Dienstag
Jedes Mal, wenn er den Raum betritt, sieht er mich erwartungsvoll an. Als hoffte er darauf, ich wäre zur Vernunft gekommen.
Ich habe beschlossen, nicht mehr mit ihm zu reden. Wenn er mir etwas zu essen oder zu trinken bringt, sagt er Sachen wie zum Beispiel »Komm schon, Jess, lass gut sein« oder »Lass uns darüber reden, einverstanden?«. Dann schaue ich entweder weg oder starre seinen Scheitel an, wie damals in der Schule, wenn wir einen Lehrer ärgern wollten. Diesmal sagt er: »Weißt du, dass du es mir damit leichter machst? Du verhältst dich wie ein schmollendes Kind. Dann spiele ich halt den erbosten Dad.«
Es juckt mich, ihm zu entgegnen: »Das tust du sowieso.« Aber die Genugtuung gönne ich ihm nicht. Als er rausgeht, auf dem Treppenabsatz stehen bleibt und horcht, was ich mache, rühre ich mich nicht und spitze nur die Ohren. Ich hoffe, er schämt sich.
Wenn er hereinkommt, schaltet er immer das Licht ein, und wenn er weg ist, schlurfe ich zum Schalter und schalte es aus.
Ohne Licht wirkt der Raum größer mit seinen Schattenrändern, und das weiche Grau, das durchs Fenster fällt, zeichnet sich als helleres Rechteck auf dem Boden ab. Im Laufe des Tages wandert es von meinem Schlafsack zur Mitte des Teppichs. Meine Augen gewöhnen sich ans Dämmerlicht. Ich habe das Gefühl, die Lichtstrahlen dort draußen anzuziehen und sie gierig aufzusaugen; sie zu nutzen, so wie ein Feuer Luft ansaugt, um die Flammen zu nähren.
Den Raum kenne ich durch und durch. Die nackten Holzdielen entlang der rechten Wand, dort, wo früher das Bett und der Schrank standen. (Das Bett hat Abdrücke von zwei Füßen auf dem verstaubten rosaroten Teppich hinterlassen. Die Abdrücke sind tief und rechteckig, und der Teppich ist an dieser Stelle dunkelrosa, wie der Gaumen.) An der Tür ist der Teppich abgetreten, und das gelbe Gewebe scheint durch. Die Glühlampe, die in der Mitte des Raums an einem braunen Kabel von der Decke hängt, ist ein altmodischer Energieverschwender. Wenn sie nicht brennt, kann ich erkennen, dass die Fassung verrostet und fleckig ist. Ich dachte immer, Glühbirnen halten nur ein paar Monate, aber die hier hängt schon seit Jahren.
Über dem Fenster ist eine Gardinenschiene aus weißem Plastik angebracht. Ich frage mich, weshalb Mum den Vorhang abgenommen hat. Ich weiß noch, dass er mit rosafarbenen und gelben Blumen gemustert war. Was hat sie damit gemacht? Ich wünschte, sie hätte ihn hängen lassen.
Die Tapete hat eine blasse Cremefarbe und war früher mal gelb. Sie hat ein schwaches Fleckenmuster, das man nicht recht erkennen kann. Heute Morgen aber schien ein paar Minuten lang die Sonne, und da leuchteten der rosafarbene Teppich und die gelben Wände, und ich fand mein Gefängnis richtig schön!
Der Ausweg besteht im Lügen. Das geht mir durch den Kopf. Wenn er das nächste Mal reinkommt, sollte ich sagen: »Okay. Du hast gewonnen. Ich werd’s nicht tun.«
Das sollte ich vielleicht ein bisschen ausschmücken. Mich reumütig geben oder so tun, als wäre es mir wie Schuppen von den Augen gefallen oder als wäre mir das Herz gebrochen, und ich hätte resigniert. Ihn davon überzeugen, dass ich es mir anders überlegt habe – dann würde er mich freilassen. Und dann könnte ich tun, was ich für richtig hielte.
Diesen Gedanken wälze ich im Kopf herum, und ich weiß nicht, weshalb ich es nicht fertigbringe. Fürchte ich, er würde mich durchschauen? So wie früher, wenn wir Lügendetektor spielten. Manchmal schlug ich entlegene Fakten bei Wikipedia nach; der Faden des Kokons einer Seidenraupe ist anderthalb Kilometer lang. Richtig! Eine Schnecke legt fünfzehn Meter in der Stunde zurück. Falsch! (Zu langsam.) Der Quell aller Weisheit kennt alle Antworten. Aber er wusste auch Dinge, auf die es im Internet keine Antwort gab: Ich habe gerade Schokokuchen bei Sal gegessen. Falsch! Er merkte es, wenn ich log.
Ich bin kein Kind mehr. Wenn ich in die Einzelheiten gehe und zu planen anfange, macht sich ein hartnäckiger Widerstand bemerkbar. Ich will nicht lügen. Weshalb sollte ich? Wenn er mich zum Lügen zwingt, hat er gewonnen. Ich möchte, dass er versteht, was ich tue, und es akzeptiert.
Diesen Gedankengang durchlaufe ich immer wieder, während ich an den Wänden entlangschlurfe, vom Fenster zur linken Ecke, dann an der Wand entlang, wo sich der dunkelgelbe Umriss des alten Spiegels abzeichnet wie das Gespenst eines zweiten Fensters; dann zur Tür und zum schmierigen Lichtschalter, wobei ich darauf achte, dass ich mir nicht den Zeh an der in die Scheuerleiste eingelassenen Steckdose stoße. Dann fangen die nackten Holzdielen an; um die Ecke herum und vorsichtiger weiter wegen der Splitter, zur nächsten Ecke und dann auf den Teppich und wieder zurück zum Fenster und zum Heizkörper. Ich schlurfe möglichst viel herum, denn ich will meinen Kreislauf in Schwung halten, damit ich mich auf ihn stürzen kann, wenn sich eine Gelegenheit bietet.
Warum ist es okay wegzulaufen, aber nicht zu lügen?
Ich dürfte nicht gezwungen sein zu lügen. Das ärgert mich. Ich höre, wie er die Haustür öffnet und weggeht. Seine Schritte auf den Pflastersteinen des kleinen Vorgartens. Das Klirren des Tors. Es ist hier so ruhig, so still. In gewisser Weise bereitet er mich vor. Verlangsamt mich; schränkt mich ein; wirft mich auf mich selbst zurück.
Vielleicht ist das nötig. Das denke ich manchmal. Vielleicht ist es nötig, dass ich das durchmache, vielleicht war es mir so bestimmt. Damit ich in vollem Bewusstsein handeln kann, anstatt nur aus dem Bauch heraus.
Vielleicht sollte ich gar nicht kämpfen und mich wehren, sondern jeden Schritt so annehmen, wie er sich ergibt, und darauf vertrauen, dass er mich weiterbringt.