Mittwochabend

Wenn wir diskutieren, reitet er ständig darauf herum. »Du hast dich wegen mir gemeldet. Wegen dem, was ich gesagt habe. Hätte ich es nie erwähnt, hätte es sich nicht bei dir festgesetzt.«

Draußen ist es dunkel, und er hat zwei Becher Kakao mit nach oben gebracht und mir die rechte Hand losgebunden, damit ich den Becher am Griff halten kann.

»Dad, binde mir auch die andere Hand los. Bitte.«

Er nimmt mir den Becher ab (offenbar habe ich ihn gelehrt, mir zu misstrauen!), bindet mir die Linke los, reicht mir wieder den Kakao und begibt sich außer Reichweite.

»Ist schon gut. Ich mache nichts. Ich wollte mir nur die Hände wärmen.« Ich knicke die Hand ab und wackele mit den Fingern. Purer Luxus. Ich lege beide Hände um den Becher. Das ist ein festes Dreieck des Trostes. Ich verliere mich in der wundervollen Wärme und dem Duft; es gibt nur noch den Kakao.

Ich muss mich zwingen, die Auseinandersetzung fortzuführen. Das Ziel, der Moment, da ich ihn überzeugt hätte, scheint mir so nah, dass ich unbedingt weiterbohren muss. Irgendwann wird er ein Einsehen haben. »Ich habe mich nicht wegen dir gemeldet. Hättest du nicht davon gesprochen, hätte ich es irgendwann in den Nachrichten gehört. Das ist meine Bestimmung, und irgendwie hätte sie mich gefunden.«

»Da kann ich dir nicht folgen, Jess. Das nehme ich dir nicht ab – dieses Bestimmungszeug, dieses Ich muss. Du bist ein freier Mensch. Du kannst alles Mögliche mit deinem Leben anfangen.«

»Ich weiß. Hör zu. Ich will’s dir erklären – denn dabei geht es um Freiheit. Genau darum.«

»Früher warst du nicht so fatalistisch. Was ist aus dem Mädchen geworden, das den Hinduismus absurd fand, als ich ihn dir erklärt habe?«

»Quell aller Weisheit. Das ist kein Hinduismus. Das ist etwas, das ich weiß

Er schüttelt den Kopf. Draußen, irgendwo in der dunklen Nacht, bellt ein Hund. Gestern habe ich zu schreien versucht, da hat er mich geknebelt; mein Rachen fühlt sich noch ganz wund an, und die Unterlippe ist an der Seite aufgeplatzt. Erklären. Mich ihm erklären; wenn er mich nur verstehen würde.

»Und ich war nicht mal da«, sagt er. »Ich habe es dir erzählt, und dann habe ich mich aus dem Staub gemacht. Wenn ich da gewesen wäre und du hättest mit mir reden können …«

»Das hätte nichts geändert. Es war ja nicht so, als hätte ich gedacht, ja, prima, da mache ich mit. Verstehst du? Die Erkenntnis ist gewachsen. So habe ich begriffen, dass ich es tun muss.«

»Jess …«

»Okay. Okay. Ich werd dir sagen, wie es war. Es war so, als würde man im Meer schwimmen.«

Er wackelt mit den Augenbrauen und schaut mich an wie früher, wenn er dachte, ich spinne, und ich muss lachen.

»Doch, wirklich. Hör zu. An einem weiten Strand stehen die Wellen für MTS, und man versucht, ins Wasser zu kommen. Erst steht man am Rand des Strandes und spielt herum. Aber die Flut kommt. Die ersten Wellen umschäumen die Füße, die sind kalt, aber noch ganz klein, und man kann lachend den Strand entlanglaufen.«

»Erläutere das, du Poetische.«

»Das ist der Moment, als ich zum ersten Mal von MTS gehört habe, als ich noch zu jung und dumm war, um es zu verstehen. Dann rollen größere Wellen heran, eine nach der anderen. Sie brechen sich an den Beinen, und man spürt die Kraft des Wassers und den Sog an den Knöcheln. Dann steigt das Wasser, die Wogen prallen gegen den Körper, und man taumelt unter ihrer Wucht, wird beinahe umgeworfen.«

»Ich verstehe.«

»Man bekommt die Wucht des Wassers zu spüren. Aber man hält stand, widersteht ihr und geht weiter. Und dann ist das Wasser auf einmal richtig tief, Kopf und Schultern schauen noch heraus, und mit den Füßen steht man auf dem flachen Sand, und wenn die nächste Welle kommt, dann bricht sie nicht, denn das tun sie näher am Strand. Das Wasser steigt einfach nur an, ein glatter Wasserhügel rollt auf einen zu. Und wenn er einen erreicht, lässt er seine Kraft nicht an einem aus. Er hebt einen einfach an. Er hebt einen an und trägt einen, und man schwimmt ins Meer hinaus.«

»Du hast angefangen, in MTS zu schwimmen?«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist.«

»Und wo ist bei all dem Gewoge die Entsprechung für das Sich-freiwillig-Melden? Oder ist das der Tsunami, in dem du ertrinken wirst?«

»Es geht darum, sich abzufinden mit dem, was geschieht, und entsprechend damit umzugehen.«

»Deine Metaphern sind ebenso unlogisch wie dein Denken.«

Ich schwenke den Rest Kakao im Becher und versuche, den Bodensatz aufzulösen. Ich wünschte, er würde mich verstehen. Ich wünschte, das würde aufhören. »Kann ich mit Mum sprechen?«

»Warum?«

»Ich will halt.«

»Ist gut.« Er wählt die Nummer auf seinem Handy und reicht es mir. Wie viel Zeit bräuchte ich, um die Notrufnummer 999 zu wählen? Bevor er mir das Handy wegnimmt? Wenn er es mir nur eine Minute überlässt, könnte es klappen.

»Hallo?«

»Mum.«

»Jessie! Wo steckst du?«

»Was glaubst du?«

»Ist alles in Ordnung? Ist Joe da?«

»Er ist da. Er hat gemeint, ich darf dich anrufen.«

»Du bist jetzt zornig, Jess, aber glaub mir, auf lange Sicht wirst du das anders sehen.«

»Das glaube ich nicht.« Ich linse nach der Neun, während ich mir das ungewohnte Handy ans Ohr halte. Mum sagt etwas, ich kann ihr nicht folgen. »Wie bitte? Was hast du gesagt?« Ich schiebe das Handy langsam in mein Blickfeld und lege den Daumen auf die Neun. Den Anruf beenden – ihn beenden und dann …

Dad beugt sich vor und nimmt es mir weg. »Das reicht.« Er hält es sich ans Ohr. »Cath, tut mir leid. Aber ich traue ihr nicht, wenn sie das Handy hat. Ich ruf dich später an. Ja. Alles in Ordnung.«

»Was glaubst du, hätte ich tun können?«, frage ich wütend.

»Das, was du vorhattest.«

»Du kannst keine Gedanken lesen.«

»Nein, aber ich wünschte, ich könnte es, denn dann würde ich dich vielleicht verstehen.«

»Ich wünschte das auch.« Das Ärgerlichste an dem Raum ist, dass es keine Vorhänge gibt. Das Licht, das sich bei Nacht auf einem Fenster spiegelt, durch das man nicht hinaussehen kann, hat etwas Trostloses. Eine glänzende schwarze Sackgasse. Ich würde lieber im Dunkeln sitzen und reden, wenn ich nur den Himmel draußen sehen könnte.

Ich will nicht über die Dunkelheit nachdenken. Was man wissen muss, ist, dass das Licht sich verändert. Alles verändert sich. Auch wenn das Fenster von innen betrachtet schwarz wirkt, gibt es draußen doch Licht. Eine andere Art von Licht. »Erinnerst du dich noch an die Glühwürmchen?«

Er sieht mich verständnislos an.

»In Cornwall? Als wir dort Urlaub gemacht haben.«

»Die Glühwürmchen! Ja. Auf dem Seitenstreifen.«

»Ich fand, sie würden grün leuchten, und du hast gemeint, das komme nur daher, dass sie im Gras sitzen.«

»Tatsächlich?«

»Du hast eins in die Hand genommen, es saß auf einem Blatt, aber es hat trotzdem grünlich gelb geleuchtet, und du musstest eingestehen, dass …«

Fast hätte er gegrinst. »Hin und wieder hast du recht. Aber in dieser Angelegenheit nicht.« Schweigen. »Sie leuchten, um einen Partner anzulocken«, sagte er.

»Quell aller Weisheit.«

Wir sehen einander an.

»Bitte lass mich gehen. Bitte.«

Er schüttelt den Kopf.

Wir sitzen schweigend da und halten unsere leeren Becher in der Hand.