26

Beim Aufwachen war ich glücklich; für mich war alles klar. Dann fielen mir Mum und Dad ein. Es tat mir weh, mit anzusehen, wie sie im Haus herumtrampelten, hässlich und unbeholfen, ganz steif vor Unglück. Ich versuchte, sie mit einer Geschichte mit dem Titel »Affentheater« aus der Sonntagszeitung aufzumuntern. Ein Tierrechtler war zusammen mit seinem Freund und dessen zahmem Affen mit dem Wagen von Chester zum Forschungslabor gefahren. Den Affen nahmen sie mit, um ihre Solidarität mit den im Labor eingesperrten Versuchstieren zu bekunden. Sie gerieten in einen Stau, und dann wurde ihr Wagen von einer Bande herausgegriffen, die über eine Überführung auf die Schnellstraße gelangt war. Die Mitglieder der Bande zerrten die beiden Freunde aus ihrem Wagen, nahmen ihnen iPods, Handys und den Affen ab, knoteten ein Halstuch an dessen Kragen und führten ihn weg. Ein Wagen mit FLAME-Frauen bemerkte, dass sie den Affen über die Leitplanke ziehen wollten. Die Frauen stürzten hinzu und griffen sie an. Sie retteten den Affen, von dem sie annahmen, er sei aus dem Labor gestohlen worden. Sie hielten einen vorbeikommenden Polizeiwagen an und übergaben den Beamten den Affen. Der Polizeiwagen kam ein paar Meilen weit, dann musste er an einer Straßensperre aus brennenden Autos halten, und während die Polizisten damit beschäftigt waren, wurde der Affe von Noahs befreit, die ihn als Beweis für die teuflische Forschung, die im Labor stattfinde, zu ihren Leuten brachten. Der Besitzer des Affen marschierte zehn Meilen weit an der Straße entlang und suchte nach dem Affen. Die Noahs gaben ihm den Affen zurück, weil der vor Freude in ihrem Van herumsprang, als sein Besitzer am Wagenfenster auftauchte.

Beide sahen mich an, als wäre ich eine Außerirdische. Dann erwischte ich Mum allein in ihrem Schlafzimmer und bat sie, mich zum Treffen der Mütter für das Leben zu begleiten.

»Jess, ich tue alles, was du willst – was immer du willst, aber du musst auf mich und Joe hören.«

»Ich höre auf euch. Ich habe auf euch gehört. Kommst du heute Abend mit?«

»Du hörst nicht auf uns. Du lässt nichts an dich ran.«

»Ich habe bereits darüber nachgedacht, Mum. Seit Wochen denke ich darüber nach. Heute Abend?«

Sie seufzte und schnitt eine Grimasse, weigerte sich aber nicht.

Als wir in den Wagen stiegen, waren beide in ein grimmiges Schweigen verfallen. Dieses Schweigen ist wie ein Kraftfeld, es gibt einfach kein Durchkommen. Ich machte keine Bemerkung darüber, dass wir mit dem Auto fuhren. Es wäre unfair gewesen, deswegen einen Aufstand zu machen.

Als wir Mum abgesetzt hatten, redete Dad immer noch nicht mit mir. Erst als wir über den Parkplatz zum Labor gingen, brach er sein Schweigen. »Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst.« Seit dem Tag meiner medizinischen Untersuchung war ich nicht mehr im Labor meines Dads gewesen. Als er den Code eingab und mir die Tür aufhielt, stieg mir wie jedes Mal der wundervolle Geruch in die Nase, der in meinem Kopf auf einen Musikantenknochen trifft.

Ich dachte an meine vielen Besuche im Labor meines Dads. Ich hatte darauf gewartet, dass er mit der Arbeit fertig wurde, hatte mit Ali geplaudert, durchs Mikroskop geschaut. Heute aber war alles anders. Das Labor war so voll, dass man sich kaum bewegen konnte. An der einen Wand waren Kühlschränke gestapelt. Alle waren mit gelb-schwarzem Plastikband umwickelt, wie es auch an Tatorten verwendet wird. Ich fragte ihn, was das zu bedeuten habe.

»Gestern haben die FLAME-Frauen noch den Eingang belagert«, antwortete er. »Aber seit letztem Donnerstag sind sie nicht mehr nach hinten gekommen und haben nicht versucht einzudringen. Wir haben die Kühlschränke nach unten gebracht und die Sicherheitsvorkehrungen erhöht.« Ich hängte meine Jacke an den Türhaken und setzte mich auf einen der hohen Hocker am Arbeitstisch. »Ich muss ein paar Sachen zur Morgenambulanz hochbringen, dann statten wir den Schlafenden Schönen einen Besuch ab.« Er hat mich noch nie auf die Station mitgenommen – bisher kenne ich nur die Labors. Im kleinen Waschraum schrubbte er sich, wechselte die Kleidung und zog einen weißen Kittel an. »Du auch«, sagte er. »Du kannst Alis Kittel nehmen.« Er nahm Gestelle mit Teströhrchen aus dem Sterilisator und stellte sie auf einen Handwagen; Fläschchen mit klarer Flüssigkeit, vakuumverpackte Instrumente.

Ich wollte mich nach dem Tatortband erkundigen, doch etwas hielt mich davon ab. Irgendwie hatte ich den Eindruck, in den Kühlschränken lägen Leichen. Ich schrubbte mir die Fingernägel mit der prickelnden Seife und schaltete auf das Thema Morgenklinik um. Was um Himmels willen machten sie in der Klinik? »Ich dachte, es würden keine künstlichen Befruchtungen mehr durchgeführt?«

»Das stimmt. Es geht um Eizellenspenden. Was glaubst du wohl, wie wir die Forschungslabors mit Embryos versorgen? Wir befruchten so viele Eizellen wie möglich, wir sind eine Embryofabrik.«

»Und mit den Embryos werden Experimente durchgeführt wie in Wettenhall?«

Er setzte den Karton ab, den er in Händen hielt. »Ja, Jess. Hast du mir nicht zugehört, als wir uns am Staubecken unterhalten haben? Begreifst du nicht, wie intensiv geforscht wird, um einen Ausweg zu finden?« Er deckte den Handwagen ab und schob ihn durch die Schwingtür, und ich knöpfte mir den weißen Kittel zu. Es war das erste Mal, dass ich an die Spenderinnen dachte – abgesehen von denen im Fernsehen, die gegen Tierlabore kämpften und Aufstand machten. Dabei kamen täglich Frauen in die Klinik, um Eizellen zu spenden. Sie nahmen Medikamente ein, damit sie häufiger einen Eisprung hatten, dann unterzogen sie sich der Entnahmeprozedur. Sie kamen ohne großes Aufheben und spendeten ihre Eizellen, um einen Beitrag zur MTS-Forschung zu leisten.

Als Dad wiederkam, hatte ich Mut gesammelt und erkundigte mich nach den Kühlschränken.

»Da sind Prae-MTS-Embryos drin.«

»Weshalb hat die Polizei sie mit Plastikband gesichert?«

»Weil sie dem Staat gehören.«

»Dem Staat?«

»Ich dachte, du wüsstest, worauf du dich einlässt?«

»Das tue ich.«

»Na schön«, sagte er. »Jetzt möchte ich, dass du mich auf die Station begleitest.«

Auf einmal wurde mir klar, dass man mir einen der Embryos in den Tiefkühltruhen einpflanzen würde. Er glich den Menschen in den Raumschiffen, die eingefroren werden, damit sie während der Lichtjahre weiten Reise nicht altern. Man hatte den Embryo eingefroren, kaum dass er den ersten Lebensfunken zeigte, und nun wartete er im Verborgenen in aller Unschuld auf den Moment, da man ihn hervorholen, behutsam erwärmen und mir einpflanzen würde.

Mein Dad wandte sich um und rückte mir die Gesichtsmaske zurecht, dann eilte er den Flur entlang, drückte mit dem Ellbogen die Schwingtüren auf, wandte sich nach rechts und stieg die Treppe hoch, hielt an und warf einen Blick durchs Türfenster, dann stieß er die Tür auf und geleitete mich in die Station. Wir befanden uns in einem lang gestreckten, dunklen, halb leeren Raum. Ein rhythmisches Zischen war zu hören, das ein wenig an die Brandung am Strand erinnerte. Ich dachte an den ALF-Film über die Affen und Schafe im Forschungslabor. Was wäre, wenn ich auch hier etwas Schreckliches zu sehen bekäme?

Deshalb hatte er mich hergebracht. Er wollte mir Angst machen. Ich hatte das Gefühl, etwas Kaltes, Scharfes stecke in meinem Hals fest. Dad ging zwischen den leeren Betten hindurch zum ersten, das mit Geräten umstellt war. Im geisterhaften Licht der Monitore sah ich eine still daliegende Gestalt. Dad war ein Stück vor dem Bett stehen geblieben und bedeutete mir vorzutreten. Seine Augen über der Maske glitzerten.

Ich trat näher ans Bett. Daneben stand ein Besucherstuhl. Ich zwang mich zum Hinsehen. Sie lag ganz ordentlich da, die Arme neben der Decke, ein Schlauch verschwand in ihrem weißen Halsverband. Ein weiterer Schlauch schlängelte sich unter der Decke in ihre Brust. An einem dünnen Finger war ein Sensor befestigt, von dem ein Kabel zu einem Überwachungsgerät führte. Sie sah aus, als ob sie schliefe. Ich hatte keine Ahnung, was Dad von mir erwartete, doch er stand einfach nur da und starrte auf den Monitor. Da setzte ich mich auf den Besucherstuhl. Vom lauten Zischen bekam ich Herzklopfen. Nach einer Weile merkte ich, dass es die Beatmungsmaschine war, die ihr Luft in die Lunge pumpte. Ich verlangsamte meinen Atem, bis er sich dem Maschinenrhythmus angepasst hatte. Ein, aus, ein, aus, so atmen wir. Ganz ruhig. Im Halbdunkel wirkte ihr Gesicht reizend. Ihre Nasenspitze wies leicht nach oben, und ihr blondes Haar war auf dem Kissen ausgebreitet. Sie sah aus wie siebzehn. Ich beobachtete die blinkenden grünen Lämpchen an den Überwachungsgeräten und die Flüssigkeit, die durch einen durchsichtigen Schlauch rann. Das war in Ordnung. Jetzt verstand ich, weshalb man sie Schlafende Schöne nannte. Sie trug einen breiten Hochzeitsring und kleine goldene Ohrringe mit einem blauen Edelstein in der Mitte. Ich stellte mir vor, wie sie die Ohrringe ausgesucht hatte – vielleicht waren sie aber auch ein Geschenk ihres Mannes. Ich stellte mir vor, wie sie das Etui ausgepackt und lächelnd gesagt hatte: »Die werden mir Glück bringen.«

Dad winkte mich zum nächsten Bett weiter. Dieses Mädchen war eine Asiatin, und sie wirkte noch jünger. Sie hatte einen skeptischen Gesichtsausdruck, eine kleine Falte zwischen den Augen, als müsste sie sich im Traum konzentrieren. Ich hätte sie gern geküsst und die Falte geglättet. Mein Dad betätigte ein paar Schalter, auf dem Monitor wurde ein grünliches Bild angezeigt. »Das ist ihr Kind«, sagte er. »Da ist der Kopf, siehst du?« Das Kind war schwer zu erkennen, denn das Bild bewegte sich und flackerte ein wenig, wie bei einer schlechten Zeitlupe. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es tief in ihr verborgen war und sich vielleicht schämte, weil es beobachtet wurde. Ich nickte Dad zu, und er schaltete das Bild ab. Ich wusste nicht, ob das gestattet war, doch ich wollte das Mädchen unbedingt berühren. Ich streichelte ihren Arm. Ihre Haut fühlte sich warm und weich an, kein bisschen unangenehm – sie lebte. Ich dachte, sie hat sich ganz nach innen gekehrt. Dem zerbrechlichen Wesen zugewandt, das eben auf dem Monitor herumgegeistert ist. Hat sich in ihrer Reglosigkeit ganz darauf konzentriert. Sie widmet sich voll und ganz ihrem Kind.

Dad war wieder zur Tür gegangen. Als wir in sein Labor kamen, riss er sich die Gesichtsmaske ab und fragte mich, was ich von den Schlafenden Schönen halte.

»Sie wirken friedlich.«

Er starrte mich entgeistert an. »Friedlich? Sie befinden sich im Koma. MTS zerfrisst ihr Gehirn.«

»Sie tun das, wofür sie sich entschieden haben.«

Er setzte sich auf einen Hocker und stützte die Ellbogen auf den Arbeitstisch. Er legte den Kopf auf die Hände und blickte auf das dunkle Holz nieder.

»Dad?«

»Mir wird schlecht davon.«

»Warum?«

»Das sind lebende Tote. Zombies. Maschinen beatmen ihre Lunge. Und dann kommen ihre Mütter sie besuchen und sitzen bei ihnen, halten Händchen und kämmen ihnen das Haar …«

»Das macht es den Müttern leichter, damit fertigzuwerden.«

»Du findest das wirklich nicht abstoßend?«

»Du hast selbst gesagt, wenn neues Leben entstehen soll …«

»Weißt du, was anschließend mit ihnen passiert? Nachdem man ihnen das Kind herausgenommen hat?«

»Sie werden abgeschaltet.«

»Manche Familien wollen glauben, da wäre noch eine Persönlichkeit vorhanden. Sie erhalten dieses … dieses Stück Fleisch am Leben und wiegen sich in der trügerischen Hoffnung, eines Tages könnte es auf wundersame Weise zu neuem Leben erwachen.« Sorgfältig stellte er den Hocker unter den Tisch. Er hob den nächsten an und stellte auch ihn unter den Tisch, ohne dass die Füße am Boden schleiften. In dem Freiraum, den er geschaffen hatte, ging er auf und ab. »Ich weiß nicht, wie ich mich dir verständlich machen soll.«

»Ich verstehe dich, Dad. Ich bin bloß anderer Meinung.«

»Du glaubst, du hättest so was wie eine Bestimmung.«

»Ich weiß, was ich will.«

»Nein, tust du nicht. Du lebst in einer Fantasiewelt und spielst die Rolle der Heldin.«

»Ich tue das, wofür ich mich entschieden habe.«

»Du willst die Welt retten.«

»Was ist falsch daran?«

Er seufzte genervt. »Du bist zu jung, um das zu verstehen. Die Menschen werden schon irgendwie zurechtkommen.«

»Ich will nicht zurechtkommen. Ich möchte einen nützlichen Beitrag leisten.«

»Du wirst ein Fleischklumpen sein, den andere Leute waschen und umdrehen müssen!«

Wir starrten einander hoffnungslos an, dann ging ich zu ihm und schloss ihn in die Arme. Nach einer Weile erwiderte er die Umarmung. »Das ist so dumm«, sagte er leise. »Dieses ganze Gerede über den Tod. Bitte, Jess, das muss aufhören.«

»Ich kann jetzt nicht aufhören. Du hast es selbst gesagt – es ist ein Beitrag zum Überleben der Menschheit.«

»Ich werde dich einsperren müssen, bis du zur Vernunft gekommen bist.«

Das sagte er ganz ruhig und voller Bedauern, als dächte er das nicht zum ersten Mal. Und wenn ich einen Funken Verstand gehabt hätte, dann hätte ich ihm geglaubt. »Das wäre Freiheitsberaubung.«

»Nicht unbedingt. Wenn junge Leute von gefährlichen Sekten indoktriniert werden, engagieren ihre Eltern Experten, die sie umprogrammieren.«

»Du weißt, dass ich nicht indoktriniert wurde. Gegen meinen Willen könntest du mich nicht gefangen halten.«

»Wenn ich dich nicht mit Argumenten überzeugen kann, welche Wahl bleibt mir dann?« Eine Zeitschaltuhr klingelte, und er sah zu den Heizöfen hinüber. »Wir müssen die Unterhaltung heute Abend fortführen.« Er begann herumzukramen.

»Es gibt nichts mehr zu sagen«, erwiderte ich und zog meine Jacke an. Er begleitete mich zum Ausgang und ließ mich auf den Parkplatz hinaus. Es nieselte, und ich hatte keinen Regenschirm dabei. Ich ging zur Bushaltestelle. Das nasse Haar klebte mir am Kopf, und kleine Rinnsale liefen mir am Hals hinunter. Ich spürte das unebene Pflaster unter den Schuhsohlen und die Wassertropfen, die auf meinem Gesicht landeten. Dabei stellte ich mir vor, im Dunkeln dazuliegen, während die große Zischmaschine mir Luft in die Lunge pumpte. Ich wäre nicht tot, denn irgendetwas in mir, ein kleiner grüner Schatten, würde leben und wachsen. Ich würde daliegen und mein Kind ins Leben träumen.

Ich war erst eine halbe Stunde zu Hause, da klingelte das Telefon. Sal. Sie plapperte gleich los, ohne mich überhaupt zu Wort kommen zu lassen. »Jess, tu’s nicht. Baz hat’s mir erzählt. Du darfst das nicht machen.«

Baz – also, wundern tat es mich nicht.

»Jess, hör mir mal zu. Es geht nicht nur darum, dass ich dagegen bin. Glaub mir, du würdest dich in Gefahr begeben …«

Ich konnte mir kaum vorstellen, dass es für mich noch gefährlicher werden könnte, als es bereits war. Seit ihrer Vergewaltigung war Sal gegen alles, da war nichts zu machen. Ich konnte ihr nicht helfen. Ich sagte ihr, ich würde einen Anruf meines Dads erwarten.

»Wusstest du, dass FLAME Kliniken mit Schlafenden Schönen aufs Korn nimmt?«

»Am Krankenhaus, in dem mein Vater arbeitet, sind Blockierer aufgetaucht. Aber es kommen trotzdem noch Leute rein und raus.«

»Einstweilen noch. Aber die Taktik wird sich bald ändern. Sie wollen mehr Gewalt anwenden.«

»Hör mal, Sal, ich bin mir sicher, dass ich in die Klinik reinkommen werde, und wenn ich erst mal drin bin, kann mir FLAME nichts mehr anhaben.«

»Sie wissen noch nichts von dem Implantationsprogramm.«

»Und?«

»Stell dir vor, was für ein Coup es wäre, wenn sie das stoppen könnten.«

»Wenn sie nichts davon wissen, können sie es nicht stoppen.«

»Ich könnte ihnen davon berichten.«

Ich stellte mir das friedliche Gesicht der Schlafenden Schönen vor, an deren Bett ich zuerst gesessen hatte. Sal war meine Freundin. »Ich vertraue dir«, sagte ich. »Sal, ich vertraue darauf, dass du mein Geheimnis wahrst.« Ich legte auf. Dann wählte ich Dads Labornummer, doch er ging nicht ran.

Eine Weile tigerte ich auf und ab, machte mir ein Käsesandwich und sah Nachrichten. Das Gelände des Wettenhall-Labors war noch immer abgeriegelt, aber die Schnellstraße war endlich geräumt. Ein Kommentator sagte, die Tierexperimente würden beendet, ein anderer meinte, es sei noch keine Entscheidung gefallen und die Regierung werde in Kürze eine Erklärung abgeben. Die Polizei hatte 87 Personen festgenommen und in ein Gefängnislager für Terroristen im Lake District gebracht. Es wurde über die rechtlichen Grundlagen der in Wettenhall betriebenen Forschung gestritten, und man fragte sich, ob die Spenderinnen gegen die Firma klagen würden. Nachdem im Londoner Büro ein Brandsatz hochgegangen war, stand zu vermuten, dass dies eine ihrer kleineren Sorgen war.

Ich beschloss, Baz zu besuchen.

Dieser Zeitpunkt war so gut und so schlecht wie jeder andere; er hatte allen Grund, mir böse zu sein. Doch ich stellte mir vor, wie er mich in die Arme schließen würde, und sei es auch nur für einen Moment. Ich wollte, dass er mich an sich drückte. Ich redete mir ein, wenn er eine gute Erinnerung an unsere letzte Begegnung hätte, wäre es leichter für ihn, wenn ich nicht mehr da wäre.

Als ich bei ihm schellte, machte seine Mum auf. Ich musste lächeln, denn ich hörte ihn Klavier spielen. Sie sagte, sie wolle ihn rufen, doch ich meinte, es sei schon in Ordnung, ich wolle zu ihm gehen. Als ich schon auf der Treppe war, sagte sie: »Ich glaube, er hat Besuch.« Ich klopfte, doch da ich wusste, dass er mich beim Spielen nicht hören würde, öffnete ich die Tür. Baz hatte sich ganz versunken über die Klaviertasten gebeugt. Die Person im Bett schaute hoch und erwiderte meinen Blick. Rosa.

Ich war wie erstarrt. Dann lief ich die Treppe hoch und stürmte ins Freie. Ich rannte bis nach Hause. Ich setzte mich auf mein Bett und schnappte nach Luft. Mein Herz trommelte gegen den Brustkasten, als wollte es herausspringen.

Den ganzen Nachmittag lang saß ich einfach nur da. Mir fiel nichts ein, was ich hätte tun können. Jeder Gedanke verdorrte schon im Entstehen und erstarb, bevor ich ihn zu Ende gedacht hatte. Wie lange ging das mit Baz und Rosa schon? Weshalb hatte sie mich gefragt, ob ich noch immer mit ihm befreundet sei? Hatten die beiden über mich geredet? Ich konnte mich nicht rühren, konnte mich nicht mal in das Federbett hüllen, obwohl mir kalt war. Es dämmerte und wurde dunkel. Mein Handy klingelte. Erst wollte ich nicht rangehen, dann tat ich es doch.

»Du wolltest mit mir sprechen«, sagte er.

»Ja.«

»Sie wollte das auch.«

»Warum?«

»Sie war aufgeregt.«

»Aber warum du

»Weshalb sollte dir das was ausmachen?«

»Tut es halt.«

»Es gibt keinen Grund, weshalb ich mich nicht mit ihr treffen sollte.«

»Weshalb bist du ihr nicht böse?«

Baz seufzte.

»Ihre Gründe für die Teilnahme am Programm sind verrückt. Sie ist verrückt. Glaubst du wirklich …« Ich brach in Tränen aus. Ich wollte nicht weinen, konnte aber nichts dagegen tun. »Magst du sie wirklich?«

»Ihre Gründe sind nicht verrückter als deine.«

»Baz? Baz?« Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte, dass er begriff, dass ich, Jessie, mit ihm sprach.

»Ihr Freund hat sie geschlagen. Sie hat sonst niemanden.«

»Hast du mich jemals geliebt?«

»Was hat das damit zu tun?«, erwiderte er gereizt. »Welchen Sinn hat es, überhaupt jemanden zu lieben?«