22
Am Abend kam Dad nach Hause und verkündete, Mandy sei schwanger. Mum habe einen weiteren Test gemacht, und der Arzt habe das Ergebnis bestätigt.
Wenn das Unglück eintrifft, empfindet man erst einmal nichts. Die Empfindung fällt wie ein Stein durch einen hindurch, und man nimmt nichts weiter wahr als die innere Leere. Obwohl ich mit der Möglichkeit gerechnet hatte, war ich total geschockt. Mum leistete ihr Gesellschaft, und als ich die Nachricht ein bisschen hatte sacken lassen, machte Dad sich daran, seine und Mums Sachen einzupacken. Er fragte mich, ob ich bei Sal schlafen könne. Meine Eltern wussten nicht einmal, dass sie umgezogen war.
»Wollt ihr Mandy nicht hierherbringen? Oder kann ich dich begleiten?«
Dad stellte seufzend die Reisetasche ab. »Nein. Tut mir leid, Jess, aber das geht nicht. Kannst du irgendwo anders unterkommen?«
»Warum?«
»Weil es schrecklich ist.«
Ich wusste über MTS Bescheid. Ich wusste, wie es weitergehen würde. Dennoch nagte ein Anflug von Grauen an meinem Herzen, als gäbe es noch mehr, etwas Unbekanntes, nach dem ich nicht zu fragen wagte.
»Ich muss los und deiner Mum helfen. Ich weiß, Jess, das ist auch für dich ein schwerer Schlag, aber es hilft weder Mandy noch Cath, wenn du mitkommst. Du solltest Mandy so in Erinnerung behalten, wie sie war.«
»Warum? Was ist passiert? Ist schon etwas passiert?« Schon bei der Frage brach mir der Schweiß aus.
»Sie dachte, man würde sie das Kind bekommen lassen. Das hat sie geglaubt – dass wir sie in die Klinik bringen und eine Schlafende Schöne aus ihr machen würden.«
»Könnt ihr nicht so tun als ob?«
Er lachte freudlos. »Das hat Cath auch vorgeschlagen. Nein, das geht nicht. Die Klinik muss sich um wichtigere Dinge kümmern – man kann nicht einfach jemanden hinbringen und ihn über die Behandlung täuschen. Das ist kein Spiel.«
»Wie geht es jetzt weiter?«
»Sie wird erkranken … und dann … der Arzt wird sie sedieren … und dann wird sie sterben.«
»Aber im Moment, was passiert jetzt …«
»Schatz, Mandy hat es nicht begriffen. Sie hat nicht begriffen, weshalb wir sie nicht in die Klinik bringen. Als es ihr dann doch irgendwann dämmerte, hat es ihr das Herz gebrochen. Sie möchte, dass wir das Kind retten. Sie glaubt, alle hätten sie verraten. Es ist nicht … es ist einfach nur traurig. Es bringt nichts, wenn du sie so siehst, du würdest es deiner Mutter nur schwerer machen. Verstehst du das?« Er umarmte mich, und ich brach in Tränen aus, und er weinte auch. Ich sagte ihm, ich wolle nirgendwohin und käme schon allein zurecht. Ich begleitete ihn nach draußen zum Wagen und schaute ihm nach, bis die Rücklichter nicht mehr zu sehen waren. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Eine Weile saß ich im Dunkeln und versuchte, an Mandy zu denken – telepathisch Kontakt aufzunehmen, ihr eine Art Seelenfrieden aufzuzwingen, damit sie und Mum sich einen Kuss gäben und versöhnten, bevor sie starb. Es klappte nicht, ich konnte mich nicht konzentrieren. Meine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Ich ging in die Küche und begann aufzuräumen. Ich sortierte den Abfall zum Recyceln aus, räumte die Spülmaschine leer und schrubbte die Spüle und den Herd, dann räumte ich den Kühlschrank aus. Anscheinend hatte seit Tagen niemand mehr richtig gegessen, denn viele Sachen hatten das Verfallsdatum überschritten. Zuletzt wischte ich den Küchenboden. Wenn sie nach Hause kämen, wäre es wenigstens ordentlich. Auch wenn das rein gar nichts bedeutete.
Im Gegensatz zu dem, was ich vorhatte.
Ich ging nach oben und setzte mich auf mein Bett. In meinem Kopf ordnete sich etwas, wie ein verheddertes Knäuel, das sich plötzlich entwirrt, wenn man an der Schnur zieht. Ich war Mandys Spiegelbild. Ihr Gegenstück. Weil es bei ihr nicht klappte, würde es bei mir klappen. Sie war das Minus, und ich war das Plus. Mein Vorhaben würde ihren Misserfolg auslöschen. Nicht sie, sondern das Schlechte, die Traurigkeit, die Hoffnungslosigkeit. Ich konnte alles ausgleichen. Kein Kind für sie = ein Kind für mich. Negativ/positiv.
Und ich würde mir keine Angst einjagen lassen. Denn ich hatte mir bereits um sie Angst gemacht. Mr. Golding würde nicht zulassen, dass mir etwas Schlimmes passierte. Es wäre genau das Gleiche, als wenn ich einschlafen würde.
Als ich wieder nach unten ging und mir Toast mit pochiertem Ei machte, hatte sich alles wieder verheddert. Das Grauen, das Mum und Dad erlebten – vor allem Mum. Das Grauen, das über Mandy hereinbrach – wie hatte das geschehen können? Meine Schuld. Wäre ich bei meinem letzten Besuch, als sie Paul erwartete, ein bisschen aufmerksamer oder umsichtiger gewesen, hätte ich sie gefragt, was los sei. Anstatt mich ausschließlich mit Mum und Dad zu beschäftigen und zu glauben, alles drehe sich um meine eigenen Probleme. Warum hatte ich sie nicht gefragt? Warum hatte ich nicht nachgedacht? Vielleicht ging das ja jeden Tag so – vielleicht war das der Tag gewesen, an dem Paul sie geschwängert hatte, nachdem er mir auf der Straße begegnet war, geschniegelt und gut gelaunt.
Ich wollte weinen, doch ich konnte es nicht. Erneut ging ich nach oben und betrachtete meine Habseligkeiten, die Klamotten, Schuhe und Bücher, die Schminkutensilien und Ohrringe und Plüschtiere, das handbestickte Schultertuch und die indischen Paillettenkissen, die Perlenkette, die Oma Bessie mir geschenkt hat. Meine CDs, meine DVDs, meinen iPod. Ich holte einen Karton aus der Garage und stopfte Teddys, Bücher und DVDs hinein; den Rest packte ich in Plastiksäcke. Der Karton war zu schwer für mich, aber die Säcke könnte ich mit dem Bus in die Stadt bringen, zu einem der Secondhandläden für mutterlose Kinder.
Als ich den letzten Sack auf den Treppenabsatz geschleift hatte und zurückging, um mein Zimmer in Augenschein zu nehmen, fehlten all der Krimskrams und das Gewusel einer Person, die nur an sich selbst dachte. Man sah die hellen Stellen in den Regalen, wo Bücher, Schmuckkästchen, Lavalampe und dergleichen gestanden hatten. Mir gefielen die geisterhaften Umrisse. Ich dachte, jedes Mal, wenn ich ins Zimmer komme, jedes Mal, wenn ich etwas vermisse und die Lücken sehe, werde ich an sie denken. Am liebsten hätte ich mir die Hand unter die Rippen geschoben und mich ins Herz gekniffen, so fest, dass ich nichts anderes mehr fühlte.
Es war schon fast Mitternacht, doch ich wusste, dass ich nicht würde einschlafen können. Ich nahm mein Federbett mit nach unten und stellte den Fernseher leise an. Das erinnerte mich an die Wochenenden, als ich klein war und morgens, wenn meine Eltern noch schliefen, nach unten geschlichen war, den Fernseher leise angestellt, mich aufs Sofa gekuschelt und mit Kissen zugedeckt hatte, damit ich es warm hatte. Wenn Dad aufstand und Tee machte, schaute er zu mir herein und sagte: »Da ist ja das kleine nussbraune Mädchen! Hast dir ein kuschliges Nest gebaut, wie?« Da konnte ich endlich weinen. Beim Gedanken an Mum und Dad.
Irgendwann war ich wohl eingeschlafen, denn als ich die Augen wieder aufschlug, klingelte das Telefon, und es war Morgen. Dad rief an und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei. Er berichtete, sie hätten Mandy eine Schlaftablette gegeben, und sie und Mum schliefen gerade. Wir kamen überein, dass ich vielleicht vorbeikommen könnte, wenn sie nach dem Aufwachen ruhiger sei. Dads Stimme war tonlos und müde, doch er meinte, er müsse gleich zur Arbeit, da sei etwas im Gange.
Ich machte Frühstück. Es gab kein Brot mehr, deshalb aß ich Weetabix mit Milch. In den Nachrichten wurde gemeldet, der Flughafen sei wieder geöffnet. Man sah Bilder von der Evakuierung und den Gepäckbergen. Es hieß, in einigen Koffern sei Sprengstoff gewesen, und es handele sich um einen Terroranschlag. Experten untersuchten weitere herrenlose Gegenstände. Zwei Personen halfen der Polizei angeblich bei den Ermittlungen; ich fragte mich, ob sie zu YOFI gehörten. Der Einsatz von Sprengstoff war nicht geplant gewesen, was ging da vor? Dann kam ein Bericht über Wettenhall, über den Ausbruch der Auseinandersetzungen. Die Zahl der Opfer wurde bestätigt. Die gewalttätigsten Ausschreitungen hatten zwischen den Tierbefreiern und FLAME stattgefunden. Es wurde gezeigt, wie ein Bus mit FLAME-Anhängern vor dem Forschungslabor vorfuhr, vor dessen Tor sich ALF-Demonstranten mit Plakaten versammelt hatten. Die Kamera zoomte auf die vorderste Frau im Bus. »Diese Sturköpfe wollen Pelztiere retten!«, rief sie. »Die Wissenschaftler tun nur ihre Arbeit!« − »Wir wollen dafür sorgen, dass sie weiterarbeiten können!«, rief eine andere. »Wir kämpfen für all die Frauen, die gestorben sind!« Ich musterte ihre Gesichter, als sie ausstiegen, denn ich wollte Sal sehen. Ein Gruppe von Noahs brüllte: »Schande!« Sie waren dagegen, dass Tieren menschliche Embryos eingepflanzt wurden. Die Bilder rauschten vorbei – Rangeleien, Rauch, Polizisten, die sich Demonstranten griffen, Menschen, die in Polizeitransporter verfrachtet oder in Krankenwagen verstaut wurden.
Es hieß, die Polizei habe die Lage vor dem Forschungslabor am Vormittag unter Kontrolle, doch aus der Luft sah man nur Chaos, ein Kriegsgebiet – verkeilte Fahrzeuge, brennend, verlassen oder umgeworfen und zu Barrikaden zusammengeschoben. Menschen waren auf die Böschung geklettert, krochen unter Zäunen hindurch und stolperten wie Flüchtlinge über gepflügte Felder. New-World-Kids tobten umher. Auch ein paar Banden mischten mit – eine durchbrach die Polizeiabsperrung und fuhr in einem alten Bus über die andere Fahrspur der Schnellstraße. Sie nahmen sich unbesetzte Autos vor und schnappten sich alles, was sie kriegen konnten – Essensvorräte, Geld, Kleider. In London war in den Büros der Firma, der das Forschungslabor gehörte, ein Brandsatz hochgegangen, und die Schwangerschaftsabteilung des Charing Cross Hospital, eines der größten Zentren für Schlafende Schöne, stand irgendwie unter Belagerung. Ich checkte mein Handy, hatte aber keine neuen Nachrichten.
Auf dem Bildschirm hielt ich Ausschau nach Baz, Sal oder Nat. Die Nachrichten wurden für eine Ansprache des Premierministers unterbrochen, der Forschungseinrichtungen und Krankenhäusern, die sich mit künstlicher Befruchtung befassten, zusätzlichen Schutz zusagte. Da wurde mir klar, dass dies der Grund war, weshalb Dad heute Morgen zur Arbeit hatte fahren müssen. In allen Schwangerschaftskliniken und auf den entsprechenden Stationen galt Sicherheitsalarm – überall, wo Schlafende Schöne behandelt oder Eizellen von Spenderinnen eingesammelt wurden.
Ich wusste nicht so recht, von wem die Bedrohung eigentlich ausging, von den FLAME-Frauen oder den Eispenderinnen. In den Nachrichten wurde spekuliert, dahinter könnten die Leute stecken, die für MTS verantwortlich seien. Demnach fand der Kampf zwischen denen statt, die verhindern wollten, dass Frauen Kinder bekamen, und denen, die eben dies sicherstellen wollten; zwischen Menschen, die dagegen waren, Tiere dazu zu benutzen, das Weiterbestehen der Menschheit zu gewährleisten, und denen, die dagegen waren, dazu Frauen zu benutzen.
Die Noahs und die ALF und die Eizellenspenderinnen kämpften gemeinsam gegen die Tierforschungslabore und die Frauen von FLAME. Aber wenn die MTS-Terroristen tatsächlich noch aktiv waren, weshalb sollten sie sich dann auf den Straßen in Gefahr bringen, wenn sie womöglich in der Lage waren, das im ganzen Rest der Menschheit schlafende Virus zu aktivieren? Dad behauptete seit einer Ewigkeit, sie könnten uns jederzeit erpressen. Falls es sie wirklich gibt und falls sie die Kontrolle haben über das, was sie getan haben. Aber er hat auch gemeint, das sei unwahrscheinlich, und es handele sich vermutlich um einen Einzeltäter, dem die Folgen seines Tuns überhaupt nicht klar gewesen seien.
Mein Handy klingelte. Rosa. Sie kam mir im Moment ungelegen. Sie hatte ihr Beratungsgespräch gehabt und war in Hochstimmung. »Meine Mum lässt ein Video drehen, um mich in Erinnerung zu behalten und es später dem Kind zu zeigen. Ich werde an all meinen Lieblingsorten gefilmt, zum Beispiel in dem hübschen Restaurant, wo wir immer hingehen, und im Sportwagen meines Freundes und in dem großen Schaukelstuhl auf der Veranda, umgeben von Rosen- und Apfelblüten.«
»Das ist schön«, sagte ich. Dass Rosen und Apfelbäume noch nicht blühten, ließ ich unerwähnt. Aber die Blüten konnte sie sich vermutlich im Blumengeschäft besorgen. Wenn es überhaupt stimmte.
»Im Moment wähle ich die Musik aus«, sagte sie. »Ich lasse alle meine Lieblingssongs spielen.«
»Gut«, sagte ich. »Toll.« Ich sah weiter fern. Wenn ich das Gerät ausschaltete, würde mir Mandy in den Sinn kommen, ein gewaltiges Lärmen, für das mein Kopf zu klein war.