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Und dann war es geschehen.
Ich lief aus der warmen Klinik hinaus, denn ich wollte nicht mit den anderen Mädchen sprechen. Aus der Drehtür ins Freie zu kommen war wie ein Sprung in eisiges Wasser. Meine Gesichtshaut spannte in der Kälte. Erst als ich an der Bushaltestelle angelangt war, fiel mir ein, dass gestreikt wurde.
Ich war zu Fuß von der Haltestelle zur Klinik gegangen, aber jetzt konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Meine Herzschläge waren wie die Tritte eines Fußballspielers; er malträtierte meinen Brustkasten mit Tritten, sodass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Ich lehnte mich ans Wartehäuschen und bemühte mich, gleichmäßig zu atmen: ein, aus, ein, aus, versuchte, das Ding in meiner Brust dazu zu bringen, dass es mich in Ruhe ließ. Ich legte die Hände um den Mund und fing meinen warmen Atem auf, tat so, als wäre dies die Papiertüte, die Sal bei ihren Panikattacken benutzte. Saugte die verbrauchte Luft in die Lunge. Dad hatte Sal einmal die Tüte abgenommen, sie an den Mund gelegt, wie einen Luftballon aufgeblasen und dann mit einem Schlag platzen lassen. Der Knall war laut genug, um einen in Panik zu versetzen, wenn man nicht schon welche hatte. Ich schaltete mein Handy ein und starrte es an, während das Display hell wurde. Keine Nachrichten.
Ich sagte mir, ich könne laufen. Wenn ich nur schnell genug ging, würde ich im Getöse der Straße aufgehen, im dahinströmenden Verkehr, im fernen Gellen der Sirenen, würde untergehen und darin verschwinden, von der nächsten anrollenden Woge verschluckt werden. Je schneller ich ging, desto regelmäßiger müsste mein Herz schlagen, denn es konnte mir nicht aus der Brust springen wie ein verrückter Frosch; schließlich musste es seine Arbeit tun.
Am Rande des Gehsteigs stöhnte leise ein Mann. Ich sah im Vorbeieilen seine Füße; er trug Frauenstiefel aus Wildleder mit Pelzbesatz. Ich wünschte, alle diese Männer würden mitsamt ihrem Elend einfach verschwinden. Es war mir zuwider, an unbewohnten Häusern vorbeizugehen. Zerbrochene Fenster, eingetretene Türen, jemand hatte im Vorgarten ein Feuer gemacht, und da stand ein halb verbranntes Sofa mit herausquellenden Federn. Ich schob mir die Mütze in die Stirn, schlug den Kragen hoch und ging schneller. Praktisch rannte ich. Von der nächsten Straßenecke an waren die Häuser bewohnt, mit ordentlich gestutzten Hecken und Rollläden, da konnte ich wieder langsamer gehen.
Jetzt endlich formte sich der Gedanke und wärmte mich von innen wie ein glühendes kleines Geheimnis, das ich verschluckt hatte, eine geröstete Kastanie. Ich hatte es getan! Ich hatte es tatsächlich getan!
Die Straßensperre sah ich zu spät. Wenn sie einen erst mal bemerkt haben, wirkt es verdächtig, wenn man umkehrt. Ich wartete hinter einer Frau mit Einkaufstüte, sie war ungeduldig und versuchte die Polizistin auf sich aufmerksam zu machen. Die Polizistin aber durchsuchte gerade einen merkwürdigen Typ und war gefordert, weil er sie begrapschen wollte. »Strecken Sie bitte die Hände gerade aus. Ganz gerade.« Und: »Behalten Sie die Hände bei sich, Sir, vielen Dank.«
Sie tastete oberflächlich seine Kleidung ab, er hätte einen Sprengstoffgürtel tragen können, ohne dass sie es bemerkt hätte. Sie wollte ihn einfach nur loswerden. Die vor mir stehende Dame sagte: »Ich war bloß einkaufen, Officer. Ich muss nach Hause; meine Enkelin wird bald aufwachen …« Die Polizistin winkte sie durch. Und dann hatte sie natürlich ein schlechtes Gewissen, leerte meinen Rucksack aus und blätterte sämtliche Bücher und Mappen durch, dann meinte sie, ich solle alles wieder einpacken. Die ganze Wärme, die ich erzeugt hatte, verflüchtigte sich, und mir war nach Weinen zumute. Am liebsten hätte ich sie gefragt: Dürfte ich den Nachmittag über in Ihrem Wachhäuschen bleiben, mich so lange darin verkriechen, bis ich mir über meine Gefühle klar geworden bin?
Nieselregen setzte ein, eiskalte Nadeln an meiner Haut. Am Bahnhof suchte ich mir auf dem Fahrplan den Zug nach Ashton heraus und ging über den schmutzigen Vorplatz zur Treppe, die zum Bahnsteig 4 hochführte. Mich überkam ein seltsames Gefühl. Ich war schon Hunderte Male hier gewesen, hatte den trockenen, bitteren Bahnhofsgeruch eingeatmet und die ständigen Ansagen, dass herrenlose Koffer zerstört würden, den Lärm der Züge und das Piepen der sich öffnenden Türen über mich ergehen lassen, war über den geborstenen, im nassen Zustand rutschigen Boden mit den gelben Warndreiecken gegangen und hatte mich bemüht, alles Hässliche auszublenden. Wie würde es sein, das alles nie mehr wiederzusehen? Man will es nicht sehen, es ist schrecklich. Aber wenn man sich vorstellt, es nie wieder zu sehen, will man es doch wieder an sich heranlassen.
Ich riss mich zusammen. Warf einen Blick aufs Handy. Stieg die Treppe zur Überführung hoch und an der anderen Seite zum Bahnsteig hinunter. Aber ich starrte alle an, die mir begegneten; ich dachte, ich kenne euch nicht und werde euch wahrscheinlich nie wiedersehen. Eine seltsame Vorstellung, dass ich nie die Möglichkeit haben werde, diese Unbekannten jemals kennenzulernen.
Der Zug fuhr ein und schob eine Hitzewolke vor sich her. Ich ließ mich auf einen Sitz fallen und beschwor die Klinik herauf. In mir war ein kraftvoller, leuchtender Kern, den außer mir niemand sehen konnte, so wie den glühenden Erdkern. Er setzte sich zusammen aus Mr. Goldings klugem, freundlichem Gesicht, dem klaren Weg, den wir beschreiten würden, dem polierten Tisch und dem süßlichen blauen Duft der Hyazinthen. Es war real. Es war in mir, in Jessie Lamb. Die Räder ratterten auf den Schienen, und ich glaubte das Gewicht zu spüren, das die Lok zu ziehen hatte.
In der Klinik hatten wir uns fasziniert angeschaut, bevor Mr. Golding hereinkam. Es war, als betrachteten wir uns selbst; die anderen Mädchen, die es ebenfalls tun wollten, waren auf einmal meine Schwestern. Wir waren zu fünft. Ich mochte das Mädchen, das mir gegenübersaß. Sie hatte ihr Haar zu lauter kleinen Zöpfen geflochten und sah lächelnd zu mir auf, als ich meinen schweren Stuhl über den Teppich zum Tisch schieben wollte. Die junge Frau am Tischende tat so, als würde sie lesen.
Ich kannte Karen vom Labor meines Dads her, und dachte, die ist doch bestimmt zu alt dafür? Mitten auf dem Tisch stand eine Schale mit blauen Hyazinthen, deren glatte Oberfläche spiegelte. Im Wartezimmer war alles so warm und hell, dass ich mir die Augen reiben musste. Und dann traten Mr. Golding und zwei Krankenschwestern ein, und er war mollig und kahlköpfig und lächelte so freundlich wie Humpty Dumpty. Mit seinem fremdartigen Akzent erklärte er uns in ruhigem, freundlichem Ton alles, was wir wissen müssten. Die Klinik würde unsere Privatsphäre schützen, und wir wären im Gegenzug verpflichtet, niemandem von unserem Interesse an dem Programm zu erzählen. Eine der Schwestern schaltete ein Aufzeichnungsgerät ein, »aus rechtlichen Gründen«, wie er uns erklärte.
Er schilderte uns, was bei einer Implantation vor sich ging. Er sagte, in der gegenwärtigen Lage »gibt es nur wenige Szenarien, die Anlass zu Hoffnung geben«, und dies sei eines davon. Und er sagte, wir würden das Opfer nicht nur für dieses eine Kind erbringen, sondern für alle Nachkommen dieses Kindes – für die Kinder der Zukunft. Das Mädchen an der Tür brach in Tränen aus, und eine Krankenschwester geleitete es hinaus.
Ich breitete die Hände auf dem glänzenden Tisch aus und dachte, das ist kein Traum. Hier an diesem Ort hat man die Macht, Dinge wahr werden zu lassen. Mr. Golding gab uns einen Zeitplan. Wenn wir noch Interesse hätten, sollten wir uns zu einer medizinischen Untersuchung anmelden. Wenn das Ergebnis positiv ausfalle, müssten wir an einer Beratung teilnehmen, die uns helfen solle, uns über unsere Motive klar zu werden und mit unserer Entscheidung ins Reine zu kommen, egal, wie sie ausfalle. Zuletzt gäbe es noch ein persönliches Gespräch, und dann würden wir entweder angenommen oder abgewiesen werden.
Er wollte wissen, ob wir Fragen hätten, doch wir hatten keine. Er lächelte blinzelnd, und ich bemerkte, dass seine Krawatte mit blauen und grünen, sich gegenseitig überlappenden Fischen gemustert war. Bei jedem anderen hätte sie lächerlich gewirkt, doch ihm stand sie. Er hat so eine wache, forschende Art, einem ins Gesicht zu sehen und einem das Gefühl zu geben, als würde man ihn schon seit einer Ewigkeit kennen. »Über eines sollten Sie sich von Anfang an vollkommen im Klaren sein, meine Damen. Niemand wird gezwungen, diesen Schritt zu tun. Haben Sie mich verstanden? Es steht Ihnen frei, jederzeit wegzugehen; heute, nächste Woche, an dem Tag vor der Implantation.« Er breitete die Arme aus. »Das ist überhaupt kein Problem. Wenn Sie es sich anders überlegen, bin ich glücklich. Sie sind jung. In der Jugend ist das Immunsystem stärker. Deshalb suchen wir Sechzehnjährige. In einigen Ländern werden noch jüngere Mädchen genommen.« Er schaute uns an, dann nahm er seine funkelnde runde Brille ab und rieb sich die Augen. »Sie besitzen großen Mut, junge Damen. Dem Gesetz nach sind Sie alt genug, um ein Kind zu bekommen. Aber vergessen Sie nicht, dass Sie in den Augen Ihrer Eltern selbst noch ein Kind sind. Ich bitte Sie, mit Ihren Eltern zu sprechen und auf ihren Rat zu hören. Und jetzt überlasse ich Sie der Obhut der freundlichen Schwester Garner.« Er deutete eine ernste kleine Verneigung an und wandte sich zur Tür. Schwester Garner lächelte ihn an und trat mit ihrem Notizblock vor; wir könnten uns jetzt für die Voruntersuchung anmelden, wenn wir noch Interesse hätten. Das tat ich auch.
Der Zug machte ein schwirrendes Geräusch, als drehten die Räder durch, dann endlich nahm er Geschwindigkeit auf. Ich sah aufs Handy. Nichts. Ich überlegte, ob Mum mich fragen würde, wo ich gewesen sei, und was ich ihr darauf antworten sollte. Ich hatte die Idee, Dad eine Mail zu schicken, ihm mitzuteilen, ich hätte eine wichtige Neuigkeit, und ihn zu bitten, nach Hause zu kommen, damit ich ihm alles erzählen könnte. Ich würde es ihnen beiden zugleich erzählen. Wie stolz sie auf mich sein würden!
O ja, daran erinnere ich mich, und ich weiß noch genau, wie froh mich der Gedanke machte, dass er nach Hause kommen würde. Wie blöd kann man eigentlich sein?