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Zu der Zeit zankten Mum und Dad sich ständig, und wenn sie einen Anlass fanden, schnauzten sie auch mich an. Ich nehme an, dass sie sich wegen MTS Sorgen machten, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie mit mir darüber gesprochen hätten. Ich erinnere mich nur an endlose Streitereien. Wenn ich morgens aufwachte, war schon dicke Luft, als wäre Gas ausgeströmt. Sie erledigten ihre Verrichtungen, ohne miteinander zu sprechen, gingen einander höflich aus dem Weg, behandelten mich übertrieben freundlich. So ging es manchmal tagelang, dann war irgendwann ohne erkennbaren Grund damit Schluss. Dad schenkte Mum zum Beispiel ein Glas Wein ein und reichte es ihr mit einer kleinen Verbeugung, oder er fragte sie, ob sie mit ihm eine DVD anschauen wolle. Und auf einmal war wieder alles gut. Weil sie sich dazu entschieden hatten. Der einzige friedliche Abend war der am Dienstag; Mum hatte Spätdienst im Krankenhaus, und ich und Dad aßen zusammen.

Dienstagabend in der Küche.

Dann legt Dad alle Zutaten säuberlich geordnet nebeneinander auf die Arbeitsplatte, wiegt und misst sie auf verschiedenen Tellern ab. Er hat eine alte Waage mit einer Metallschale an der einen Seite und kleine Messinggewichte, die man übereinanderstapelt, an der anderen Seite. Mum hat sie ihm zu Weihnachten geschenkt, und er liebt die Waage. Die Gewichte sind glatt und klobig und fügen sich zu einem hübschen Turm zusammen. Mum meint, er koche wie ein Wissenschaftler. Ohne exakt die richtigen Zutaten kocht er nicht.

Er steht da und wiegt; mit den gebeugten Schultern hat er ein bisschen Ähnlichkeit mit einem Affen! Er ist auch so behaart wie ein Affe, hat ein richtiges Fell auf der Brust. Wenn Mum mit mir ins Schwimmbad ging, starrte ich immer die seltsamen Männer mit ihrer nackten Brust an. Er hat breite Schultern und einen dicken Hals, aber kurze Beine, und wenn er sich umdreht und einen anlächelt, sieht man seine braunen Augen und zwei tiefe Lachfalten, die sich bei seinem wirklich äffischen Grinsen beiderseits des Mundes eingraben. Wenn er einen angrinst, muss man zurückgrinsen. Aber jetzt hat er schon lange nicht mehr gegrinst. Was vermutlich meine Schuld ist.

Dienstags machte ich meine Hausarbeiten immer am Küchentisch, und wir dachten uns perfekte Verbrechen aus, bei denen man nicht geschnappt wurde, und brachten uns gegenseitig zum Lachen. Wenn das Opfer zum Beispiel allergisch auf Bienenstiche reagiert, gibt man ihm einen Tropfen Honig auf den Kragen und lässt ein paar Bienen los. Wenn sie ihn in den Hals stechen, schwillt der an, und der Mann erstickt, bevor er Hilfe herbeirufen kann. Oder wenn man einen Toten wegschaffen will, setzt man ihn ins Auto und fährt in einen Safaripark. Wenn niemand zusieht, wirft man ihn den Löwen vor. Die fressen ihn auf, ohne dass Spuren zurückbleiben.

An einem Dienstag erklärte mir Dad, was es mit dem Muttertod-Syndrom auf sich hatte. Offenbar hatte es sich überallhin ausgebreitet. Die Gerüchte, wonach tief im Amazonasgebiet lebende Indianerstämme und die Eskimos im ewigen Eis davon verschont geblieben wären, hatten sich alle als falsch erwiesen. MTS war nicht auf den Westen oder die Erste Welt oder die großen Städte beschränkt. Es gab noch ein paar schwangere Frauen, doch deren Schwangerschaft war weit fortgeschritten; sie waren bereits vor dem Ausbruch von MTS schwanger geworden. Wenn diese Frauen ihre Kinder zur Welt gebracht hätten, würde es keine neuen Babys mehr geben.

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Wieso werden nur Schwangere krank?«

»Tja«, meinte Dad und setzte sich, um Kartoffeln zu schälen. »Bis vor hundert Jahren war die Schwangerschaft das gefährlichste Ereignis im Leben der Frauen und deren häufigste Todesursache.«

»Quell aller Weisheit«, sagte ich und verdrehte die Augen. So nenne ich ihn, wenn er vom Leder zieht. Doch er lächelte nicht.

»Willst du’s wissen oder nicht?«

»Ich will es wissen.«

»Also gut. Offenbar gibt es die verschiedensten Gründe, weshalb eine Schwangerschaft gefährlich ist. Das Baby kann zu früh oder zu spät kommen; es kommt möglicherweise nicht mit dem Kopf voran heraus, die Plazenta löst sich nicht richtig und so weiter. Aber klammert man alle physischen, mechanischen Faktoren aus, die schiefgehen können, bleibt ein Rest, der noch unheimlicher ist, weil man nämlich glaubt, diese Typen wären dafür verantwortlich.«

»Typen?«

»Die Terroristen. Bio-Terroristen, die das Virus entwickelt haben.«

»Was ist das?«

»Weißt du, was das Immunsystem ist?«

»Ja, es bekämpft Krankheitserreger.«

»Genau. Es kennt dich durch und durch und greift alles an, was nicht zu dir gehört. Alles Fremde in deinem Körper wird attackiert, um dich zu schützen. Und jetzt wird’s kompliziert. Wenn eine Frau schwanger wird, ergibt sich welches Problem?«

Ich überlegte angestrengt. »Meinst du das Baby? Weil das Baby eine andere Person ist?«

»Nah dran. Woraus besteht das Baby?«

»Hm. Aus Blut, Knochen …«

Er schüttelte den Kopf. »Ganz am Anfang.«

»Aus einer Eizelle.«

»Und weiter?«

»Und einer Spermie.«

»Danke. Und die stammt von jemand anderem. Und wenn das Baby wachsen soll, muss die Spermie überleben, und das gilt auch für die Zellen, die aus der Verschmelzung von Spermie und Ei entstehen. Das Immunsystem der Frau müsste sie aber eigentlich angreifen. Weil sie einen Fremdkörper im Organismus hat.«

»Verstanden.«

»Aber das tut es nicht. Bei den meisten normal verlaufenden Schwangerschaften greift das Immunsystem der Frau die Spermie oder den sich entwickelnden Fötus nicht an. Ihr Immunsystem schaltet eine Stufe zurück, damit das Baby wachsen kann. Die Frau duldet aber nicht nur die Spermie, sondern ist zugleich auch weniger gut gegen die vielen Bösewichter geschützt, die vielleicht in ihren Körper eindringen wollen.«

»Und deshalb bekommt sie MTS

»So stellt man sich das vor. Die vorübergehende Schwächung ihres Immunsystems, die es ihr erlaubt, schwanger zu bleiben, macht sie anscheinend empfänglich für das Muttertod-Syndrom. An dieser Stelle setzt MTS an. Die Lücke ist winzig klein – wer auch immer das Virus entwickelt hat, ist entweder ein Genie oder hat Riesendusel gehabt.«

»Und wenn sich das Syndrom voll entwickelt hat …«

»Man nimmt an, dass dann CJK ausgelöst wird, die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Man hat das Aids-Virus mit CJK kombiniert, das glauben jedenfalls die Forscher. Das Aids-Virus setzt sich fest und macht die Frau verwundbar für alle möglichen anderen Krankheiten, und als Erstes bekommt sie CJK. Dafür ist kein Heilmittel in Sicht – es gab auch nie eins, schon zu Zeiten des Rinderwahnsinns nicht.«

»Das muss ein Wissenschaftler getan haben.«

»Ein Zufall war’s jedenfalls nicht.«

»Aber warum

»Vielleicht geht es ihm um Macht? Religion? Da kann man nur raten, Jessie.« Er hatte die Kartoffeln in dünne Scheiben geschnitten und legte sie in die Pfanne, wo sie zischten und brutzelten. Der Geruch von heißem Öl breitete sich in der Küche aus. »Deck schon mal den Tisch, Schatz, die sind fast fertig. Und lass uns das Thema wechseln, einverstanden?«

Ich schob meine Schulbücher aus dem Weg.

»Komm schon«, sagte er, »wie wär’s mit dem perfekten Verbrechen? Du musst eine Straußenfeder und eine Sicherheitsnadel verwenden. Du hast drei Minuten.« So spielten wir das. Gaben einander einen Hinweis oder eine Waffe. Wir schafften es immer, uns zum Lachen zu bringen. Mir kam es vor wie die Erinnerung an ein anderes Leben. »Na los«, sagte er, »mein nussbraunes Mädchen.«

Als Nächstes starb Sals Tante in Birmingham. Sie war in der zehnten Woche schwanger. Sals Tante und ihr Onkel hatten schon drei Kinder. »Mum meint, wir könnten Tommy, den Jüngsten, zu uns nehmen«, sagte Sal.

»Hat es deine Mum sehr mitgenommen?«

Sie verzog das Gesicht.

Ich kam mir unbeholfen, dick und elend vor, wollte mich aber unterhalten. »Was glaubst du, weshalb das geschieht?«

»Was weiß ich.«

»Nein, ich meine, was steckt dahinter?«

Sie ließ den Atem zischend entweichen. »Jemand will die Menschheit ausrotten.«

»Aber warum

»Woher soll ich das wissen?«

»Ich hab mir Gedanken darüber gemacht.«

Sal hob Kleidungsstücke vom Boden auf und warf sie auf einen Haufen in der Ecke. »Sag schon, Superhirn.«

»Vielleicht hatten sie ja einen bestimmten Grund.«

»Und der wäre?«

»Dass sie alle Menschen hassen.«

»Na toll.«

»Bestimmt sind sie … richtig zornig.«

»Weswegen?«

»Wegen allem. Wegen der Kriege. Wegen der Ungerechtigkeit.«

»Die werden sie damit wohl kaum beheben, oder?«

»Nein. Aber damit endet alles Schlechte.«

»Weshalb greifen sie dann Frauen an? Warum ausgerechnet Frauen und ihre Babys? Wenn sie die bösen Menschen ausrotten wollen, weshalb nehmen sie sich dann nicht die Politiker vor – oder die Pädophilen?«

»Weil … ich weiß auch nicht.«

»Warum machst du dir über die Urheber der Seuche überhaupt Gedanken? Das sind Ungeheuer – sie sind böse, man sollte ihnen ein Loch in den Schädel bohren, es mit Nadeln spicken und siedendes Wachs hineingießen!« Sal fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich begreife nicht, weshalb du dir über sie Gedanken machst.«

»Tut mir leid. Soll ich Kakao machen?« Sal mochte Kakao, und den tranken wir immer, wenn wir bei ihr waren. Als wir in die Küche hinuntergingen, wurde Sammy ganz aufgeregt und begann zu bellen, und am Ende ließen wir ihn im Garten einen Ball apportieren.

Dies war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mich mit Sal gestritten habe. Ich wusste wirklich nicht, was mich geritten hatte, doch ich wollte nicht bloß darüber sprechen, wie böse die Terroristen waren und wie man sie bestrafen sollte. Natürlich waren sie böse, aber vor allem wollte ich wissen, weshalb es so weit gekommen war. Oder was dies alles ausgelöst hatte, womit wir es ausgelöst hatten. Ich konnte mit diesem Blabla von wegen Ist das nicht schrecklich und grauenhaft nichts anfangen, so als wüsste ich etwas, das niemand sonst wusste.