19

Ich hätte die Gelegenheit nutzen sollen, als sie sich ergab. Denn leichter wurde es anschließend nicht. Ich nahm mir vor, am Montagabend mit ihnen zu reden. Dann kam Mum spät nach Hause (sie hatte Mandy besucht) und warf Dad irgendwas an den Kopf, ihre Stimmen drangen bis in mein Zimmer. Ich fürchtete, die ganze Sache könnte erneut hochkochen. Als sie sich wieder beruhigt hatten, ging ich in die Küche hinunter.

Dad räumte gerade die Spülmaschine ein, und Mum saß am Tisch und drückte eine Fluppe aus. »Ich möchte euch eine Neuigkeit verkünden«, sagte ich. »Ich habe mich zum Mitmachen entschlossen.«

»Hi, Jess«, sagte Dad. »Hast du Lust, beim Obstsalat zu helfen?«

»Bei dem Programm mit den Leihmüttern.«

Mum blickte mich verständnislos an.

»Die MTS-freie Babys bekommen werden, ihr wisst schon.«

Dad grinste mich an. »Denkst du immer noch an die Seepferdchen?«

»Nein. Ich denke an mich.«

»Ich sollte wieder los«, sagte Mum zu Dad, und er sah auf die Uhr.

»Soll ich dich fahren?«

»Ich packe meine Sachen.« Aber sie blieb sitzen.

»Hört mal zu«, sagte ich. »Ich versuche, euch etwas zu sagen. Ich war in der Klinik und habe mich angemeldet.«

»In welcher Klinik?«, fragte Dad.

»In deiner. Bei Mr. Golding.«

»Was hast du vor?«

»Ich will eine Schlafende Schöne werden, eine mit einem dieser tiefgefrorenen Embryos.«

»Joe? Worum geht es eigentlich?«, fragte Mum.

»Ich habe keine Ahnung. Jessie?«

»Ich habe es schon gesagt. Ich habe mich für das Leihmütter-Programm angemeldet.«

»Ach, Jess. Hör mal, deine Absicht ist löblich, aber der Zeitpunkt ist schlecht gewählt.«

»Ich habe es schon getan. Ich habe mich eintragen lassen.«

»Jessie«, sagte er mit warnendem Unterton. »Es reicht. Deine Mum hat schlechte Neuigkeiten, das ist kein guter Zeitpunkt für eine solche Unterhaltung.«

»Ich dachte, wir wären uns einig …«, sagte Mum.

»Das ist nicht fair«, erwiderte er. »Sie sollte es wissen. Hör zu, Jess, Mandy … Mandy versucht, schwanger zu werden.«

Ich wollte eine Frage stellen, doch er deutete auf meine Mum. »Sag es ihr, Cath.«

»Es geht um Paul«, sagte sie. »Den Pfleger. Mandy hielt es für eine gute Idee, das Implanon zu entfernen und sich schwängern zu lassen. Sie hat geglaubt … sie hat geglaubt, man würde sie das Kind austragen lassen. In ihrem Alter.«

Plötzlich sah ich Pauls selbstgefällig lächelndes Gesicht im Nebel vor mir. Wie er in Mandys Haus verschwunden war. »Sie hatte Sex mit ihm?«, fragte ich, und Mum brach in Gelächter aus, das wie ein Schluchzen klang.

»Ja, Schatz. So werden Babys gemacht.«

»Ist sie wirklich schwanger?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Dad. »Morgen besorgen wir einen Schwangerschaftstest.«

»Aber der schlägt vielleicht noch nicht an«, erklärte meine Mutter. »Selbst wenn das Ergebnis negativ sein sollte, müssen wir den Test in ein paar Wochen wiederholen.«

»Wird sie MTS bekommen?«

Sie sahen einander an. »Also, Jess«, sagte mein Dad behutsam, »was meinst du?«

»Also ja.«

»Mit etwas Glück ist sie nicht schwanger geworden. Aber wenn ja, dann ja.« Er kam zu mir und umarmte mich, küsste mich aufs Haar.

Mum langte in ihre Tasche und holte eine weitere Zigarette hervor. Dad und ich schauten ihr beim Anzünden zu. Ich dachte an Mandy – wie sie glücklich und schön, mit dunkel geschminkten Augen und schimmerndem Haar, auf Paul gewartet hatte. Sie tat, was sie wollte, was war falsch daran? Aber es war so widersprüchlich. Wenn sie grundlos starb – dann wäre alles falsch gewesen.

Von da an ging tatsächlich alles schief.

Mum machte bei Mandy einen Schwangerschaftstest mit negativem Ergebnis und brachte sie zum Arzt, der ihr ein neues Implanon-Implantat einsetzte. Mandy hatte sich das alte mit einer Rasierklinge herausgeschnitten, wie mir Dad erzählte. Er meinte, Mandy sei wütend auf Mum, weil sie Paul gefeuert habe. Jetzt versuchten sie, eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu organisieren, da sie Mandy misstrauten. Wie er meinte, werde diese Lösung nicht von Dauer sein.

Mir wurde klar, dass beide nicht einmal ansatzweise begriffen hatten, was ich ihnen erzählt hatte. Als ich Mum abends im Schlafzimmer schluchzen hörte, wusste ich, dass ich jetzt unmöglich darüber reden konnte. Auch wenn ich versuchte, ein gesundes Kind zu gebären, während Mandy einfach nur Selbstmord begehen wollte. Ich begriff, dass es Mum schwerfallen würde, sich den Unterschied klarzumachen. Dass Mädchen sich für das Programm meldeten, hatte ihr noch nie gefallen – das sah sie anders als Dad.

Ich bekam ein Schreiben von der Klinik mit dem Termin für das Beratungsgespräch, und ich ging hin wie zu einer Prüfung, voller Angst, die falschen Antworten zu geben. Das Beratungszimmer lag auf der obersten Etage; ein stiller, mit Teppichboden ausgelegter, abgeschiedener Ort mit Fluren und geschlossenen Türen. Hier oben war ich noch nie gewesen. Unter mir lagen die Krankenstationen – und im Keller die Labors, in denen Dad arbeitete.

Die Beraterin war um die dreißig. Sie war sehr ernst und sprach mit ausdrucksloser Stimme, als hätte alles für sie die gleiche Bedeutung. Anfangs lief es gut, denn sie erkundigte sich, ob mich jemand bei meiner Entscheidung beeinflusst oder unter Druck gesetzt habe, was ich natürlich verneinte. Dann aber ging es um das Warum. Warum ich das tun wolle? Und als ich meine Gründe darlegte, fragte sie wieder: »Warum?« Warum ich einen Beitrag zum Überleben der Menschheit leisten wolle? Warum ich wolle, dass die Menschen wieder auf natürliche Weise Kinder zeugten? Ich wurde verlegen, wiederholte das Offensichtliche, und sie bohrte immer weiter: »Ja, aber warum?« Ich überlegte, ob ich irgendwas über Heldenmut und meine Bereitschaft zur Selbstaufopferung schwadronieren sollte, doch das war bestimmt nicht das, was sie hören wollte. »Erzählen Sie mir von Ihren Freunden«, sagte sie geduldig. »Was hat sich in Ihrem Leben geändert, das Sie veranlasst hat, sich für das Programm zu melden?« Also erzählte ich ihr von Sal und dass sie sich FLAME angeschlossen habe; von Lisa, deren Mutter gestorben sei und die mir gesagt habe, es sei eine gute Sache, am Leben zu bleiben.

»Sie sagen, beide hatten in ihrem Leben Schwierigkeiten«, sagte die Beraterin. »Glauben Sie, bei Ihnen ist das anders?«

»Wohl eher nicht.«

»Und glauben Sie, das hat etwas damit zu tun? Dass Sie ihnen dadurch, dass Sie sich melden, ähnlicher werden, mit ihnen gleichziehen?«

»Nein. Das ist eine Art Druck, der sich aufbaut – Männer weinen auf offener Straße, meine Tante Mandy bricht zusammen, auf dem Weg hierher waren Polizeisirenen zu hören, und ständig kommen schlimme Meldungen in den Nachrichten … Ich spüre das alles – ich sauge es in mich auf.« Ich verstummte. Wenn ich etwas Falsches sagte, würde sie mich zurückweisen.

Aber sie bedeutete mir, ich solle fortfahren. »Hören Sie – alles, was Sie mir erzählen, ist vertraulich. Meine Aufgabe besteht darin, Ihnen dabei zu helfen, sich alles gut zu überlegen.«

»Manchmal habe ich das Gefühl, mir explodiert der Schädel, und dann würde ich mir am liebsten einen Nagel hineinschlagen …«

»Um Druck abzulassen«, meinte sie leise.

»Ja. Mein Herz schlägt wie verrückt. Und wenn ich daran denke, dass ich mich für das Programm gemeldet habe, und mir vorstelle, wie ich die Injektion bekomme, wie alles von mir abfällt … dann wird mir ganz friedlich zumute.«

»Gibt es keine anderen Möglichkeiten für Sie?«

»Was, zum Beispiel?«

»Sie könnten mit einigen der Not leidenden Menschen, die Sie erwähnt haben, arbeiten – Sie könnten beispielsweise eine Therapeutenausbildung machen und kinderlosen Frauen wie Ihrer Tante helfen …«

»Aber wie kann man ihnen helfen? Niemand kann ihnen geben, was ihnen fehlt.«

»Auch kleine Dinge können hilfreich sein, wie jemanden in den Park zu begleiten, damit er sich die Blumen anschauen kann. Für Ablenkung sorgen.«

»Aber das ertrage ich nicht! Ich ertrage es nicht, klein und langsam und bedeutungslos zu sein. Ich muss etwas tun, das etwas bewirkt …«

»Haben Sie sich schon einmal selbst wehgetan? Haben Sie sich Verletzungen zugefügt?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Aber Sie können nachempfinden, weshalb Menschen so etwas tun?«

Das hier war etwas anderes. Etwas völlig anderes.

»Na schön«, sagte sie sanft. »Es steht mir nicht zu, über Sie zu urteilen.«

»Ich will mich einfach besser fühlen«, erklärte ich. »Ich … ich will nicht, dass es immer so weitergeht.«

Sie nickte.

»Ich will, dass es aufhört.«

Es entstand ein längeres Schweigen, dann erkundigte sie sich nach meinen Eltern. Das war eine Erleichterung für mich; ihre erbärmliche Geschichte herunterzurattern war einfach, und ich hoffte, dass ich dabei vernünftiger und objektiver rüberkam. Schließlich überreichte sie mir eine Karte mit ihrer Telefonnummer und sagte mir, ich könne jederzeit mit ihr sprechen. Mir war unbehaglich zumute; ich hatte den Eindruck, es wäre nichts herausgekommen bei dem Gespräch. Ich hätte nur ein paar Dummheiten gesagt.

»Sie halten mich doch nicht für verrückt, oder?«

Sie lächelte. »Ich glaube nicht an das Verrücktsein.« Wir schüttelten uns zum Abschied die Hand.

Als ich den Flur entlangging, bedauerte ich, ihr gesagt zu haben, dass alles, was die Menschen tun könnten, sinnlos sei – nichts bewirkte etwas, und ihr Leben gerate immer mehr aus den Fugen. Die einzige Lösung ist der Neuanfang. Und die einzige Erleichterung besteht darin, dass man einen Beitrag dazu leistet. Das ist nicht verrückt. Das ist vollkommen vernünftig. Verrückt sind all jene, die im alten Trott weitermachen.

Ich musste aufs Klo, deshalb ging ich automatisch in den Keller hinunter. Ich dachte mir nichts dabei – aber als ich aus der Damentoilette kam, erblickte ich auf einmal Dad, der in sein Labor wollte.

»Jessie, was machst du denn hier?«

»Ich war bei der Beratung.«

Er starrte mich an. »Du kommst besser mit ins Labor.« Ich sagte mir, das sei wohl das Beste, denn früher oder später musste er begreifen, dass es mir ernst war. Außer uns war niemand da, und er setzte Wasser auf und machte Kaffee, während ich mir das große Mikroskop anschaute.

»Darf ich es einschalten?« Er knipste es für mich an, die Beleuchtung ging an, und ich zupfte mir ein Haar aus und legte es unter das Objektiv. Ich versuchte das Bild scharf zu stellen, wie er es mir gezeigt hatte, doch die Vergrößerung war zu hoch, und ich sah nicht einmal den Rand des Haares, nur große, verschwommene Schatten, die alles Mögliche darstellen mochten. Er bot mir keine Hilfe an. »Da«, sagte er und stellte den Kaffee auf den Arbeitstisch. »Mit wem hast du gesprochen?«

»Sie war jung, dunkelbraunes Haar. Sehr ernsthaft.«

»Susie Kenyon. Hast du dich wirklich für das Programm angemeldet?«

»Was glaubst du, weshalb ich mich untersuchen und beraten lasse?«

»Aber …«

»Was, aber?«

»Ich verstehe das nicht. Was ist passiert, als ich weg war?«

»Wie meinst du das?«

»Ist irgendetwas vorgefallen? Was dich dazu gebracht hat? Hat jemand mit dir geredet?«

»Nein.«

»Aber warum tust du das? Das verstehe ich nicht.«

Schon wieder! Immer und immer wieder! »Um einen Beitrag dazu zu leisten, dass MTS aufhört.«

»Hör zu«, sagte er. »Es gibt viele andere Menschen in aller Welt, die sich damit befassen. Wissenschaftler. Menschen, deren Job das ist.«

»Aber bis jetzt hat niemand eine Lösung gefunden, nicht wahr?«

»Das ist nur eine Frage der Zeit.«

»Dad, du hast selbst gesagt, dass sich Mädchen melden müssten und dass man ihnen das hoch anrechnen würde.«

»Jessielein, dabei habe ich doch nicht an dich gedacht! Hör mal, Kleines, wenn du etwas verändern willst, weshalb benutzt du dann nicht deinen Verstand? Wie wär’s, wenn du den Abschluss machen und in die MTS-Forschung gehen würdest? Wenn du einen Beitrag leisten würdest, dieses elende Problem zu lösen, anstatt …«

»Viele Leute forschen. Das hast du selbst gesagt.«

»Es gibt immer Möglichkeiten, den Menschen zu helfen. Überleg dir, wie du einen echten Beitrag leisten kannst, anstatt es bei einer heroischen Geste bewenden zu lassen.«

»Das ist keine Geste

Ehe Dad etwas erwidern konnte, stieß Ali die Schwingtür auf und trat rückwärts ins Labor. Er zog einen Rollwagen hinter sich her. »Alles bestens«, sagte er zu Dad und lächelte mich an.

»Erzähl Jess, was du eben gemacht hast, Ali«, sagte Dad. »Sie interessiert sich brennend dafür.«

Ali verzog das Gesicht. »Interessant würde ich das nicht nennen. Es geht um die Schlafenden Schönen, weißt du. Wir müssen ihnen Blutproben abnehmen.«

»Ist eine ihrer Mütter da?«, fragte Dad.

»Die Eichhörnchenfrau. Hat sich erkundigt, ob sie dem Baby Mozart vorspielen darf.«

»Was hast du ihr geantwortet?«

Ali zuckte mit den Schultern. »Hab gemeint, sie soll eine Schwester fragen. Ich hab nichts dagegen, wenn man ihr ein iPod auf den Bauch klebt.«

»Genau das sind die Mädchen, verstehst du«, sagte Dad zu mir. »Ein Bauch.«

Ich wollte mich von ihm keiner Gehirnwäsche unterziehen lassen. Ich sagte, ich müsse wieder ins College. Er folgte mir über den Flur bis zum Personalausgang. »Es gibt eine Menge, was du an der ganzen Sache nicht verstehst, Jessie. Das ist weder ein guter Zeitpunkt noch der Ort, aber …«

»Okay. Tschüss, Dad.«

»Lass uns am Samstag zusammen wandern.«

»Ist gut.« Ich überquerte die matschige kleine Straße und nahm den Weg, der zwischen den geparkten Autos hindurchführte. Ich winkte ihm. Er stand noch da in seinem weißen Kittel und hielt die Flügeltür auf. Er wirkte ein bisschen bemitleidenswert. Eigentlich hätte ich froh darüber sein sollen, dass er mit mir reden wollte. Wenigstens nahm er mich jetzt ernst.