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In den nächsten Tagen waren die Nachrichten voll mit Meldungen zu den Schlafenden Schönen – darunter auch Neuigkeiten zu den Embryos aus der Zeit vor dem Ausbruch von MTS. Es wurde der Verdacht geäußert, die Kliniken setzten unlautere Methoden ein, um junge Frau dazu zu bewegen, sich für das Programm zu melden; es fließe Geld; es seien sogar Mädchen entführt und unter Drogen gesetzt worden. Es wurde eine Menge über die leiblichen Eltern der tiefgefrorenen Embryos berichtet – ihre Rechte hätten Vorrang, und sie hätten vielleicht Einwände gegen die experimentelle Verwendung ihrer Embryonen. Ich sah fern, um auf dem Laufenden zu bleiben, deshalb bekam ich es auch gleich mit, als der Wettenhall-Film gepostet wurde.

Ich sah ihn im Internet. Er war grausam – dunkle, schattenhafte Bilder eines Betonbaus, der an ein vielstöckiges Parkhaus erinnerte, mit Hunderten von Drahtkäfigen, in denen bemitleidenswerte Tiere eingesperrt waren. Verängstigte Affen, die sich an die Gitterstäbe klammerten und in die Kamera schnatterten; kranke Affen mit trübem Blick, die in den Käfigecken lagen und kraftlos am Schorf oder an den Schläuchen in ihren Armen und Beinen kratzten; komatöse Affen, festgeschnallt und mit Überwachungsgeräten verkabelt, das Fell bis auf die nackte rosige Haut abrasiert. Es gab verkabelte nackte Schafe, festgeschnallt wie Astronauten in einem Spaceshuttle; Käfig um Käfig gestapeltes Elend. Manche Tiere lagen tot in ihrem Erbrochenen.

Ich verstand, weshalb Nat so aufgebracht war. Man konnte sich das nicht anschauen, ohne wütend zu werden. Man mochte kaum glauben, dass Menschen dafür verantwortlich waren. Ich dachte daran, wie Dad munter über transgene Schafe geplaudert hatte, als gehe es dabei nur um Wissenschaft. Um saubere, ordentliche, schmerzlose Wissenschaft. Entweder er wusste nicht, was da vor sich ging, oder, wenn er das für in Ordnung hielte – also, dann war ihm einfach nicht zu trauen. Ich schaltete den Rechner aus und ging in die Küche.

Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt stand ich auf der Kippe zwischen Weitermachen und Aussteigen. Die hässliche Seite der Wissenschaft, die Medikamente, die Schläuche und Apparate widerten mich an. Wenn ich mich dem überließ, wäre auch ich eines dieser Schafe. Und wenn ich, wie Dad gemeint hatte, womöglich sterben würde, ohne ein Kind zur Welt zu bringen – grundlos sterben … oje.

Wie wäre es zu sterben? Ich stellte mir vor, dass es so wäre wie vor meiner Geburt, als ich nichts empfand, ein traumloser Schlaf. Aber mir vorzustellen, keinen Sonnenschein mehr zu sehen, morgens nicht aufzustehen und mir zu überlegen, wie der Tag wohl verlaufen würde. Nicht den weichen Baumwollstoff zu spüren, wenn ich mir das T-Shirt überzog. Beim Zähneputzen keine schmerzenden Finger vom kalten Wasser zu bekommen. Nicht mit einer Hand die Tür des Küchenschranks zu öffnen, mit der anderen den Hebel des Toasters runterzudrücken und im Rhythmus eines Songs aus dem Radio mit den Füßen zu wippen. Nicht mehr etwas Buntes im Garten zu bemerken – o wie schön, eine Blume! – und dann festzustellen, dass ein Fuchs im Müll gestöbert und ihn auf dem Rasen verteilt hat, und in den Hausschuhen rauszugehen und ihn aufzulesen und die feuchte Kühle des Grases zu spüren, die an den Sohlenrändern in die Schuhe sickert, und zu sehen, dass Mum und Dad nicht nur die Kartoffelschalen weggeworfen haben, die eigentlich in den Kompost gehören, sondern auch die Konservenbüchsen, die recycelt werden sollen, und im kalten Garten zu stehen, mich zu ärgern und gleichzeitig die frische Luft im Gesicht und die in meine Füße kriechende Kälte zu genießen, mit den Gedanken bei all den Dingen, die heute passieren würden …

Zu sterben erschien mir einfach unmöglich.

Kaum war der Film der Tierbefreier gepostet worden, stürzten sich die Nachrichten darauf. Die ALF behauptete, alle diese Tiere gehörten zu dem transgenen Zuchtprogramm. Man habe an ihnen herumgedoktert, damit sie menschliche Embryos austragen könnten. Vielen von ihnen habe man bereits Embryos eingepflanzt, ohne die Zustimmung der Spender einzuholen. Am Forschungslabor sammelten sich Demonstranten – wahnsinnig viele Menschen, die den Verkehr auf der Schnellstraße lahmlegten. Auch am Flughafen tat sich etwas, der Verkehr zwischen Chester und Birmingham stand still. Ich starrte die Hubschrauberbilder von meilenlangen Staus an, als es an der Tür klingelte.

Da ich keinen Besuch erwartete, nahm ich an, es wäre die Post. Als ich die Tür öffnete, erlebte ich eine böse Überraschung. Iain. Ich hatte nicht gewusst, dass er meine Adresse kannte. Er hatte sein Rad am Tor angeschlossen und zog gerade den Regenumhang aus. Sein Gesicht war gerötet und nass. »Hi, Jess, kann ich dich einen Moment sprechen?«

Mir wurde ganz mulmig, und ich ließ ihn ein. »Was ist denn los?«

»Nichts. Nichts ist los. Wie geht es dir?« Er legte seinen Fahrradhelm und die nassen Sachen auf den Stuhl in der Diele. »Könnte ich ein Handtuch haben?«

Ich brachte ihm das Küchenhandtuch, und er rubbelte sich damit das Gesicht ab. Die Vorstellung, dass er den Küchenschmutz auf seiner verschwitzten Haut verteilte, war mir widerlich. Am liebsten hätte ich ihm das Handtuch entrissen und es in die Wäsche getan. Eilig ging ich ins Wohnzimmer, doch er folgte mir. Ich stellte den Fernseher stumm. »Du weißt, dass da Nats Gruppe dahintersteckt?«

»Ja. Ein glückliches Zusammentreffen von Protesten – gegen die Tierversuchsanstalt und am Flughafen. Die Polizei wird ganz schön zu tun haben.«

»Du meinst die Flughafenaktion von YOFI

Er nickte. »Endlich haben sie abgehoben.«

Ich merkte, dass er die Bemerkung nicht zum ersten Mal machte. »Ha, ha.«

»Ja«, meinte er und setzte sich. »Es war schwer, den Schwung aufrechtzuhalten. YOFI hat viele Anhänger verloren. Ein ständiges Rein und Raus.«

»Ich … ich hatte genug von dem ständigen Streit.«

»Ich weiß. Ich habe immer gewusst, dass du wirklich an die Gruppe geglaubt hast, Jess. Es tut mir leid, dass du weggegangen bist.« Er musterte mich mit seinem ruhigen, hypnotischen Iain-Blick, bis es mir richtig leidtat, dass ich ihn enttäuscht hatte.

»Die Sache ist die«, sagte er, »man braucht eine kritische Masse, damit eine Gruppe wie YOFI läuft. Ich glaube noch immer, dass sie viel erreichen kann, aber nicht für sich allein. Ich möchte, dass YOFI sich der Londoner New-World-Gruppe anschließt und im Norden eine Anhängerschaft aufbaut.«

»Das klingt gut«, sagte ich. »Eine gute Idee.«

»Ich hab gewusst, dass dir das gefallen würde, denn du bist sehr engagiert. Ich habe gehört, was du vorhast, Jess.«

»Wovon redest du?«

»Von dem Programm. Den MTS-freien Babys.«

»Das stimmt nicht! Das ist geheim.«

»Das ist sehr mutig von dir. Ich möchte dir sagen, dass ich stolz auf dich bin.«

Von wem hatte er das? Von Lisa? »Davon sollte niemand erfahren.«

»Keine Sorge, außer mir weiß bei YOFI niemand davon. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«

Im Fernsehen trafen zahlreiche Polizeiwagen vor Ort ein, und Einsatzkräfte mit riesigen Schutzschilden sprangen heraus.

»Ich möchte dich bitten, dass du YOFI die Öffentlichkeitsarbeit zu deiner Teilnahme am Programm überlässt.«

»YOFI? Aber ich bin doch nicht mal mehr Mitglied.«

»Darum geht es nicht. Hör zu. Wie die Presse das Thema handhabt, ist scheiße – der gönnerhafte Umgang mit den Freiwilligen, die Beleidigungen gegen Mädchen, die unglaublich tapfer sind. Wenn wir uns um deine Publicity kümmern, kann ich dir garantieren, dass die Menschen deine Beweggründe verstehen werden; dass du ein politisch denkender Mensch bist und eine verantwortungsvolle Entscheidung getroffen hast.«

»Aber ich brauche keine Publicity.«

»Jessie, die wirst du bekommen, ob du’s willst oder nicht. Willst du, dass sie dir Worte in den Mund legen und dich als leichtsinniges junges Dummchen darstellen, das nicht weiß, was es tut? Oder sollen alle erfahren, dass du dich aus ernsthafter Sorge um die Zukunft zu diesem uneigennützigen Schritt entschlossen hast?«

»Aber warum möchtest du, dass YOFI …«

»Wir könnten die Wirkung deiner Handlung verzehnfachen, verhundertfachen – begreifst du das nicht? Man wird nicht nur deine Beweggründe verstehen und achten, sondern du wirst Tausenden anderen jungen Menschen, die die Welt verändern wollen, ein leuchtendes Vorbild sein. Mit dir als Galionsfigur würden wir uns New World aus einer Position der Stärke heraus anschließen. Die Mitglieder müssen das Gefühl haben, sie hätten die Macht, etwas zu bewirken. Andere Mädchen werden sich freiwillig melden. Du wirst ihr Vorbild sein!«

Wäre es hilfreich, andere Mädchen zur Teilnahme am Programm zu motivieren? Ich dachte an Ursula Johnson. In gewisser Weise hatte sie mich inspiriert. »Aber das Programm ist geheim.«

»Natürlich. Ich möchte der Londoner New-World-Gruppe nur sagen, dass da was kommt, damit wir im Voraus planen können. Damit sie sehen, dass YOFI zum Einstand einen echten Knaller mitbringt.«

Ich verlor den Faden, denn in Wettenhall war etwas passiert. Auf dem Bildschirm wogten Rauchwolken. Eine Explosion? Iain schaute ebenfalls hin.

»Hoffentlich war das keine Bombe«, sagte er. »Was können sie noch bewirken, wenn man sie festnimmt?« Wir starrten auf den Fernseher. Flammen schlugen aus den Gebäuden, es brannte. »Beim Protest geht es um Effektivität«, fuhr er fort. »Darum, Menschen für ihre Sache zu mobilisieren und sich zahlenmäßig Gewicht zu verschaffen. Deshalb ist dein Vorhaben so erstaunlich.« Er schaute mich unverwandt an. Seine Augen erinnerten mich an eine Eule.

Ich wusste, er hatte recht – es war wieder wie in alten Zeiten. Er hatte das große Ganze im Blick, Ursache und Wirkung, nicht nur das Naheliegende. Er hatte recht – was nützte es, wenn Nat und Baz verhaftet wurden? Vielleicht würde ich Baz nie wiedersehen. Ich hatte das Gefühl, mein ganzer Bauch ziehe sich zusammen.

Iain erhob sich. »Okay, danke, Jess. Das ist für alle das Beste – in politischer Hinsicht ist das, was du tust, reines Gold. Und ich kann dafür sorgen, dass Hunderte Mädchen in deine Fußstapfen treten. Du bist die Vorreiterin, die der Entscheidung Respekt verschaffen wird.« Er trat auf mich zu, und ich fürchtete schon, er wolle mich wieder küssen, doch dann reichte er mir nur die Hand. Sie fühlte sich heiß, feucht und fleischig an. Er ging in die Diele, um seine Regenkleidung anzuziehen. Ich stellte den Fernseher wieder lauter und winkte ihm durchs Fenster zu, als er das Fahrradschloss aufsperrte. Als er weg war, ging ich zur Haustür und schloss doppelt ab. Das Gefühl in meinem Bauch gefiel mir nicht. Ich war mir nicht sicher, ob ich richtig gehandelt hatte.