auf dem Tisch standen Weckgläser und Flaschen, daneben Saatgutkataloge, ein Computer und ein Drucker sowie ein Korb voller Wäsche. Beim Herd stand ein Paar rissiger Stiefel, an einem Türhaken hing Ölzeug. Es roch feucht und modrig und ein wenig süßlich, wofür vermutlich eine tote Maus oder ein Vogel verantwortlich war.

»Wo sind die Leute hin?«, fragte ich. In der Spülschüssel lag in einer trüben Wasserlache eine verrostete Bratpfanne.

»Das ist eine traurige Geschichte«, sagte Lisa. »Aber schau mal! Ein richtiger Feuerherd, wie toll ist das denn? Wir brauchen nur ein bisschen Holz zu hacken, und schon können wir heizen, kochen und heißes Wasser machen.« Sie drehte den Wasserhahn auf. Er spritzte kurz, dann schepperten die Rohre, das war alles. »Das Wasser wurde abgestellt«, sagte sie. »Wir besorgen uns Plastiktonnen und fangen damit das Regenwasser vom Dach auf.«

Wir gingen weiter ins Wohnzimmer, wo vor dem Kamin ein geblümtes Sofa stand. Auf dem Rost lag weiche weiße Asche. In der Ecke stand ein Fernseher, neben dem Sofa lagen ein Taschenrechner, ein Stift und handgeschriebene Listen mit Zahlenkolonnen. Eine offene Tür führte zu einer Rumpelkammer voller gestapelter Kartons und kaputter Möbel. »Was ist hier passiert, Lisa?«

Sie erzählte es mir, als wir nach oben gingen und die Schlafzimmer erkundeten. Die Farm gehörte einem jungen Ehepaar, das sie renovieren wollte. Die Frau war schwanger, dann kam MTS. Der Mann lebte bis Oktober allein in dem Haus, dann brachte er sich um. Die Farm fiel an seine Eltern. Jetzt hatten sie sie mutterlosen Kindern überlassen.

»Sind sie beide hier im Haus gestorben?«

»Woher soll ich das wissen? Ist das alles, was dich interessiert? Siehst du denn nicht, was man Tolles daraus machen kann?«

»Tut mir leid. Doch, seh ich.« Im großen Schlafzimmer war das Federbett zurückgeschlagen, als wäre gerade eben erst jemand aufgestanden. Im anderen Zimmer lehnte eine Trittleiter an der Wand, und darauf stand eine Farbdose mit darauf abgelegtem Pinsel. Eine Wand war taubenblau. Über den Schlafzimmern war ein Speicher. An mehreren Stellen konnte man durch das Dach hindurch den Himmel sehen, auf dem Boden lagen Laub und Federn. »Ich wette, da oben ist ein Nest«, sagte ich, doch wir konnten keins finden.

Wir sahen uns auch die anderen Gebäude an, die alle ziemlich verfallen waren, und Lisa schilderte mir ihre Pläne. Auf dem Bankkonto von Kids’ House lagen Spendengelder. Damit wollte sie Werkzeug und Saatgut kaufen. Sie wollte Feldfrüchte anbauen: Kartoffeln, Zwiebeln, Bohnen, Kohl, Rote Bete, Zuckermais, Sonnenblumen. Sie würden den Garten ordentlich einzäunen müssen, um Rehe und Kaninchen fernzuhalten. Sie würden sich einen Polytunnel kaufen und darin Tomaten, Erdbeeren und Rettich anbauen und außerdem Hühner und Ziegen halten. Sie hatte bereits Bücher über Tierhaltung gelesen und traute sich zu, eine Ziege zu melken und Joghurt und Käse zu machen. Sie wollte auch Pflaumen- und Apfelbäume, Haselnuss-, Himbeer- und Johannisbeersträucher kaufen und jemanden kommen lassen, der sich mit Bienen auskannte, einen Bienenstock aufstellte und ihnen alles Nötige beibrachte. Der organische Abfall würde mit Urin kompostiert werden, um den Garten damit zu düngen. Sie würden das Tor reparieren, das Dach abdichten und das Haus wetterfest machen. Und wenn sie das alles in diesem Jahr noch schafften, würden sie im nächsten Jahr größere Dinge in Angriff nehmen, etwas Getreide anbauen, vielleicht einen Obstgarten anlegen und Kühe anschaffen.

»In der Scheune können wir weitere Schlafplätze einrichten«, meinte sie, »und die Schuppen als Lagerräume nutzen. Wir können Tomaten und Obst in der Sonne trocknen, Marmelade kochen und Obst einmachen und einen unterirdischen Lagerraum für Wurzelgemüse anlegen, damit es im Winter nicht erfriert. Das Regenwasser ergänzen wir mit Wasser aus dem Bach, und es spricht nichts dagegen, dass wir auf dem Hügel unser eigenes Windrad aufstellen.« Sie lachte. »Ich werde den Hof Eden nennen!«

Ich setzte mich auf die alte Bank im Garten, während sie wieder ins Haus ging, um eine Liste der vorhandenen Geräte anzulegen. Die Frühlingssonne wärmte schon ein wenig, und zwischen den Pflastersteinen des Weges spross gelb blühender Huflattich hervor. Ich stellte mir vor, wie Lisa mit einem Haufen Kids hier ankommen würde, wie sie Vorräte auspackten und entschieden, wer wo schlafen sollte, wie sie die Küche aufräumten und das Gerümpel im Freien verbrannten. Sie würden um das Feuer herumstehen, wenn es dunkel wurde, und lachend Pläne schmieden.

Der Huflattich war die erste Blume dieses Frühjahrs. Alles erneuerte sich, bald würden überall im Tal neue Blätter sprießen. Lisa kam nach draußen und rief mir zu, sie sei fertig. Als ich auf dem Hof erschien, hantierte sie mit dem Schlüssel, der sich nicht im Schloss drehen wollte. Lachend meinte sie, das Haus wolle sie nicht fortlassen. Ich sperrte für sie ab und legte den Schlüssel unter den Stein, dann gingen wir zu unseren Rädern. Lisa plapperte in einem fort über die Verbesserungen, die sie vornehmen würden. Ich konnte keinen Gedanken fassen, doch in meinem Kopf war eine Art Rauschen. Als wir die Räder auf den Bahnsteig schoben, hatte ich wieder einen klaren Kopf und begriff, dass ich nicht nach Hause wollte.

Wenn ich einfach nur eine Weile allein sein könnte – wirklich allein, an einem Ort, wo mir niemand zusetzen konnte – und Zeit zum Nachdenken hätte, würde ich es auf die Reihe kriegen. Eden war der perfekte Ort zum Bleiben. Hier ging es um niemand anderen; weder um Baz und Iain, noch um Mum und Dad oder Lisa und Sal; nur um mich. Um mein Leben. Ich wollte mich ausbreiten und einen Raum ausfüllen – ein Zimmer, das Haus, das Tal –, um mich zu spüren, um mir ganz sicher zu werden.

Ich glaubte schon, Lisa werde sich ebenfalls zum Bleiben entschließen, doch sie wollte zu Gabe zurück. Ich bat sie, nach ihrer Rückkehr Mum und Dad Bescheid zu geben. Als der Zug kam, stand ich mit meinem Rad auf dem Bahnsteig und winkte ihr zum Abschied. Ich sagte mir, wenn ich es schaffte, ohne abzusteigen zurückzuradeln, wäre meine Entscheidung richtig, und ich schaffte es auch, obwohl ich mich vor der Kuppe des zweiten Hügels auf die Pedale stellen musste und Schlangenlinien fuhr, weil ich immer langsamer wurde. Ich versteckte das Rad im Gebüsch am Tor, und als ich den Weg hochging, klang auf einmal alles lauter – die krächzenden Krähen und die kleinen zwitschernden Waldvögel, das Knirschen meiner Schritte, der schwache Wind in den Baumwipfeln. Hellgrüne, nach Knoblauch riechende Blätter sprossen aus dem abgefallenen Laub hervor. Ein aufgeschreckter Vogel schmetterte ein Lied. Wenn der Schlüssel sich problemlos drehen lässt, dachte ich, wenn ich den Herd anbekomme, dann beweist das, dass es richtig war zu bleiben. Der Schlüssel drehte sich schon beim ersten Versuch im Schloss. Ich erkundete noch einmal das Haus und entdeckte jetzt, da ich allein war, ganz neue Dinge; den Korb mit den Zweigen und Holzscheiten neben dem Kamin, den Wäscheschrank im Bad mit den säuberlich gefalteten Laken und Bezügen. In der Speisekammer waren ein Sack mit verschrumpelten, keimenden Kartoffeln und ein paar Konservenbüchsen – Tomaten, Thunfisch, Süßmais. Ich konnte mir eine Mahlzeit bereiten.

Ich beschloss, den Kamin im Wohnzimmer anzuzünden und auf dem gemütlichen Sofa zu schlafen. Ich brachte Laken und ein Federbett nach unten. Sie waren feucht, doch ich könnte sie am Feuer trocknen. Eine Weile suchte ich in den Küchenschubladen nach Kerzen, doch ich fand nur ein angebrochenes Paket Geburtstagskerzen. Egal. Ich würde das Feuer in Gang halten, bis Schlafenszeit war.

Ich entfernte die Asche, dann machte ich mich auf die Suche nach Wasser, weil ich mir die Hände waschen wollte. Mir fiel der runde Wassertank im Badezimmer ein. Lisa hatte den Kaltwasserhahn ausprobiert, aber nicht den Warmwasserhahn, und als ich ihn aufdrehte, gurgelte es erst, dann kam Wasser. Die Tankfüllung war für meine Zwecke mehr als ausreichend.

Als es Abend wurde, zerknüllte ich die auf dem Boden liegenden Zeitungen und entzündete das Feuer mit den letzten Streichhölzern aus dem Döschen, das auf dem Kaminsims lag. Ich legte ein paar Scheite nach, dann stellte ich den Funkenschutz auf. Ich zog die dicken Vorhänge vor und trat auf den Hof. Die Sonne war bereits untergegangen, der wolkenlose Himmel dunkelblau. Die ersten hellen Sterne waren zu sehen. Im Wald krächzten die Krähen, doch ansonsten war es still – friedlich lag das Land unter dem weiten Himmel. Ich pinkelte im Garten und hoffte, dass ich nachts nicht rausmüsste.

Als ich wieder ins Haus ging, konnte ich in der Küche nichts mehr erkennen und musste mich am Tisch und den Stühlen vorbeitasten. Das Kaminfeuer brannte, erfüllte den Raum mit wundervollem Holzgeruch und warf hinter dem Sofa und den Sesseln lange Schatten. Ich hatte bereits alles zusammengetragen, was ich brauchte – Konservenbüchsen und Büchsenöffner, Kochtopf, Löffel, einen Krug mit Wasser. Ich hielt den Topf so lange wie möglich über das Feuer und verzehrte mein Abendessen lauwarm. Von der Hitze glühte mir das Gesicht. Dann schaute ich in die Flammen und machte meinen Geist leer, bis nichts mehr darin war außer diesen roten und gelben tanzenden Gebilden. Als sie erstarben, deckte ich mich mit dem Federbett zu und kuschelte mich zum Schlafen ein, während die Wärme des Kamins über meine Augenlider flackerte.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, doch auf einmal wachte ich auf. Als ich die Augen öffnete, war es dunkel um mich herum. Ich lag still da und rief mir in Erinnerung, wo ich war. Ich wandte mich dem Feuer zu, doch es war erloschen. Ich richtete mich auf und setzte die Füße auf den rauen Teppich. Die Dunkelheit war wie ein erstickender Umhang. Nicht einmal Umrisse waren zu erkennen. Alles war pechschwarz. Ich kam auf die Idee, die Vorhänge zu öffnen.

Ich tappte zum Fenster. Ich ertastete den schweren Samtvorhang und zog ihn beiseite, dann streckte ich die Hand aus und berührte die kalte Fensterscheibe. Aber draußen war es auch nicht heller. Unter lautem Getöse zog ich beide Vorhänge auf, doch es half nichts, da war nichts als Schwärze. Stand vor dem Fenster etwa eine Mauer, die den Himmel verdeckte? Ich zitterte jetzt, tastete mich zum Sofa zurück und hüllte mich ins Federbett. Es war, als wäre die ganze Welt mit Ruß aufgefüllt worden. Ich stellte mir vor, ich wäre lebendig begraben. Egal, wie weit man die Augen aufriss, es blieb stockdunkel. Die Dunkelheit lastete auf dem Gesicht, es gab keinen Ausweg. Was wäre, wenn man es mitbekam, obwohl sie glaubten, sie hätten einen eingeschläfert?

Ich versuchte, vernünftig zu sein. Draußen war es dunkel, weil es hier keine Straßenlaternen und keine Nachbarhäuser gab. Das war gut, keine Lichtverschmutzung. Aber mein Herz klopfte trotzdem so stark, dass ich Brustschmerzen hatte. Ich dachte an das junge Ehepaar, das hier gestorben war. Tot sein bedeutet, dass die Dunkelheit in Augen, Ohren und Mund eindringt und einen in sich selbst einsperrt. Wenn sich wenigstens das Fenster als schwacher Lichtschimmer abgezeichnet hätte. Doch alles war verschwunden. Mir fiel mein Handy ein, dessen Display hell wird, wenn man es berührt. Ich hatte es abgeschaltet, um den Akku zu schonen und weil ich hier kein Netz hatte. Ich tastete auf dem Boden herum, doch es befand sich nicht in meiner Nähe. Ich wagte nicht, mich zu rühren, ich musste still sein und lauschen. Mit jeder verstreichenden Minute erschien es mir unmöglicher, die folgende Minute zu ertragen. Wenn ich das durchstehe, dachte ich … wenn ich nur diese Nacht durchstehe …

Als der Morgen anbrach, taten mir die Augen weh, denn ich hatte sie überanstrengt. Sie spielten mir Streiche, ich sah schwarze Formen in der Schwärze, wogende Schichten von Dunkelheit. Als ich merkte, dass es dämmerte, kuschelte ich mich unter das Federbett und nickte ein.

Ein, zwei Stunden später ging ich nach draußen. Der Morgennebel hing tief, und neue Pfützen hatten sich gebildet. In der Nacht hatte es offenbar leicht geregnet. Das ganze Tal war in eine Wolke gehüllt, nicht einmal Vögel waren zu hören. Vor Übermüdung kam ich mir ausgebleicht und dünn vor. Ich wusste, dass ich mich in der Nacht nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Doch es wäre besser, jetzt einen Rückzieher zu machen, als auf den letzten Drücker wegzulaufen. Dr. Nichol wollte, dass ich mir Gewissheit verschaffte, dabei traute ich mich nicht mal, die Augen zu schließen. Ich fürchtete mich zu sehr vor der Dunkelheit.