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Als Mandys Depression immer schlimmer wurde, wollte Mum sie ins Krankenhaus bringen. Aufgrund des Mangels an Pflegepersonal wurden jedoch immer mehr Stationen geschlossen. Dann fand sie ein Tagesheim. Allerdings wurde es von den Noahs betrieben. An dem Abend kam Mum früh nach Hause und erzählte uns davon. Dad und ich besprachen gerade meine Studienoptionen. Ich schwankte noch, ob ich Biologie studieren oder eine neue Sprache lernen sollte. Dad sagte: »Wenn wir jemals Wissenschaftler gebraucht haben, dann heute.« Ich aber schreckte davor zurück, Baz zu sagen, dass ich Wissenschaftlerin werden wolle. Es gab da so ein Schema, mit dem man herausfinden konnte, welche Fächer man kombinieren konnte, und wir saßen am Küchentisch und knobelten herum, während im Hintergrund leise das Radio brabbelte.

Zwischendurch lenkten wir uns mit einem perfekten Verbrechen ab, bei dem es darum ging, dem Opfer zu sagen, dass es nicht gut aussehe, und seine Morgen- und Abendtemperatur zu überwachen. Man sollte mit besorgter Miene aufs Fieberthermometer schauen und dann ein Kreuzchen eintragen, das ein Kästchen weiter oben saß als am Vortag. Die Fieberkurve würde demnach stetig bis in unglaublich gefährliche Höhen ansteigen. Dad beharrte darauf, dass allein schon das Wissen um den eigenen lebensbedrohlichen Zustand einen Menschen töten könne. »Weißt du, wie die Römer Fieber behandelt haben? Man schnitt dem Patienten die Nägel und pappte die Schnipsel mit Wachs dem Nachbarn an die Tür. Das Fieber ging dann an den Nachbarn über. Ich bin geheilt, und du wirst krank. Der Geist ist ein machtvolles Instrument!«

Ich fragte den Quell aller Weisheit, was er von Voodoo halte, als Mum hereinkam. Es tobte gerade ein heftiges Sommergewitter, und es war gemütlich, wie der Regen gegen die Fensterscheiben trommelte. Wir hörten sie erst, als sie in die Küche trat, noch im Regenmantel und klitschnass.

»Du meine Güte«, sagte Dad, »wieso hast du nicht angerufen, dass wir dich abholen?«

»Ich wollte lieber zu Fuß gehen«, erwiderte sie. »Wenn’s recht ist.«

Dad zuckte mit den Schultern. Die gemütliche Stimmung stand auf Messers Schneide.

»Außerdem gab es eine Straßensperre.« Sie holte ein feuchtes gelbes Flugblatt aus der Manteltasche. Darauf stand in Großbuchstaben: Gottes Botschaft an sein Volk, dann folgten klein gedruckte Abschnitte, und ganz unten stand Kinder Noahs. »Seht euch das mal an.«

Mein Dad rollte mit den Augen. »Religiöse Fanatiker!« In dem Flugblatt stand, die Naturkatastrophen seien eine Warnung Gottes gewesen, doch die verblendeten Menschen hätten sie nicht wahrhaben wollen. Als die Welt schon einmal so verderbt gewesen sei, habe Gott eine Flut gesandt, und allein Noah und dessen Arche seien verschont worden. Jetzt werde die ganz Menschheit aussterben, wenn wir Ihm nicht beweisen würden, dass wir dem Bösen entsagt hätten.

Meine Mum hatte inzwischen trockene Sachen angezogen. »Was hältst du davon?«, fragte sie Dad.

»Der übliche fundamentalistische Quatsch.«

»Mandy steht drauf.«

»Du hast Mandy besucht?«

»Ja. Sie will am Sonntag zu dem Treffen gehen – sie möchte, dass ich sie begleite.«

»Ich würde die Finger davon lassen«, meinte Dad.

»Außerdem hat sie angefangen, bei sich aufzuräumen. Sie sagt, Gott liebe die Sauberkeit.«

Dad reichte ihr einen Becher Tee. »Wenn sie Leute bekehren wollen, weshalb suchen sie sich dann nicht Gesunde aus? Warum knöpfen sie sich instabile psychisch Kranke vor? Die, sagen wir’s ganz offen, leicht zu missbrauchen sind.«

»Glaubst du, man will sie missbrauchen?«

»Passiert es nicht häufig, dass Sekten Menschen missbrauchen? Sie nehmen ihnen ihr Geld ab, oder sie machen die Frauen zu Sexsklaven des Anführers.«

»Sie sagt, es gäbe keinen Anführer. Sie wollen die Welt voranbringen, damit Gott sich besinnt und ihnen von sich aus einen Führer schickt.«

»Und was werden sie tun, wenn Gott sie nicht erhört? Begehen sie dann Massenselbstmord? Hast du schon von Jim Jones’ Volkstempel gehört? Oder von den Branch-Davidianern – von der Waco-Belagerung?«

»Mein Gott …« Mum beugte sich scheinbar resignierend vor, bis ihre Stirn die Tischplatte berührte, dann richtete sie sich auf und wandte sich wieder an meinen Dad. »Du weißt genau, dass Mandy depressiv ist, Joe. Sie duscht nur noch dann, wenn ich sie dazu zwinge. Und jetzt …«

»Haben sie sich eine kranke, verletzliche Frau ausgesucht …«

»Und jetzt …«, fuhr meine Mum fort, als habe sie ihn nicht gehört, »sagt sie, es gibt etwas, das sie tun kann.«

»Was soll sie tun?«

»Harmlose Sachen. Dem Alkohol und dem vorehelichen Sex entsagen. Die Zehn Gebote befolgen.«

»Cath, man hat sie einer Gehirnwäsche unterzogen.«

»Wir beide haben uns darauf verständigt, dass sie Antidepressiva nehmen soll. Deren Wirkung nicht darin besteht, die deprimierenden Lebensumstände zu ändern, sondern einen glauben machen, es sei auch so alles in Ordnung. Wieso sollte es dann schlimmer sein, wenn sie tatsächlich ihr Leben verändert?«

Mandy schloss sich den Noahs an. Sie ließ sich nicht davon abbringen.

Ein paar Tage später regnete es noch immer, und ich borgte mir Mums Regenmantel und brachte die Gemüseabfälle auf den Kompost. In der Tasche mit den alten Papiertaschentüchern fand ich einen gefalteten Notizzettel. Die Handschrift war mir unbekannt.

17.30 Di, ich kann dich abholen. Ruf nicht an, ich bin zu Hause. Simse morgen früh. X

Was bedeutet Ruf nicht an, ich bin zu Hause? Heißt das, die falsche Person könnte ans Telefon gehen? Weil man eine kranke Oma hat, die nicht vom Klingeln eines Telefons gestört werden darf? Oder weil man nicht mit Mum sprechen möchte, wenn jemand anders zuhört? Ich dachte an die Unterhaltung zwischen Mandy und Mum, als Mum meinte, niemand sei ohne Schuld. Aber am Dienstag war sie abends in der Klinik, da kam sie immer spät nach Haus. Ich schlug es mir aus dem Kopf.

Ich glaube, als Nächstes wurde ich angespuckt. Es war keine große Sache, ich will es auch gar nicht aufblasen, aber vor Scham wird mir immer noch ganz heiß, und mir bricht der Schweiß aus. Es war nicht annähernd so schlimm wie das, was Sal passiert ist. Beide Vorfälle aber gehören zum gleichen Muster; zu dem Muster, das mich hierhergebracht hat, in diesen düsteren Raum, wo ich mit gefesselten Füßen dasitze und auf die Schritte meines Dads lausche, der über mir auf den Holzdielen auf und ab geht.

Ich kam gerade mit Nat von YOFI zurück. Es war einer jener heißen Augusttage, an denen die Straßen so heiß sind, dass der Asphalt noch um zehn Uhr abends Wärme abstrahlt und der Himmel hell und klar bleibt. Nach dem stickigen Gemeinschaftszentrum tat es gut, an der frischen Luft zu sein. Die Geschäfte an der Hauptstraße waren geschlossen, die heruntergelassenen Jalousien mit Graffiti beschmiert. Es gab leer stehende Häuser mit zerbrochenen Fensterscheiben, und es waren merkwürdige Männer unterwegs. Ich war froh, dass Nat mich begleitete. Dann sagte er mir, er wolle aussteigen.

»Aber warum? Der Flughafen-Protestplan, den ihr ausgearbeitet habt, ist richtig gut.« Er sah vor, massenweise Tickets für Anschlussflüge zu buchen, das Gepäck aufzugeben und dann nicht an Bord zu gehen. Die Flüge würden mit Verspätung starten, da man das herrenlose Gepäck wieder ausladen müsste. Der Flughafen wäre auf Stunden lahmgelegt.

»Es gefällt mir nicht, dass Iain uns Vorschriften macht.«

»Aber wenn er das nicht täte, würde nichts passieren. Die Leute würden sich nur streiten.«

»Iain ist auf einem Machttrip. Der verfolgt seine eigene Agenda.«

»Und die wäre?«

»Der Mist mit dem Wahlrecht.« Wir leben nun mal in einer Demokratie. Wir hatten stundenlang darüber diskutiert. Weshalb sollte nicht jeder, der älter als zehn ist, Vertreter wählen dürfen, die im Parlament unsere Interessen wahrnehmen? Wie sollten Kids sonst Macht ausüben? Nat und Lisa aber wandten ein, es wäre sinnlos, in dem blöden System mitzumachen. Und Lisa meinte, wieso Iain das nicht egal sei, denn er könne schon wählen, und es habe ihm nicht viel eingebracht. Ich fand eigentlich, dass wir das Wahlrecht bekommen sollten, so wie die Suffragetten. Aber sie machten es herunter. Es entwickelte sich eine dieser endlosen Diskussionen, bei denen am Ende nicht das Geringste herauskam.

Ich überlegte noch, was ich Nat entgegnen sollte, als wir zur Hauptstraße gelangten und darauf warteten, dass die Fußgängerampel auf Grün umsprang. Ein Wagen, voll besetzt mit jungen Typen, kam angefahren und wurde langsamer, als er an uns vorbeikam. Musik dröhnte heraus, und die Burschen riefen etwas. Dann beugte einer sich aus dem Fenster und spuckte mich an. Ein großer, widerlicher Speichelklumpen landete auf meinem nackten Arm. Ich schrie auf. Ich war nicht verletzt, sondern nur geschockt. Nat raffte in dem hinter uns gelegenen staubigen kleinen Vorgarten eine Handvoll Laub zusammen und schleuderte es dem Wagen hinterher. Ich fragte ihn, was die Jungs gerufen hätten.

»Irgendwelchen Mist.«

»Was genau?«

»Blödsinn. Das waren Idioten.«

Ich wusste, er hatte etwas gehört, wollte es mir aber nicht sagen. Am liebsten hätte ich die besudelte Hautschicht abgekratzt. Ich war wütend, aber da war auch noch ein anderes Gefühl, das eines Hundes, der angeschlichen kommt, nachdem man ihn ausgeschimpft hat, und beschämt und hoffnungsvoll zu einem aufsieht. Ich wollte, dass sie zurückkamen, damit ich ihnen beweisen konnte, dass ich nicht jemand war, den man anspuckte. Ich riss mich zusammen. »Was hast du vor?«, fragte ich Nat. »Wenn du aussteigst?«

»ALF. Tierbefreiungsfront. Ich gehe in den Untergrund!« Er wirkte äußerst zufrieden mit sich.

Ich musste an eine Bemerkung denken, die Lisa bei der ersten Versammlung gemacht hatte. »Du glaubst, das Schicksal der Tiere wiege schwerer als das der Frauen.«

»Nein, ich glaube, dass MTS aus der Forschung stammt und dass man den Wissenschaftlern das Handwerk legen sollte, bevor sie etwas noch Bösartigeres entwickeln. Findest du es wirklich in Ordnung, Tiere zu quälen?«

Das tat ich nicht, aber es gab auch Wichtigeres, als auf die Wissenschaftler einzudreschen. Es kam mir kindisch vor, in den Untergrund zu gehen und im Namen des Tierschutzes das Gesetz zu brechen. Ich glaubte, wir könnten mehr erreichen, wenn wir bei YOFI blieben.

Am nächsten Tag meinte Sal, sie wolle zu den Treffen mitkommen. Das überraschte mich, denn normalerweise war sie ganz von Damien ausgelastet. Aber sie kam zu mir und trank mit mir Tee, und dann spazierten wir beide zum Gemeinschaftszentrum, und ich fragte sie, was mit Damien sei.

»Spielt Fußball.«

Er arbeitete im Freizeitzentrum, deshalb wunderte mich das nicht. »Er ist besessen davon«, sagte Lisa.

»Wie meinst du das?«

»Seine Fußballkumpel. Sie treffen sich jeden Abend.«

»Jeden Abend?«

»Na ja. Ungefähr viermal die Woche. Zum Trainieren und um einen zu trinken, meint er.«

»Glaubst du, er hat eine andere?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist ein Arsch.« Das klang so, als wär’s ihr schnuppe. Typisch Sal.

»Sal?«

»Ach, er ist einfach seltsam.«

Es musste sich um etwas Peinliches handeln, denn sonst erzählte sie mir alles Mögliche. Dann sagte sie unvermittelt: »Ich glaube, vielleicht ist er schwul.«

»Das ist ja goldig!«, entfuhr es mir, und wir mussten beide lachen. Ich dachte an die Gelegenheiten, bei denen er seine Hände nicht bei sich hatte halten können.

»Er hat sich verändert«, beharrte sie. »Ich kann’s nicht erklären, aber er ist jetzt irgendwie ungeduldig, verächtlich.«

»Wir lassen ihn fallen. Es gibt auch noch andere.« Sal traf sich mit Jungs, seit wir elf waren, und keiner hatte bisher von sich aus mit ihr Schluss gemacht. Es schmerzte mich, dass die Sache mit Damien ihr so naheging.

»Er will, dass ich mit ihnen ausgehe, mit ihm und seinen Fußballkumpeln.«

»Und warum tust du’s nicht?«

»Das könnte ich schon. Aber die saufen bis zum Umfallen und unterhalten sich nur untereinander.«

»Haben die anderen denn keine Freundin?«

»Am Freitag war ich das einzige Mädchen. Es kommt mir so vor, als würde er sich mit mir langweilen.«

Da passierte alles Mögliche auf der Welt, und Sal hatte nichts anderes im Kopf als einen dummen Mann. »Vergiss ihn«, sagte ich.

Ich wünschte, das hätte sie getan. Oder ich hätte sie ernster genommen. Aber ich übernahm die Organisation des Flughafenprotests und war damit und mit der Ausrichtung der Recycle-Modewoche so beschäftigt, dass ich mir keine Gedanken darüber machte. Das ist eines der Versäumnisse, die ich am meisten bedauere.