Freitagmorgen

Beim Aufwachen habe ich einen klaren Kopf. Heute ist der Tag. Heute muss es enden. Mir tun Füße und Beine weh, und ich habe steife Knöchel. Meine Kleidung ist widerlich. Als er mir das Frühstück bringt, frage ich ihn, ob ich baden darf.

»Selbstverständlich.« Er geht ins Bad und lässt Wasser ein. Als ich den braunen Toast mit der Pflaumenmarmelade verzehrt habe, quillt schon der Dampf ins Zimmer, und er stellt das Wasser ab und kommt mit dem Schlüssel für das Fahrradschloss zurück. »Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst.«

»Ich werde keine Dummheiten machen.«

Er öffnet das Schloss. Ich massiere mir die Fußknöchel, dann versuche ich aufzustehen. Ich bin so krumm und wackelig wie eine alte Frau. Er muss mich am Ellbogen stützen, ich kann kaum gehen.

»Das heiße Wasser wird dir guttun«, sagte er. »Du hättest schon gestern baden sollen. Ich hab dir frische Sachen ins Bad gelegt.«

Er stützt mich bis zur Badezimmertür, dann tritt er zurück und schließt die Tür. Ich lege den kleinen Riegel vor. Jetzt bin ich allein.

Eine Wonne.

Eine Wonne, mir die stinkenden Sachen auszuziehen und die Hand durchs zu heiße Wasser zu schwenken. Zu beobachten, wie die kalte Luft brodelt und mir die Dampfwolken ins Gesicht schlagen. Mich am Wannenrand festzuhalten und versuchsweise erst den einen kraftlosen Fuß ins Wasser zu tauchen – zu heiß, aber okay – und dann den anderen. Langsam ins Wasser zu gleiten, so wie sich eine hektische Henne auf ihrem Nest niederlässt, und die wundervolle Wärme des an meinen Körper schwappenden Wassers zu spüren, das mich rosig färbt wie eine Krabbe. Der dumpfe Schmerz in den Knöcheln löst sich von den Knochen und verflüchtigt sich.

Ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter, lehne ich mich zurück, bis ich bis aufs Gesicht ganz mit Wasser bedeckt bin. Das Wasser hüllt mich ein, umfängt und liebkost mich wie warme Seide. Das ist das tollste Bad meines Lebens. Ich schaue in den Dampf und überlege, was Dad jetzt wohl macht. Ich stelle mir vor, dass er auf der obersten Treppenstufe sitzt (für den Fall, dass ich herausgestürzt komme und wegzulaufen versuche), die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf auf die Hände. Wie er dumpf die Tapete anstarrt. Verunsichert. Unglücklich. Ich muss ihn da rausholen, muss ihn vor sich selber retten.

Mir wird zu heiß. Langsam hebe ich nacheinander meine steifen Glieder an, Bein, Bein, Arm, Arm, und halte sie genussvoll in die vernebelte Luft, um sie abzukühlen. Mein Körper ist warm und gesund und strotzt vor Lebendigkeit. Ich habe das Sagen. Ich habe die Macht, denn ich bin diejenige, die weiß, was zu tun ist.

Als ich mich gewaschen habe, steige ich aus der Wanne und wickele mich in das alte, wohlvertraute Handtuch. Es ist das grün gestreifte von zu Hause – hat Mum es ihm eingepackt? Ich stelle mir vor, wie sie die Sachen in den Kofferraum gepackt haben, als wollten sie Urlaub machen. Aber ihre Gesichter waren grimmig und grau, ihre Stimmen gepresst und gedämpft … Ich will nicht daran denken. Das Problem ist, es ist nicht genug Luft im Bad, der Dampf ist erstickend. Je länger es andauert, desto schlimmer wird es für sie. Ich muss ein Ende machen. Ich klettere auf den Rand der Badewanne, um das kleine Fenster zu öffnen, und habe einen Geistesblitz. Okay, ich kann es tun. Ich kann ein Ende machen.

Ich trockne mich rasch ab und ziehe saubere Sachen an. Er hat mir ein blaues T-Shirt von Mum hingelegt, aber es passt mir ganz gut. Ich ärgere mich nicht darüber, dass meine Schuhe fehlen – aber es hätte sowieso keinen Sinn gehabt, sie anzuziehen, wenn ich nur baden wollte. Als ich fertig angezogen bin, klappe ich den Toilettendeckel herunter, setze mich darauf und denke nach.

Alles Bewegliche im Raum ist aus Plastik. Es gibt nichts, womit ich das dicke, wolkige Fensterglas zerschmettern könnte. Denk nach. Schau dich um. Noch einmal. Über der Wanne, etwa dreißig Zentimeter unter der Decke, ist ein gebogenes Metallrohr für den Duschvorhang angebracht. Nicht dass Oma jemals in der Wanne geduscht hätte. Aber die Stange ist da, über den Wasserhähnen festgedübelt. Dann führt sie an der Wanne entlang, knickt ab und ist am anderen Ende ebenfalls befestigt. Ich stelle mich auf den Wannenrand und betrachte das Rohr. Vielleicht kann ich die Schrauben lösen. Das Metall ist matt und schmutzig, die Schrauben auf den Kacheln sind verrostet. Dann entdecke ich eine Nahtstelle. Das Rohr besteht aus drei Teilen; aus zwei geraden und einem gebogenen Eckstück. Ich balanciere zur Ecke der Wanne und versuche, das Rohr zu verbiegen. Ich packe es an beiden Seiten der Nahtstellen, dann gibt es auf einmal ein bisschen nach. Noch ein Ruck, und ich kann es auseinanderziehen. Jetzt lässt sich auch die andere Nahtstelle bewegen und das Eckstück herausziehen. Die langen, geraden Rohrteile sind noch an der Wand befestigt. Dad klopft an die Tür. »Jess? Bist du fertig?«

»Gleich.«

Mit dem gebogenen Rohr springe ich auf den Boden. Es ist innen hohl, deshalb ist es relativ leicht – aber wenn ich genug Kraft dahinterlege … Ich schwinge das Rohr versuchsweise hin und her, dann schmettere ich es mit aller Kraft gegen das Fenster. Es knackt, das Glas bekommt Risse.

»Was machst du da?«

»Ich habe nur …« Ich betätige die Toilettenspülung, damit er mich nicht versteht, und schlage erneut zu. Das Glas zerbricht. Ich steige auf die Wanne und spähe nach draußen; es ist ein weiter Weg bis zum Boden. Im Film wäre jetzt ein Regenrohr in Reichweite, an dem ich hinunterklettern könnte, doch in diesem Fall befindet es sich wohl an der anderen Hausseite.

»Jessie!«, ruft er. »Jessie, lass mich rein!«

In der Unterseite des Fensterrahmes steckt noch eine große, dreieckige Scherbe. Ich fasse sie mit Daumen und Zeigefinger und ziehe vorsichtig daran. Ja, sie lässt sich herausziehen. Die Scherbe ist schwer. Ein langes, scharfes Dreieck, an dessen Unterseite noch der Kitt haftet.

Er hämmert gegen die Tür. »Da kommst du nicht raus. Mach dich nicht lächerlich! Lass mich rein!«

Kalte Luft strömt durchs Fenster herein, mein Kopf wird klarer. »Ich will nicht rausklettern«, sage ich. »Beruhig dich, lass mich die Zähne putzen.« Ich lege die Glasscherbe weg und drehe das Wasser auf. Mit dem spitzen Ende streife ich über meinen Daumen. Scharf. Die gerade Kante mit dem Kitt ist stumpf, aber es wäre nicht gut, wenn das ganze Ding in Stücke brechen würde. Ich versuche, das gerade Ende durchs Handtuch hindurch zu packen, aber es ist zu unförmig. Mein schmutziges T-Shirt ist dafür besser geeignet.

»Jessie, es reicht. Mach die Tür auf, sonst trete ich sie ein.«

»Ich sitze gerade auf dem Klo.« Ich muss das Überraschungsmoment für mich nutzen. Ich weiß, was ich tue, es fällt mir zu, gerade wie ich es brauche, ich kann darauf vertrauen. Ich werde ihn überlisten und entkommen. Die Waffe in der Rechten, betätige ich mit der Linken die Spülung und ziehe gleich darauf den Türriegel zurück. Ich reiße die Tür auf, und er steht direkt vor mir. Mein Glasdolch zielt auf seinen Bauch.

»Jess …«

»Hör mir zu.«

»Leg das weg, bevor du dich schneidest.«

»Hör zu!« Ich trete vor, berühre ihn fast mit der Scherbe. Er hebt die Hände an, beinahe hätte er gelächelt. Es ist richtig komisch, er wirkt wie ein schlechter Schauspieler in einem Western. »Wenn du nicht tust, was ich dir sage, steche ich zu.«

»Das würdest du nicht wagen«, sagt er und bewegt die Rechte seitlich zum Glas, um es mir abzunehmen. Ich lasse nicht los. Er reißt seine Hand weg. Er gibt keinen Laut von sich, sondern starrt nur die hellrote Linie an, die sich auf seiner Handfläche gebildet hat.

Es dreht mir den Magen um, doch ich muss weitermachen. »Siehst du, es ist mir ernst. Geh rückwärts ins Schlafzimmer.«

»Sieh mal«, sagt er und streckt die Hand aus. Der Schnitt blutet jetzt, Blut tropft auf den Boden, Tropfen um Tropfen, immer schneller. Hoffentlich habe ich keine Arterie getroffen. Ich muss ein Ende machen.

»Mach schon«, sage ich.

»Hör auf, Jess, du hast mich verletzt.«

»Willst du, dass ich dich töte?« Ich bewege die Scherbe, bis sie sein Hemd berührt. Ich habe Angst, in Tränen auszubrechen. Er weicht einen kleinen Schritt zurück. »Gut so. Geh weiter.«

Langsam geht er rückwärts ins Schlafzimmer, dicht verfolgt von meinem Dolch. Ich bin okay. Ich habe alles unter Kontrolle. Als wir durch die Tür durch sind, sehe ich genau das, was ich mir erhofft habe – die Fahrradschlösser liegen noch dort, wo er sie aufgeschlossen hat. »Nimm die Schlösser«, sage ich. »Schön langsam.« Er bückt sich und hebt beide mit der Linken hoch. Die Rechte hält er von sich weg, das Blut tropft noch, aber vielleicht etwas langsamer als gerade eben. »Und jetzt ins Bad«, befehle ich ihm. Langsam geht es zurück. Im Bad befehle ich ihm, sich ein Schloss um den Fußknöchel zu winden, so wie er es bei mir getan hat. Seine Beine und seine Hosen sind dicker, deshalb passt es nur zweimal darum.

»Okay, und jetzt schließ ab. Und jetzt das andere Schloss hinter dem Handtuchhalter durchführen, dann durch das Schloss an deinem Bein und abschließen.«

Er hält inne und schaut zu mir hoch. »Um Himmels willen, Jess.«

»Du hast mir das Gleiche angetan.«

Bevor er die beiden Schlösser miteinander verbindet, richtet er sich auf und sieht mich an. »Und wenn ich mich weigere, was willst du dann tun?«

»Ich hab’s dir gesagt.«

»Ich blute bereits, Jess.«

»Je mehr du dich beeilst, desto eher kommt der Arzt.«

Er steht da und schaut mich an. Ich zwinge mich, seinen Blick zu erwidern. Er muss mir gehorchen. Er muss mir glauben. Er blickt auf seine blutende Hand nieder, und ich rücke mit der Glasscherbe ein Stück vor. Bitte lass ihn gehorchen, bitte …

»Mach das Schloss zu. Mach schon!« Ich kreische. Er geht rasch in die Hocke, drückt das Schloss zu, richtet sich wieder auf und hält die Hand hoch. Sie blutet noch immer. Wie tief ist der Schnitt? Ist er tief? Es muss klappen. »Wo ist der Schlüssel?«

»Was? Jessie, mein Gott …«

»Wo ist der Schlüssel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Dreh die Taschen um.«

Er greift mit der Linken in die Hosentasche und holt allerhand Zeug hervor, es fällt auf den Boden. Zwischen dem Kleingeld, den Haustürschlüsseln, einem Taschenmesser und Flusen ist auch ein Metallring mit zwei kleinen silbrigen Schlüsseln.

Ich befördere sie mit einem Fußtritt aus seiner Reichweite und trete auf den Flur. Er hockt neben dem Handtuchhalter und sieht mich an. »Jess. Du musst das nicht tun. Bring mich um, wenn’s sein muss. Aber geh nicht wieder in die Klinik.«

»Ich rufe einen Arzt. Ich werd Mum sagen, wo du bist.« Ich zittere.

»Jessie. Bitte, Jessie, bitte geh nicht …« Er weint. Meine Beine sind dünne Spaghetti. Vertrau mir, so ist es am besten. Das muss ein Ende haben, und ich habe jetzt das Sagen. Ich bin die Einzige, die weiß, was sie zu tun hat. Dads Gesicht ist blutverschmiert, denn er hat sich die Augen gewischt, Blut tropft von seinem Arm, wie konnte es nur so weit kommen?

»Es tut mir leid. Es tut mir leid!« Ich werfe die Glasscherbe weg, schnappe mir meine Schuhe und renne die Treppe hinunter. Ich reiße den Riegel zurück und sperre das Schloss auf, dann ziehe ich die Schuhe an. Dad ist oben. Er kommt mir nicht nach. Er ist an den Handtuchhalter gefesselt. Als ich mir die Schuhe geschnürt habe, beginne ich zu laufen. Er ruft mir nach: »Jessie! Je-e-ess-iiiie!«

Ich sauge die kalte, feuchte Luft in die Lunge und renne, renne weg vor seiner rufenden Stimme.