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Ich machte mir viele Gedanken über sie. Sie gingen mir nicht aus dem Kopf. Zu unterschiedlichen Gelegenheiten, in unterschiedlicher Stimmung dachte ich an die jungen Frauen, die sich freiwillig für das Programm meldeten.

Sal engagierte sich immer mehr in der FLAME-Gruppe – auch ihre Mum ging zu den Treffen. Ich war noch nicht so weit und fühlte mich einsam, und als Mary anrief, mich fragte, ob ich bei einer großen Altkleidersammlung von YOFI helfen wolle, und mir mitteilte, dass Iain in London sei, sagte ich zu. Ich wollte mich nicht wieder bei ihnen engagieren, doch es konnte nicht schaden, wenn ich sie alle mal wiedersah. Es waren aber gar nicht so viele Leute da; offenbar waren auch noch einige andere abgesprungen. Ich hatte den Eindruck, YOFI pfeife aus dem letzten Loch.

Jacob hatte Bier mitgebracht, denn er hatte Geburtstag. Die Klamotten rochen wie alte, abgelegte Kleider. Der Geruch breitete sich überallhin aus, auch auf den Geschmack des Biers. Die brauchbaren Sachen wollten sie bei einem Tauschmarkt anbieten und den Rest in die Koffer packen, die bei dem schon zweimal verschobenen Flughafenprotest zum Einsatz kommen sollten. Jemand legte eine Kassette ein, und der Rhythmus der Musik brachte uns auf Touren.

»Ich wette, das meiste davon stammt von Toten«, sagte Mary. Ich dachte an die Frauen, die an MTS gestorben waren, und fragte mich, ob ihre Männer ihre Sachen weggegeben hatten. Stellte mir vor, wie sie den Kleiderschrank ihrer Ehefrau durchwühlten und alles in die Sammelbeutel packten – die T-Shirts, die Jeans, all die Sachen, in denen sie sie jeden Tag gesehen hatten.

Ich dachte an Dads Bemerkung zu den Schlafenden Schönen und den tiefgefrorenen Embryos, die jetzt dazu beitragen würden, das Überleben der Menschheit zu sichern. Ich versuchte auszurechnen, wie viele Kinder eine Freiwillige bekommen würde. Wenn sie eine Tochter zur Welt brächte und wenn die Tochter Kinder hätte, die wiederum Kinder bekämen … dann wären das nach ein paar Generationen schon Hunderte Menschen. Aber es würde schon eher Auswirkungen haben. Es hätte Auswirkungen auf die Menschen, die kleine Kinder entführten und mit ihnen handelten. Auf die Noahs. Auf die Selbstmordrate. Die Männer, die Frauen für schmutzig hielten. Die FLAME-Frauen, die Männer hassten. Die Wissenschaftler, die furchtbare Tierexperimente durchführten, und die Tierbefreier, die sie bekämpften. Es hätte Auswirkungen auf die Sichtweise aller Menschen, denn auf einmal gäbe es wieder Hoffnung.

Mary warf mir ein blaues Seidenkleid zu. Es war schwer und glatt und hatte die Farbe des Himmels an einem wolkenlosen Sommerabend. Ich zog den Pullover aus und streifte mir das Kleid über T-Shirt und Jeans. Es war altmodisch geschnitten, eng an der Brust und weiter unten ausgestellt, und die wunderschönen Falten reichten mir bis zur Wadenmitte. »Wow!«, sagte Mary. »Seht mal!« Die anderen hielten inne und schauten mich an. Jemand pfiff bewundernd, die anderen klatschten. Ich drehte mich um die eigene Achse. Die schwere, wirbelnde Seide fühlte sich kühl an, und das gefiel mir. Ich fand einen braunen Rock mit cremefarbenen Stickereien und reichte ihn an Mary weiter. Ahmed zog einen orange- und goldfarbenen Kaftan an. Alle suchten sich in den Kleiderhaufen etwas Passendes aus. Der alte Song, der als Nächstes kam, traf bei mir auf Widerhall. Love, love will tear us apart again. Es war der traurigste Song, den ich je gehört hatte.

»Jessie! Jessie! Sieh mal!« Mary hatte einen kleinen schwarzen Hut mit leuchtend blauen Federn entdeckt. Sie waren wunderschön, wanden sich um den Hut und bildeten ein blaues Muster vor samtschwarzem Hintergrund. Wir bewunderten uns gegenseitig, streckten die Arme ab, reckten die Hälse und stellten uns zur Schau, stolzierten umher und nahmen Posen ein wie Models auf dem Laufsteg. Ich überlegte, wer mein Kleid wohl getragen haben mochte. Ich hatte ein eigenartiges Gefühl, als wäre das Kleid ein Körper. Ein leichter, wirbelnder, tanzender Körper. Und nach mir würde jemand anders das Kleid tragen. Ich dachte, wenn man so viel mit einem Kleid weitergeben kann, wie viel lebt dann von einem Menschen weiter, wenn er stirbt? Wie viel fließt auf verschiedenen Wegen in alle anderen ein, durch das, was er gesagt, getan und erschaffen hat? All die leblosen Kleider konnten wieder zum Leben erwachen, wenn jemand sie anzog. Ich dachte, eigentlich ist der Tod keine große Sache. Ich könnte sterben, ohne dass es mir viel ausmachen würde.

Wer werden die Freiwilligen sein?, fragte ich mich immer wieder. Mary hatte eine lederne Weste angezogen und ein Paar schwarze Abendhandschuhe. Sie kam zu mir und verbeugte sich, und dann schritten wir Arm in Arm um die Kleiderstapel herum, verneigten uns vor den anderen und machten Knickse. Die Freiwilligen würden Mädchen wie ich sein, denn die Frauen mussten jung sein. Je jünger, desto besser. Ich hakte mich bei Mary aus und setzte mich auf die Bühnentreppe. Ich streichelte die Seide meines Kleids, strich sie über den Jeansschenkeln glatt. Ich dachte an die Stammesleute, von denen Dad erzählt hatte, an die Meriahs, denen es vorbestimmt ist, geopfert zu werden, die in dem Bewusstsein leben, dass sie etwas Besonderes sind, und glauben, das Leben der anderen zu retten. Sie halten das für ihre Bestimmung. Es ist ihre Bestimmung. Und ich dachte, kann es ein besseres Leben und einen besseren Tod geben?

Ich war nicht betrunken, aber ich schwebte über dem Boden, weit darüber, und blickte auf die Kleiderberge mit ihren abgelegten Leben und auf die geschäftigen YOFI-Mitglieder hinab, die Kleidungsstücke von einem Haufen auf den anderen warfen oder sie anzogen und umhertanzten, und das alles hatte nichts mit mir zu tun, denn ich hatte etwas Wichtigeres vor. Ich wusste, dass mir das Wissen der anderen Menschen, die sich aufgeopfert hatten, zugänglich war. Das Wissen anderer Freiwilliger, die für ihr Volk gestorben sind. Das Wissen der Selbstmordattentäter, die sich Sprengstoffgürtel umschnallen. Das Wissen der jungen japanischen Kamikazepiloten, die sich Seidenschals um den Hals geschlungen haben. So wie ich das Seidenkleid angelegt hatte. Und mit ihm ihre Kraft und Gewissheit. Meine Bestimmung.

Ich weiß nicht mehr, was ich in der Nacht geträumt habe, doch ich erinnere mich noch, dass ich beim Aufwachen das Gefühl hatte, irgendwo tief unten gewesen zu sein. Auf dem Grund eines sehr tiefen blauen Gewässers, des Meeres, immer tiefer sinkend durch immer dunklere Wasserschichten, die alle Schattierungen der Farbskala durchliefen, Türkis, Blaugrün, Aquamarin, Königsblau, Marineblau, Dunkelblau, Mitternachtsblau, und es wurde immer dunkler und dunkler, doch ich empfand keine Angst, sondern staunte bloß über die Tiefe und die Intensität der Farben. Ich wusste, dass ich dann, wenn ich es wollte, wie ein Korken wieder auftauchen würde.

Was ich beim Aufwachen auch tat. Und ich wunderte mich, weshalb ich mich in meinem gewohnten Zimmer befand. Ich erinnerte mich, dass ich überlegt hatte, mich freiwillig zu melden.

Ich stellte mir vor, mich als Schlafende Schöne zu bewerben. Einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Ich konnte mir noch immer nicht recht vorstellen, wie man sich dafür freiwillig zur Verfügung stellen konnte. Mir war innerlich weit zumute, als gäbe es in meinem Kopf jede Menge Raum für widersprüchliche Gedanken. Weit und aufgeregt. Ich überlegte, ob ich mit Baz sprechen sollte. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment könnte etwas Außergewöhnliches geschehen.