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Es passierte etwas Außergewöhnliches, doch es war nicht gut. Als ich am Abend Babys der Woche schaute, hörte ich Mum und Dad in der Küche streiten. Ich stellte den Fernseher lauter, den ich liebe die Sendung. Sie wird von den Müttern für das Leben gemacht. Sie zeigen Fotos der Babys und von deren Müttern, bevor sie schwanger wurden. Jemand, meistens die Mutter einer Schlafenden Schönen, liest ein Gedicht oder aus der Bibel oder dem Koran vor. Man kann sich das Gedicht selbst aussuchen, aber es gibt auch welche, die eigens für den Anlass geschrieben wurden, und das hier mag ich am liebsten:
Schlaf gut, liebe _____, in der kalten, dunklen Gruft.
Du gabst dein Leben tapfer.
Dein leuchtend helles Opfer
Strahlt wie ein Stern im Leben deiner Frucht.
Manche wünschen sich ihren Lieblingssong. Ich stellte mir vor, dass ich in der Sendung wäre, und überlegte, welches Foto von mir sie wohl verwenden würden. Ich schaute mir alle Babys an. Eines sah aus wie ein Äffchen, mit flaumigem schwarzem Haar und ernsten Augen. Ein anderes hatte einen kahlen Kopf und dicke Hamsterbacken. Ich mag es, wenn sie einen mit diesem trüben Blick anschauen, als würden sie sich fragen: »Bin ich jetzt auf der Welt?« Nach den Babys kamen weitere Nachrichten: Brandstiftung, Selbstmorde, Hungersnöte und Kämpfe, wie gewöhnlich; ein Putsch in Malaysia, Notstand in Pakistan, Unruhen in Washington; Angriffe auf die Wohnhäuser britischer Forscher, die Tierexperimente durchführten; Terrorverdächtige, die gegen die Inhaftierung ohne Prozess Berufung einlegten; ein neues chinesisches Programm für die Anwerbung Schlafender Schöner, dem sich pro Woche fünftausend junge Frauen anschlossen; die Verlegung von Arbeitskräften in den Pflegedienst; Überschwemmungen in Indien; und natürlich ein Beitrag über eine gesunde Schwangere in Nigeria, die an einem geheimen Ort von ihren Unterstützern am Leben erhalten werde. Es gab immer eine solche Meldung, aber seltsamerweise wurde die Frau nie gezeigt, und man erfuhr auch nie, dass sie ihr Kind zur Welt gebracht hätte. Es waren alle möglichen Gerüchte in Umlauf, wie Frauen ihre Schwangerschaft angeblich überlebt hatten: mithilfe von Diäten, speziellen Kräutern, unablässigen Gebeten an die Jungfrau Maria, mit Kannibalismus, einer sterilen Umgebung, unter Wasser, Meditation, Hypnose, Voodoo, Akupunktur, Fasten, dem Aufenthalt in großer Höhe, Blutopfern an die Muttergöttin. Merkwürdig nur, dass man diese gesunden Schwangeren nie zu Gesicht bekam!
Ich verlor das Interesse, und jetzt hörte ich, dass Mum und Dad keinen gewöhnlichen Streit hatten. Mum weinte, weshalb sie schwer zu verstehen war. Ich hätte es dir nicht zu sagen brauchen? Ich stellte den Ton ab und schnappte meinen Namen auf; Dad mit gesenkter Stimme: Weiß Jessie davon? Dann zerschellte ein Teller auf den Fliesen. Ich schlich mich zur Tür und legte das Ohr daran.
»Du hast mich nie angeschaut …«
»Dann ist es also meine Schuld. Wie du es auch drehen und wenden magst, Cath ist das Opfer …«
»Nein … hör zu … Joe …«
»Weshalb sollte ich dir zuhören? Weshalb sollte ich mir auch nur ein einziges Wort von diesem verlogenen Scheiß anhören?«
Es folgte eine grauenhafte Stille, und ich spitzte die Ohren, hörte aber trotzdem nichts – dann wurde die Küchentür aufgerissen, Schritte im Flur, die Haustür wurde zugeworfen, und der Wagen sprang mit brüllendem Motor an.
Ich erstarrte, wartete auf das nächste Geräusch, doch da kam nichts. Dad war weg. Auf Zehenspitzen schlich ich nach oben. Ich wusste, worum es gegangen war, und wollte Mum nicht unter die Augen treten. Ich schloss hinter mir leise die Zimmertür und setzte den Kopfhörer auf, damit ich sie nicht hörte, wenn sie mich rief. Ich wusste schon seit Wochen Bescheid. Ich hätte dem Ganzen ein Ende machen können – ich hätte Mum sagen können, dass ich Bescheid wusste, hätte sie unter Druck setzen können, damit sie es Dad erzählte. Aber ich hatte es lieber verdrängt (der Zettel in der Tasche? Die neue Hose? Der freie Tag mit den »Kollegen«?), als hätte es nichts mit mir zu tun. Weiß Jessie davon? Wollte er wissen, ob ich Bescheid wusste? Wenn er nun glaubte, ich wüsste etwas und würde es vor ihm geheim halten, weil ich mit Mum unter einer Decke steckte?
Natürlich glaubte er das. Jetzt, da er über vereiste Straßen jagte und die schwarze Nacht an den Fensterscheiben vorbeibrauste, würde er sich die gleichen Gedanken machen wie ich – die Spätschichten in der Klinik, die schicken Klamotten, die angeblichen Treffen mit Mandy –, und er würde glauben, ich wüsste Bescheid und würde ihr helfen, ihre Lügen zu bemänteln. Er würde glauben, ich wäre ebenso schlimm wie sie.
Ich wollte mitbekommen, wann er zurückkam. Ich nahm den Kopfhörer ab, schaltete das Licht aus und legte mich ins Bett. Irgendwann kam Mum die Treppe hoch. Sie verharrte eine Ewigkeit lang im Flur, dann ging sie ins Bad und anschließend auf ihr Zimmer. Das Flurlicht hatte sie angelassen. Ich lag stocksteif da und horchte auf den Wagen, versuchte ihn dazu zu bewegen, auf unsere Straße einzubiegen. So lag ich stundenlang da und stellte mir vor, wie Dad von der Straße rutschte, wie schwarzes Wasser über dem Wagendach zusammenschlug, während die Scheinwerfer verdutzte Fische beleuchteten, unten am schlammigen Grund des Flusses.
Ich überlegte, ob ich ihn ansimsen oder anrufen sollte, fürchtete aber, damit einen Unfall zu provozieren, falls er noch unterwegs war. Die ganze Nacht lag ich wach, und als Mum morgens leise an meine Tür klopfte und sie dann öffnete, tat ich so, als würde ich schlafen. Irgendwann hörte ich sie aus dem Haus gehen. Als ich nach unten kam, hatte sie mir einen Zettel hingelegt: Sie werde um sieben nach Hause kommen und dann kochen. Kein Wort zu Dad. Wahrscheinlich hoffte sie, er werde wieder auftauchen und den Zettel sehen.
Nach dem Duschen zog ich frische Wäsche an. Ich hatte keine Ahnung, ob sie sich getrennt hatten. Einerseits wollte ich es wissen, gleichzeitig aber war es mir egal. Ich starrte eine Weile das Handydisplay an, dann simste ich: »Dad alles OK? xoxoJ« Als ich am College ankam, war noch keine Antwort eingetroffen, deshalb stellte ich das Handy stumm. Den ganzen Tag lang antwortete er nicht. Und Sal war nicht zu den Vorlesungen erschienen.
Als ich heimkam, war alles unverändert. Ich wollte nicht mit Mum zusammen essen, deshalb machte ich mir ein Sandwich und nahm es mit aufs Zimmer. Ich rief in Dads Labor an, doch dort nahm niemand ab. Nach einer Weile rief ich ihn auf dem Handy an, doch es schaltete sich gleich die Mailbox ein. Das war seltsam, denn bisher hatte er es noch nie abgestellt.
Als Mum nach Hause kam, rief ich nach unten, ich hätte schon gegessen. Sie kam hoch und klopfte bei mir an, und ich sagte, ich wolle nicht reden. Sie öffnete die Tür trotzdem.
»Hast du von Joe gehört?«
»Nein.« Ich konnte sie nicht ansehen.
Den ganzen Abend blieb ich auf meinem Zimmer. Ich hörte, wie Mum unten umherging, und als ich sie reden hörte, öffnete ich die Tür und lauschte. Doch sie unterhielt sich nur mit Paul, dem Pfleger. Sie erkundigte sich, ob Mandy gegessen habe und ob er mit ihr spazieren gewesen sei. Als sie mit Mandy sprach, war ihr Tonfall aufgesetzt munter: »Prima, gut gemacht! Ich bin ja so froh.« Dann kehrte im Haus wieder Stille ein. Alles wartete auf das Klingeln des Telefons oder das Brummen eines Automotors in der Einfahrt.
Mum blieb bis Mitternacht auf; nach dem Aufenthalt im Bad stand sie eine Weile lauschend vor meiner Tür. Ich rührte mich nicht, bis sie auf ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss.
Mein Fenster stand offen, und ich hörte die auf der Hauptstraße vorbeifahrenden Autos. Es waren nicht viele, und seins war nicht darunter. Da waren noch viele andere Geräusche, das Ticken und Klicken des abkühlenden Heizkörpers; der Ruf einer Eule, das Rauschen in der Leitung, als nebenan jemand das Wasser aus der Wanne ließ. Wenn er einen Unfall gehabt hatte, hätte jemand ihn gefunden und ins Krankenhaus gebracht; dort hätte man in seiner Brieftasche nachgeschaut, und die Polizei hätte die Angehörigen verständigt. Er hatte keinen Unfall gehabt. Er wollte nur seinen Aufenthaltsort nicht preisgeben.
Ich dachte daran, wie wir uns beim YOFI-Treffen verkleidet hatten und umhergetanzt waren, wie ich mich in dem blauen Kleid um die eigene Achse gedreht hatte. Ich dachte an die jungen Frauen, die ihr Leben opferten. Wie klar und einfach und gut war das doch im Vergleich zu dem blödsinnigen Durcheinander der Ehe mit ihren ganzen Lügen und Streitereien. Warum antwortete er nicht auf meine SMS? Er ahnte bestimmt, dass ich über Mum Bescheid wusste. Vielleicht wollte er mit uns beiden nichts mehr zu tun haben.
Irgendwann nach fünf war ich wohl eingeschlafen, denn als die Ziffern auf halb zehn umsprangen, erwachte ich jäh. Mum war weggegangen und hatte wieder auf einen Zettel geschrieben, dass sie abends kochen wolle. Mir juckten die Augen, und vor Müdigkeit hatte ich Kopfschmerzen, doch ich wollte nicht zu Hause bleiben. Ich überlegte, ob ich mit Sal sprechen sollte, befürchtete aber, sie könnte einfach sagen: »Na und?« Und sie hätte recht damit – was machte es schon, wenn sie sich trennten? Ihre Eltern hatten sich auch getrennt, so etwas kam vor. Dumme Erwachsene; ihre Tage waren gezählt.
Ich erwischte den Bus zum College und setzte mich oben in die vordere Sitzreihe. Der Himmel war bewölkt, und durch das Fenster wirkte alles flach und nüchtern, wie ein Tatort. Wie ein Ort, der darauf wartete, dass sich etwas Schlimmes ereignete. Wie ein eingefrorener Trickfilm. Ich dachte, eine Schlafende Schöne merkt von alledem nichts. Tot zu sein, der Zustand des Totseins, wäre okay – genau das Gleiche wie vor der Geburt. Ein traumloser Schlaf. Ich traute es mir zu – dann käme nichts mehr an mich heran. Kein Ärger mehr über dumme Eltern, keine Verschwendung mehr von Energie und Gefühlen. Nur noch Friede und Ruhe. Dann auf einmal sah ich Dad. Er ging allein über den Gehsteig, und hinter ihm näherte sich der Bus. Ich erkannte ihn an den Schultern und seinem ausgreifenden Gang. Als ich hochsprang und der Bus an ihm vorbeifuhr, sah ich sein Gesicht. Es war gar nicht Dad. Es war ein Mann mit Schnäuzer.
Ich ließ mich in den Sitz zurückfallen, das Herz trommelte mir gegen den Brustkasten. Wollte Dad sich vielleicht umbringen? Der Gedanke tauchte auf, bevor ich ihn verdrängen konnte. Vielleicht war das der Grund, weshalb er nicht mit mir sprechen wollte – er hatte die Hoffnung verloren. Wegen Mum, wegen MTS, weil alles schiefgegangen war. Ich rief erneut sein Handy an. Er ging nicht dran. Ich dachte an den Abend, als er und Mum Mandy in unser Haus gebracht hatten. Sie hatten sie in die Mitte genommen und mussten sie halb tragen, und Mum hatte sie im Gästezimmer ins Bett gelegt. Dad hatte an der Spüle gestanden und wie hypnotisiert den Wasserkessel angestarrt, als könnte er darin die Zukunft lesen. Und jetzt glaubte er, auch ich hätte ihn verraten. Er musste glauben, wir hätten keine Ahnung, wie es in ihm aussah, und er wäre uns egal, weil wir nicht einmal versucht hatten, ihn zu finden.
An der Guide Bridge stieg ich aus und fuhr mit der Bahn in die Stadt. Vom Bahnhof aus fuhr ich mit dem Bus zur Klinik. Er war doch bestimmt zur Arbeit erschienen? Auf dem Parkplatz hielt ich Ausschau nach unserem Wagen, doch ich sah ihn nicht. Den Laboreingang konnte ich nicht benutzen, denn ich kannte den Zahlencode nicht. Ich musste das Gebäude an der anderen Seite durch den Vordereingang betreten. Der Wachmann musterte mich argwöhnisch, doch als ich ihm meinen Namen nannte, grinste er und nickte. »Hab Sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen!« Als ich im Gebäude war, wurde ich ruhiger; auf dem Flur war es still, an jeder Tür stand ein Name – ich begegnete einer Krankenschwester mit einem Tablett, sie zwinkerte mir zu. Als ich über die Treppe zu den Labors hinuntereilte, stieg mir der wohlbekannte Geruch in die Nase. Er erinnert ein bisschen an Alkohol und macht die Nase frei. Ein warmer Geruch, der den dunklen Duft der Holztische betont. Hier würde ich Dad bestimmt finden.
Doch er war nicht da. Die Tür zu seinem Labor war verschlossen – kein Dad, kein Ali. Ich versuchte, durch das kleine Gitterdrahtfenster zu spähen, doch im Labor war es dunkel, und ich sah nur mein eigenes Spiegelbild. Auch der Flur lag verlassen da; kein Mensch in Sicht, bei dem ich mich hätte erkundigen können. Ich musste wieder nach draußen gehen, zurück in den kalten, grauen Tag, ohne zu wissen, was ich tun sollte.
Ich marschierte zurück in die Stadt, und jetzt war ich verärgert. Das Ganze war idiotisch. Es war idiotisch gewesen, hierherzukommen und nach ihm zu suchen. Natürlich war er nicht auf der Arbeit – wenn er dort erschienen wäre, hätte Mum mit ihm gesprochen. Und er würde sich auch bestimmt nicht umbringen, der alte Zyniker – er lachte sogar über die Selbstmörder, die dem Sensenmann die Arbeit abnahmen. Weshalb verschwendete ich meine Zeit damit, ihm hinterherzulaufen und mir Sorgen zu machen, wenn er fortgegangen war, ohne einen Moment an mich zu denken? Wahrscheinlich besuchte er einen alten Freund oder war im Britischen Museum oder in irgendeiner fantastischen Bibliothek. War er dermaßen wütend auf Mum, dass ich ihm egal war? Wenn er mich im Stich ließ, konnte ich auch ihn im Stich lassen.
Weil ich hungrig war, bestellte ich mir bei The Eighth Day einen Räuchertofuburger und einen Aprikosenshake und nahm beides mit in den Bus. Der Aprikosengeschmack überschwemmte mich, Orange mit Hyazinthe, irgendwie sandig am Gaumen. Ich bedauerte, dass ich nicht gleich zwei Shakes gekauft hatte.
Als ich am College ankam, blieb mir bis zum Beginn der Geschichtsvorlesung noch eine halbe Stunde Zeit. Ich machte einen Schlenker an den Musikräumen vorbei und hatte Glück: Baz saß im Übungsraum am Flügel. Er schaute hoch und grinste, spielte aber weiter – ich trat in eine Sturzflut flirrender Töne hinein.
Ich wollte ihm von meinen Eltern erzählen. Warum auch nicht? Sein Dad konnte wenigstens nichts dafür, dass er verrückt geworden war; meine Eltern spielten verrückt, ohne eine Entschuldigung zu haben. Weshalb hätte ich sie in Schutz nehmen sollen? Baz beendete das Stück und sprang von der Klavierbank auf. »Nat weiß jetzt, was in Wettenhall vorgeht!«
»Was, wo?«
»In dem Tierlabor in der Nähe von Chester, bei dem sie Nachforschungen angestellt haben. Sie haben es geschafft, dort reinzukommen.«
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, wovon er redete, doch wie sich herausstellte, hatten die Tierbefreier von ALF schon lange versucht, dort einzudringen, und jetzt war es ihnen gelungen, die Tiere zu filmen, vollgestopft mit Medikamenten, gespickt mit Schläuchen und Kabeln, gefesselt und fixiert.
»Aber was tun die Forscher da? Es muss doch einen Grund geben.«
»Welche Entschuldigung kann es dafür geben? Ich fahre dorthin, sobald sich die Lage zu Hause beruhigt hat …«
»Was ist passiert?«
»Er ist im Krankenhaus. Mum war dagegen, aber ich habe trotzdem den Arzt alarmiert, und daraufhin haben sie ihn mit dem Krankenwagen abgeholt. Er war dermaßen außer sich, dass er erst mitbekam, was da vorging, als sie ihn schon rausgebracht hatten.«
»Wie geht es ihm?«
Baz zuckte mit den Schultern. »Mum besucht ihn zweimal täglich. Sie meint, er wäre ruhiger geworden. Ich weiß es nicht.« Er sah auf die Uhr. »Ich muss los. Sie kommt bald nach Hause.« Er nahm das Metronom vom Flügel und verstaute es in seinem Rucksack.
»Baz?«
»Ja, die wissen, dass ich’s mitnehme. Meins ist kaputt, und ich bereite mich gerade auf eine Prüfung vor.« Er wandte sich zur Tür. »Mum regt sich schnell auf, ich sollte besser zu Hause sein, wenn sie heimkommt.«
Ich begriff, dass seine Mutter ebenfalls einen Knacks hatte. Ich begleitete ihn zum Spielfeldausgang und verabschiedete mich dort von ihm. Checkte mein Handy. Ich hatte ihm nicht von meinem Dad erzählt; er hatte auch so schon genug um die Ohren. Und sobald es seinen Eltern besserginge, würde er sich Nat anschließen und Tieren das Leben retten.
Sal hatte sich nicht wieder im College blicken lassen – sie hatte die ganze Woche gefehlt, doch ich war mir ziemlich sicher, dass sie aus Birmingham zurück war, deshalb ging ich auf dem Heimweg bei ihr vorbei. Sie war zu Hause und schaute gerade eine DVD. Sie drängte mich ins Wohnzimmer und wollte den Film neu starten. »Den musst du sehen, Jess, unbedingt. Das ist grauenhaft.«
Ich wollte keine DVD gucken, ich wollte mit ihr reden, doch es war aussichtslos. Der Film lief, bevor ich überhaupt zu Wort gekommen war. Und der Film handelte von – nun, inzwischen haben ihn alle gesehen. Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nicht einmal davon gehört. Sal hatte ihn von den FLAME-Frauen bekommen. Es war die aufwühlendste DVD, die ich in meinem ganzen Leben je gesehen hatte. Der Film handelte von mehreren Frauen, die MTS hatten. Aber das war kein Film im Stil »Tagebuch einer Kranken«, wo man zusammen mit der betroffenen Frau, die verschiedene Behandlungen ausprobiert und auf einen guten Ausgang hofft, alle Stadien des Zweifels und der Angst durchleidet. Denn auch wenn sie am Ende stirbt, hat sie doch etwas gelernt und einen etwas gelehrt. So war das nicht. Es wurden nicht mal die Namen der Frauen genannt, sie wurden einfach nur in ihrem kranken Zustand gezeigt. Wie sie gegen Möbel stoßen. Schimpfen. In einem fort dieselben Worte wiederholen. Zusammenbrechen und Anfälle bekommen. Frauen zu Hause, in Krankenhäusern, in verschiedenen Ländern, auch im Freien, auf dem nackten Boden liegend. Tote Frauen. Die Frauen werden nicht gezeigt wie Menschen, an denen man Anteil nimmt, sondern wie Tiere, in schockierendem Zustand, nackt, sich übergebend. Man sagt, das sei pornografisch. FLAME sagt, das zeige die Realität, die die Menschen nicht wahrhaben wollten und lieber mit Blumen bemäntelten.
»Das wird ihnen die Augen öffnen«, sagte Sal.
»So ist es nicht mehr. Die MTS-Frauen werden eingeschläfert, niemand braucht mehr so schrecklich …«
»Eingeschläfert?«, schrie sie. »Eingeschläfert? Wir reden hier nicht von altersschwachen Haustieren, wir reden von jungen Frauen. Von Frauen, die sterben. Wenn man nicht mit ansehen muss, wie sie verrückt werden, dann ist es also okay, oder?«
Darauf wusste ich nichts zu erwidern.
»Wir werden damit eine Kampagne starten – wir werden sie dazu zwingen, uns zur Kenntnis zu nehmen. Stell dir doch mal vor, es wären Männer, die auf diese Weise sterben. Glaubst du, dann würden wir noch immer auf ein Heilmittel warten?«
Als der Film zu Ende war, fühlte ich mich elend, und Sal war total überdreht. Ich verabschiedete mich, damit sie mit ihren Freundinnen von FLAME telefonieren konnte. Ich schaute erst aufs Handy, als ich zu Hause war, doch das nutzte nichts, ich hatte noch immer keine SMS bekommen. In der Küche roch es unangenehm, und als ich in den Abfalleimer sah, entdeckte ich darin einen Haufen Kippen. Mum hatte mir versichert, sie habe mit dem Rauchen aufgehört. Das hätte ich mir denken können. Mit den neuen Klamotten war es das Gleiche; ich wusste genau, dass die graue Wolljacke auf dem Treppengeländer aus dem aktuellen Sortiment von Jigsaw stammte. Eine angeblich gebildete, intelligente Person. Wenn es nicht reichte, es ihr zu erklären und sie zu bitten, welche Hoffnung bestand dann überhaupt?
Als Mum heimkam, versuchte sie, mich zum Abendessen zu überreden. Sie lief mir bis in mein Zimmer nach. »Ich weiß, du machst dir Sorgen wegen Joe, Jessie, das tue ich auch. Aber diese Stimmung im Haus macht alles nur noch schlimmer.«
»Dein Qualmen vergiftet die Atmosphäre ebenfalls«, erwiderte ich.
Sie ging auf ihr Zimmer und machte dort keinen Mucks. Ich fragte mich, ob sie weinte. Ich wusste, ich war schrecklich. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag ungeschehen gemacht, ich wünschte, ich wäre jemand anders. Sal war bei FLAME, Baz ging weg, und Dad hielt es für richtig, meine Anrufe zu ignorieren.
Ich schaltete das Licht aus, zog den Vorhang auf, legte mich hin und schaute zur Buche auf. Das Geäst hob sich schwarz vom Himmel ab. Die unteren Äste schimmerten schwach orange, was von der Straßenbeleuchtung kam. Der Himmel war dunkel, weder Mond noch Sterne waren zu sehen – nur Wolken, welche die Lichtverschmutzung reflektierten. Ich kam mir vor wie ein Tier im Käfig. Egal in welche Richtung ich mich wandte, überall stieß ich an. Es gab nichts, was ich hätte tun können – ich war ohnmächtig. Ich musste einen Ausweg finden.
Bevor ich wusste, woran es lag, ließ der Druck in meinem Kopf nach. Ein Lichtschimmer. Das war die Freiheit, die ich an dem Abend des blauen Kleids verspürt hatte. Als ich mir vorgestellt hatte, wie es wäre, mich freiwillig zu melden. Wie erfreut Dad wäre, wenn ich mich meldete (stellte ich mir vor). Dann könnte er mir nicht mehr böse sein, er würde einsehen, dass ich mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt gewesen war als mit Mums blöder Affäre. Er wäre stolz auf mich. Ich hörte ihn beinahe sagen: »Mein tapferes Jessielein!«
Wie verrückt, verrückt, verrückt mir das jetzt vorkommt. Aber so dachte ich. Ich lag reglos und schwer atmend da und ließ mich aufs weite Meer hinaustreiben, das sich vor mir auftat. Bereit, etwas zu tun, das keinen wirren Streit und Kompromisse zulassen würde. Etwas zu tun, das etwas bewirken würde. Etwas, das in meiner Macht lag und wobei ich nicht auf die Hilfe anderer angewiesen wäre. Etwas, das meinen Dad stolz machen würde. Ich zog Kissen und Federbett vom Bett und deckte mich auf dem Boden zu, damit ich weiter die Buche anschauen und die sich entfaltende Freiheit genießen konnte. Die Freiheit zu handeln. Die Freiheit, einen eigenen Entschluss in die Tat umzusetzen.