16

Zu Hause erwartete Mum mich bereits und fragte, ob ich etwas von ihm gehört habe, denn bei ihr hatte er sich offenbar nicht gemeldet. Sie war ganz grau im Gesicht und hatte gerötete Augen, und auf einmal tat sie mir furchtbar leid. Sie wollte wissen, ob ich versucht hätte, ihn anzurufen, und als ich das bejahte, kamen ihr die Tränen. »Ich dachte schon, er würde nur bei mir nicht drangehen. Aber wenn er bei dir auch nicht abnimmt … vielleicht sollte ich zur Polizei gehen.« Ich war zuversichtlich, dass er meine E-Mail beantworten würde. Ich war voller Hoffnung, aber den Grund konnte ich ihr natürlich nicht sagen. Ich schlug vor, noch einen Tag zu warten, bevor sie zur Polizei ging. Als ich das mit ruhiger Stimme sagte und sah, wie Mum zaghaft lächelte, wurde mir klar, dass sich das Gleichgewicht zwischen uns verschoben hatte. Wie bei einer Schaukel, die sich, wenn man der Schwerere ist, nach unten senkt, bis man mit dem Hintern auf den Boden kracht. Jetzt stieg ich empor, immer höher. Ich tröstete sie. Eine schwindelerregende Freude erfasste mich, hob mich empor wie einen Vogel. Ich wusste, dass ich das Richtige tat.

Ich mailte ihm: »Hi, Dad, ich weiß, du und Mum habt Streit, aber ich habe eine wichtige Neuigkeit. Ich muss es dir sofort sagen! Bitte antworte gleich, wann und wo wir uns treffen können. Du fehlst mir! Xoxo Jess.« Als Betreff schrieb ich »Leben und Tod, ehrlich«, dann löschte ich es wieder. Ich wollte ihm nicht sagen, wie traurig und zornig und verängstigt ich mich gefühlt hatte, und er würde mir im Gegenzug nicht böse sein, weil ich ihm nicht von Mums Affäre erzählt hatte. Für mich war der Deal perfekt.

Nach dem Abendessen machte Mum einen Besuch bei Mandy. Ich wollte erst am nächsten Morgen nach meiner E-Mail sehen. Er würde mir antworten, ganz bestimmt. Ich stellte den Fernseher an. In Äthiopien gab es eine angeblich gesunde Schwangere, die wie eine Heilige verehrt wurde. Man sah die Menschenmenge auf der Straße vor ihrer Hütte, die Orangen und Süßkartoffeln, die man ihr darbrachte. Ein kleiner Junge nahm feierlich die Geschenke entgegen, dann fiel die Tür wieder zu. Die Menschen auf der Gasse knieten nieder und beteten. Es wurde gemeldet, elf von dreißig britischen Freiwilligen, denen neue Medikamente gegen MTS verabreicht wurden, seien nach unvorhergesehenen Komplikationen gestorben. Die Polizei hatte eine öffentliche Vorführung des MTS-Films von FLAME abgebrochen, nachdem es zu Tätlichkeiten zwischen Zuschauern und den Müttern für das Leben gekommen war, die dagegen demonstrierten. Ich schaltete den Fernseher aus. Ich spürte den Widerhall der zornigen Ohnmacht auch in mir hochkochen, dann erinnerte ich mich und lachte erleichtert auf. Ich tat wenigstens etwas und hatte keinen Grund, mich mit diesen … Albernheiten zu beschäftigen. Der Druck in meinem Kopf entwich wie der Dampf aus einem Kessel mit kochendem Wasser.

Ich saß da, schaute den leeren Bildschirm an und umarmte das wundervoll scharfe Messer meines Geheimnisses. Ich war froh darüber, dass ich sterben würde, denn das war die einzige perfekte Lösung für das ganze Durcheinander und das Leid. Die Vorstellung glich einer lieblichen grünen Oase in der Wüste; ein Ort der Kühle und des Schattens.

In der Stille klingelte auf einmal mein Handy – Sal. Sie hatte eine Neuigkeit zu verkünden. Sie teilte mir mit, sie und ihre Mum hätten lange miteinander gesprochen und wären zu einer Entscheidung gelangt. Sie wollten wegziehen.

»Warum? Wohin zieht ihr?«

»Wir ziehen nach Glossop, im FLAME-Haus sind noch zwei Zimmer frei.«

»Aber Sal – wie sollen wir uns dann treffen? Glossop ist meilenweit entfernt!«

»Wir können mit dem Bus fahren. Wir können uns in Ashton treffen.«

Wie lange würde es dauern, bis sie das Haus verkauft hätten und wegzögen? Mir wurde klar, dass es belanglos war, denn ich würde vielleicht schon vorher sterben. »Soll ich vorbeikommen?«

»Ja.«

Ich brannte darauf, es ihr zu erzählen. Mr. Golding hatte gemeint, wir sollten mit niemandem über unser Interesse an dem Programm sprechen, aber hier ging es um Sal. Es kam mir so vor, als hätte ich ein Geschenk für sie – ein süßes Stück Ruhe, ein Versprechen von Frieden. Einen verrückten Moment lang stellte ich mir vor, sie würde darauf antworten: »Fantastisch! Ich melde mich auch an, wir machen das gemeinsam!« Dann wäre sie endlich die in ihr brodelnde Wut losgeworden.

Als ich ihr gegenüberstand, was es nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie war angespannt und nervös, klapperdürr und ganz in Schwarz gekleidet. Im Haus war es kalt, und als wir nach oben auf ihr Zimmer gingen, erschrak ich über die leeren Regale und die an der Wand gestapelten Kartons. »Wann zieht ihr um?«

»Bald. Noch in dieser Woche. Sobald Mum sich einen Wagen ausleihen kann.« Sie räumte Sachen vom Bett, damit wir uns setzen konnten. »Mum meint, das Leben wird billiger, wenn wir uns mit anderen zusammentun.«

»Stimmt.« Ich bedauerte, dass ich mich ihr nicht einfach anschließen konnte. Wahllos nahm ich ein paar Sachen aus dem Karton neben dem Bett. Es war Spielzeug, mit dem sie als Kind gespielt hatte. Sie schenkte mir zur Erinnerung die aufziehbare Nonne. »Ihr nehmt alles mit? Verkauft deine Mum das Haus?«

»Die Wohnungsbaugesellschaft nimmt es zurück.«

»Warum kann sie’s nicht verkaufen?«

»Ist dir nicht aufgefallen, wie viele Häuser neuerdings zum Verkauf stehen?«

Ich kannte den Grund, o ja, ich kannte ihn. Überall gab es verrammelte Häuser. Aber ich fragte trotzdem: »Warum stehen so viele zum Verkauf?«

»Wegen all der toten Frauen.«

»Aber deren Männer und Kinder müssen doch auch irgendwo wohnen.«

»Glaubst du etwa, es wären keine alleinerziehenden Mütter gestorben? Glaubst du, die Kinder könnten alleine da wohnen bleiben?«

Sals Mutter war alleinerziehend, doch Sal hatte noch nie so gereizt auf das Thema reagiert. »Tut mir leid.« Aber die verstorbenen alleinerziehenden Mütter waren keine ausreichende Erklärung für die vielen leer stehenden Häuser. Vielleicht zogen die Leute weg, so wie Sal und ihre Mum, zogen mit anderen zusammen, um Geld zu sparen und sich zusammenzuschließen. In Erwartung des Schlimmsten. Sobald die Leute wieder Hoffnung hätten, würde sich das ändern. Ich konnte mich nicht länger bezähmen. »Sal, hast du schon von den tiefgefrorenen Embryos gehört?«

»Von den alten? Aus der Zeit vor MTS

»Ja. Man kann sie gegen MTS impfen.«

»Die können sie impfen bis zum Gehtnichtmehr, sie müssen sich trotzdem etwas einfallen lassen, um sie zu inkubieren.«

»Wie meinst du das?«

»Sie werden keine bedauernswerten Schlafenden Schönen mehr missbrauchen.«

»Warum nicht?«

Sie funkelte mich an, als wäre ich eine Idiotin. »Weil FLAME sie daran hindern wird!«

»Wie das?«

»Wir werden dafür sorgen, dass keine jungen Frauen mehr einer Gehirnwäsche unterzogen werden, bis sie einwilligen, sich zu Tode foltern zu lassen. Es wird eine Kampagne geben, ausgerichtet auf junge Frauen. Wir werden sie darüber aufklären, dass man vorhat, sie in Zombies zu verwandeln.«

Ich fischte ein Legoteil aus dem Karton hervor. Einen Klumpen aus blauen und roten Steinen, der auf einer grünen Fläche befestigt war. Ich nahm ihn auseinander und baute eine Treppe daraus, setzte einen Stein versetzt auf den anderen. »Glaubst du nicht, dass einige von ihnen es sich gut überlegt haben?«

»Nein«, sagte sie. »Schlafende Schöne sind auch nur Selbstmörderinnen. Das ist ein Hilferuf.«

»Ich glaube, man kann durchaus bei wachem Verstand sein und zu dem Schluss kommen, dass es sich lohnt.«

»Weshalb sollten Frauen ihr Leben opfern? Eine Lösung wird es nur dann geben, wenn die Frauen sich kategorisch weigern, weiterhin Opfer zu sein.«

»Glaubst du das wirklich?« Die Treppe führte ins Leere. Ich warf sie in den Karton.

»Wenn jemand sagt, ach, mein Leben ist nicht so wichtig, ich opfere mich, damit du ein Kind haben kannst, was wird der Mann darauf erwidern? Nein, danke? Jedes Mädchen, das eine Schlafende Schöne werden will, macht es für uns Überlebende nur noch schlimmer.«

»Was will FLAME gegen die Freiwilligen unternehmen?«

»Wir werden gar nichts unternehmen. Wir werden den Männern sagen, es ist an der Zeit, dass sie etwas unternehmen. Sollen sie doch ihr Leben aufs Spiel setzen.« Ich dachte an die Medikamententester, fast ausschließlich Männer. Aber die Unterhaltung drehte sich im Kreis.

»Wirst du weiter aufs College gehen, wenn du in Glossop wohnst?«

»Meine Mum möchte das. Sie kennt jemanden, der mich mitnehmen kann. Aber warten wir’s ab.« Alles, was Sal sagte, klang irgendwie gereizt. Ich erkundigte mich nach ihrem kleinen Cousin, doch den hatte man immer noch nicht gefunden. Ich sagte, ich müsse gehen. »Du solltest auch nach Glossop kommen. Mach bei FLAME mit. Du könntest die Botschaft unter den Studentinnen verbreiten, bei den Verrückten, die überlegen, sich freiwillig zu melden.«

Ich sagte ihr, ich wolle drüber nachdenken. Als wir nach unten gingen, sagte sie: »Es ist hier nicht mehr wie früher.« Die Tür zum Wohnzimmer stand weit offen, und wir schauten beide hinein. Es war sauber und aufgeräumt, doch ich erinnerte mich noch gut, wie es an jenem Abend ausgesehen hatte, mit den Fast-Food-Tabletts, den Bierdosen, den Flaschen und dem Geruch. »Ich habe Albträume«, sagte sie. »Vielleicht hören sie auf, wenn ich in einem anderen Haus wohne.«

»Ach, Sal …« Wir umarmten uns am Fuß der Treppe, und ich bekam feuchte Augen. Ich hätte sie gern aufgemuntert, doch das Einzige, was mir einfiel, war das, was sie verabscheute. Ich hatte nichts anderes im Kopf als »Bitte lass es enden, bitte lass es bald enden«. Wie ein im Viehtransporter eingepferchtes Kalb auf dem Weg zum Schlachthof.

Ich schlich mich nach unten und checkte um sechs Uhr morgens, bevor Mum aufstand, meine E-Mails. Dad hatte noch nicht geantwortet, doch ich wusste, er würde sich melden. Ich wollte ihm Zeit lassen bis zum Abend. Ich frühstückte mit Mum, und sie berichtete mir, dass es Mandy viel besser gehe und dass Paul der Pfleger anscheinend wahre Wunder bewirke. Als sie zur Arbeit gegangen war, machte ich mich fertig fürs College. Ich hatte das Gefühl, ich müsse platzen, wenn ich es nicht bald jemandem erzählte, aber solange Dad nicht auftauchte, wollte ich nicht mit Mum reden. Sal kam nicht infrage; Baz hatte genug Sorgen mit seinen Eltern und Nats dummen Plänen; und Dad – weshalb meldete er sich nicht? Würde er überhaupt nicht mehr heimkommen? Was wäre, wenn wir heute Abend tatsächlich zur Polizei gehen müssten? Ich rief mir mein Vorhaben in Erinnerung. Panik und Erleichterung, Panik und Erleichterung, beide Gefühle wechselten sich bei mir ab, als würde elektrischer Strom an- und abgeschaltet.

Draußen war gefrierender Nebel, der im Mund nach schalen Eiswürfeln schmeckte. Alle Geräusche waren gedämpft. Ich hatte keine Lust, zum College zu fahren. Es musste doch jemanden geben, mit dem ich reden könnte, und wenn ich schon mein Geheimnis nicht preisgeben wollte, wollte ich wenigstens ein bisschen plaudern.

Mir fiel Mandy ein. Sie würde sich wenigstens freuen, wenn ich sie besuchte. Und sie wusste über Mums Affäre Bescheid; ich könnte sie wegen Dad um Rat fragen. Ich ging an der Bushaltestelle vorbei zur Hauptstraße, wo nacheinander mehrere Rettungswagen mit Blaulicht aus dem Nebel auftauchten. Wenn nun Dad in einem davon läge? Ich fuhr mit dem Bus zu Mandy.

Die Vorhänge an ihrem Haus waren noch zugezogen, obwohl es schon nach neun war. Wenn es ihr so viel besser gegangen wäre, dann hätte sie um diese Zeit doch bestimmt nicht mehr im Bett gelegen? Einen Moment lang bedauerte ich, hierhergefahren zu sein. Doch ich sagte mir, sei nicht blöd, marschierte zur Haustür und klingelte. Offenbar hatte sie im Flur gewartet, die Hand auf der Türklinke, denn sie machte sofort auf. Ihr Haar war schimmernd schwarz, und sie hatte sich stark die Augen geschminkt, wie ich es an ihr so gemocht hatte, als ich noch klein war – dunkle Kajalringe und jede Menge Mascara. Sie schien überrascht, mich zu sehen, und spähte hinter mich in die weiße Suppe. »Ich bin allein gekommen«, sagte ich. »Mum ist auf der Arbeit.«

Sie hielt mir die Tür auf, und da stieg ich die Treppe hoch. Es duftete nach brennenden Räucherstäbchen. Im Haus war es gemütlich und aufgeräumt. Im Wohnzimmer brannten Kerzen, gedämpfte Sitarmusik war zu hören. Die türkisfarbenen Wände schienen zu leuchten. Vielleicht hatte sie meditiert. Yoga war eine der wenigen Marotten, über die Mum niemals klagte. Sie folgte mir ins Wohnzimmer.

»Willst du ausgehen?«, fragte ich. »Du siehst fantastisch aus.«

»Wie spät ist es?«

»Halb neun.«

»Da hab ich noch ein bisschen Zeit. Möchtest du etwas trinken?«

Wir gingen in die Küche, und sie machte Tee. »Also, was führt dich an einem Dienstag zu so früher Stunde zu mir? Solltest du nicht im College sein?«

»Hat Mum dir nichts erzählt?«

»Was denn?«

»Das mit Dad.«

Sie schüttelte den Kopf. Dabei hatte Mum sie doch am Vorabend besucht! Ich erzählte ihr von dem Streit und dass Dad aus dem Haus gestürmt sei.

»Ach, Jess, das tut mir leid …« Sie kam zu mir und nahm mich in die Arme, und da war es aus mit meiner Selbstbeherrschung; ich brach in Tränen aus. Sie war so freundlich, und das brachte mich zum Weinen. »Es wird bestimmt alles wieder gut«, sagte sie. »Das renkt sich wieder ein.«

Ich erzählte ihr, dass Dad nicht wieder aufgetaucht sei und dass wir seitdem nichts von ihm gehört hätten.

»Der kommt schon wieder. Lass ihm Zeit, seine Wunden zu lecken. Er ist schuld, Jess, er wird sich nicht aus dem Staub machen.«

»Aber ich weiß nicht, was jetzt werden soll!«

Sie lachte mich freundlich aus. »Sieh mal, Cath und Joe waren schon einmal zusammen hier. Das war, als sie dahintergekommen war, dass er eine Affäre hatte. Nein, Jess, sieh mich nicht so an, das ist schon lange her. Sie haben schwere Krisen, und dann küssen und versöhnen sie sich wieder. In einem Monat hat sich alles wieder normalisiert.«

»Weshalb haben sie geheiratet, wenn sie solche Sachen machen?«

»Sie sind jetzt seit siebzehn Jahren zusammen. Glaubst du, da würden sie jetzt auseinandergehen?«

»Ich wünschte, sie würden sich trennen. Das wäre ehrlicher.«

»Nein, das wünschst du dir nicht. Wenn sie sich trennen würden, müsstest du an zwei Orten wohnen, das wäre schrecklich unbequem. Du musst das im richtigen Verhältnis sehen. Sie sind doch nur deine Eltern!«

Es war schwer, sie nicht ernst zu nehmen, während das schweigende Handy ein Loch in meine Hosentasche brannte. »Ich habe das Gefühl, Dad ist sauer auf mich. Ich denke, er glaubt, ich hätte Bescheid gewusst …« Ich sah sie an, doch sie schwieg. »Du hast es gewusst, nicht wahr?«

»Jess, es geht hier um Cath und Joe. Niemand sonst ist verantwortlich, und niemand sonst braucht sich schuldig zu fühlen.«

Ich putzte mir die Nase und packte den Aprikosenkaugummi aus, den sie mir gegeben hatte. Sie merkte sich immer, was ich gerne mochte. Schluss mit den Kindereien; sie hatte recht. Sie waren nur meine Eltern, und nur weil sie ein großes Durcheinander angerichtet hatten, hieß das nicht, dass ich mich davon runterziehen lassen musste.

»Findest du, ich sollte sie einfach nicht beachten?«

»Genau das. Stell dir vor, du hättest es mit zankenden Kindern zu tun – sie werden sich schon wieder vertragen. Gibt es nicht wichtigere Dinge, mit denen du dich beschäftigen solltest?«

Ich biss mir auf die Zunge. Wie kam sie darauf? Ich schmeckte Blut. Schließlich nickte ich.

»Na bitte. Konzentrier dich auf dich selbst. Im Teenageralter sollten die Eltern in den Hintergrund treten – immer für dich da sein, wenn du sie brauchst, dich unterstützen, aber nicht im Mittelpunkt stehen – nicht ums Scheinwerferlicht buhlen. Und das war das Wort zum Sonntag!«

Sie wusste Bescheid. Weil sie sich selbst so sehr ein Baby wünschte. Wir saßen da und grinsten einander an, dann sah Mandy auf die Uhr. »Jess, du musst jetzt gehen, ich muss mich fertig machen.«

»Wer ist denn der Glückliche?«, fragte ich.

»Oh, es ist kein Mann – wie kommst du denn darauf? Ich gehe zu einer Versammlung, ich muss zu einer Versammlung gehen.« Sie geleitete mich aus der Küche. Es war immer ein kleiner Schock, aus ihrer Wohnung mit den hellen Farben in den schäbigen Flur zu treten. Die Mieter auf den unteren Etagen hatten braune Türen, die streifige Farbe sollte wie Holzmaserung aussehen.

»Worum geht es denn?«

»Das erzähle ich dir später, Jess, okay?« Sie öffnete bereits die Tür. »Du wirst es als Erste erfahren. Aber bitte sag Cath nicht, dass du mich heute getroffen hast.«

»Das werd ich nicht. Und erzähl du ihr auch nichts – du weißt schon, was ich meine.«

Mandy nickte. Sie küsste mich flüchtig auf beide Wangen und schloss hinter mir gleich die Tür, als hätte sie Angst, von der Straße könnte etwas ins Haus eindringen.

Als ich losging, begegnete mir ein Mann, der Hallo zu mir sagte. Es war Paul, der Pfleger, den Mum eingestellt hatte, damit er sich um Mandy kümmerte. Sein Haar war feucht, und er hatte es sich zurückgekämmt. Offenbar hatte er es gerade erst gewaschen, und er sah ein wenig aus wie ein freundlicher Seehund. Da wird sie sich aber ärgern, dachte ich. Eine weitere Störung! Ich drehte mich um, denn ich wollte wissen, ob sie ihn einlassen würde. Er ging zur Haustür, dann schien das Gebäude ihn zu verschlucken; im Nebel verschwamm alles. Ich hörte, wie die Tür gedämpft zufiel. Vielleicht begleitete er sie ja zu der Versammlung.

Im Gehen lächelte ich vor mich hin. Ich hatte das Gefühl, sie habe mir ihren Segen erteilt. Sie verstand mich. Sie wusste, dass ich es auch für sie tat. Sie begriff, dass dies wichtiger war als Mums und Dads Kindereien. Sie freute sich für mich! Jetzt konnte ich die weiße Sonnenscheibe sehen, die durch den Nebel lugte. Mandy war die Erste, die von meinem Geheimnis erfahren hatte, und es gab keinen besseren Mitwisser als sie.