28

Es waren kaum Leute im Zug, im ganzen Waggon befanden sich außer uns nur drei weitere Personen. Wir saßen einander gegenüber, während Felder und Moore am Fenster vorbeizogen. Man spürte, wie der Wind am Zug rüttelte. Ein paar Baumwipfel, an denen wir vorbeikamen, neigten sich im Wind. »In Scarborough ist es immer windig«, sagte Mum. »Früher hatte ich manchmal Angst, der Wohnwagen würde in der Nacht davonfliegen.«

»Ich erinnere mich, wie es bei Tag war«, sagte ich. »Aber nicht an die Nächte.«

»Ach, nachts hatte man das Gefühl, in einem Flugzeug zu sitzen«, meinte sie. »Das Tosen und das zerkratzte Fenster. Ich stellte mir immer vor, dass wir beim Aufwachen ganz woanders wären, meilenweit landeinwärts.«

Wir erinnerten uns daran, wie Dad seine großen Strandburgen gebaut hatte. Nicht nur eine Burg mit Graben, sondern Befestigungen wie die Chinesische Mauer. Und breite Kanäle, um die Flut abzuleiten und zurückzuhalten. Den ganzen Tag lang schaufelten wir Sand, und andere Kinder und deren Väter kamen uns zu Hilfe, und Mum suchte für mich Muscheln, die wir als Fenster und Türen verwendeten. »Erinnerst du dich an die Schmuckkästen?«, fragte sie. Damit hatten wir uns beschäftigt, wenn es regnete. Während der Regen aufs Dach trommelte, saßen wir beieinander am roten Resopalklapptisch des Wohnwagens und klebten babyrosa Muscheln und gelbe Schneckenhäuser auf Malteser-Verpackungen, die ich mit nach Hause nahm und meinen Freundinnen schenkte.

»Und die Krabben«, sagte ich, und wir lachten beide. Ich wollte herausfinden, wie viele ich an einem Tag fangen könnte. Die Krabben, die wir beim Graben oder bei der Muschelsuche an der Flutlinie fanden, nahm ich mit der Schaufel auf und ließ sie in einen Eimer fallen. Am Abend schüttete ich sie in den Sand und zählte sie, um festzustellen, ob ich meinen Rekord übertroffen hatte, und dabei jagte ich den Krabben hinterher, die zum Meer zurückrannten. Eines Tages aber, ich weiß nicht warum, nahm ich den Eimer mit den Krabben mit zum Wohnwagen und stellte ihn neben der Eingangstreppe ab. Und Dad ging in der Nacht nach draußen pinkeln und warf den Eimer um. Ich hörte ihn schimpfen, und Mum rief: »Was ist los, Joe?« Wir sprangen beide aus dem Bett und traten auf die Treppe hinaus. Dad hüpfte umher und versuchte, die Krabben im Dunkeln zu fangen, schob sie mit der Schaufel auf eine zusammengefaltete Zeitung. Wir leuchteten ihm mit der Taschenlampe. Sie waren überall, auch unter dem Wohnwagen, und krabbelten zwischen den Grasbüscheln umher.

»Wir hätten sie in Ruhe lassen sollen«, meinte Mum. »Den Weg zum Meer hätten sie schon von selbst gefunden.«

»Aber was ist mit der Straße?«, erinnerte ich sie. »Stell dir vor, jemand wäre da langgefahren, und auf einmal taucht im Scheinwerferkegel ein Krabbenschwarm auf, der über die Straße huscht – und dann das grauenhafte Knirschen, wenn der Wagen sie überrollt!«

»Eine Krustentierkatastrophe«, kommentierte sie lächelnd und lehnte sich zurück. Es tat gut, glücklich zu sein.

Als wir in Scarborough angekommen waren, schlossen wir den Reißverschluss unserer Anoraks, zogen uns die Mützen über die Ohren und gingen vom Bahnhof direkt zum Strand. Mächtige graue Wolken jagten vom Meer heran, dazwischen brachen Sonnenstrahlen hervor. Am Ende des Strandes spazierten wir an leeren Geschäften, Spielhallen und geschlossenen Cafés entlang und stiegen über die Brücke zur Burg hoch. Zwischen den Ruinen war es stellenweise windstill. Wir gelangten auf die verdorrte Wiese am Rand der Burginsel und schluckten Luft, als uns der Wind ins Gesicht wehte. Mum zeigte auf einen großen Stein, der ein Stück weiter aus dem Boden ragte, und stapfte darauf zu. An der Landseite lag ein Baumstamm davor. Offenbar hatten schon andere Leute vor uns hier Unterschlupf gesucht, und wir setzten uns in den Windschatten. Jetzt konnten wir einander wieder verstehen.

»Bei dem Wetter möchte man nicht mit dem Boot draußen sein!«, sagte sie.

Ich stellte mir vor, wie einen die eiskalte Gischt bespritzte, während die Wellen gegen den Rumpf hämmerten, das Schwanken und Rollen und die Erregung der Gefahr. »Mir würde das gefallen!«

»So hab ich das früher auch gesehen«, meinte Mum.

»Wie meinst du das?«

»Als könnte mir nichts etwas anhaben.«

»Ich glaube das nicht.«

»Du glaubst, du würdest ungeschoren aus allem hervorgehen. Du wärst anders als die anderen Mädchen.«

»Nein, Mum, das glaube ich nicht.«

»Du denkst nicht daran, dass du das Bewusstsein verlieren und nie mehr an Orte wie diesen zurückkehren wirst.«

»Wenn wir MTS nicht ernst nehmen …«

»Jessie, man wird das Problem lösen. Man wird sich etwas einfallen lassen. So ist es doch immer.« Ein verzweigter Ast eines Busches wurde übers flache Gras geweht und überschlug sich immer wieder.

»Das ist eine Möglichkeit, das Problem zu lösen.«

»Es wird einen anderen Weg geben.«

»Du meinst, es soll sich jemand anders für das Programm melden.«

»Die Welt ist nicht so, Jess. Ein einzelner Mensch kann nicht …«

»Ein einzelner Mensch kann doch, Mum. Darum geht es. Das ist ja das Großartige daran. Ich kann etwas bewirken.«

Mum sah mich an, dann richtete sie sich auf und trat wieder in den Wind hinaus. Ich folgte ihr. Sie lehnte sich dem Wind entgegen und stapfte zum Rand der Klippen. »Mum!«, rief ich, aber sie hörte mich nicht. Ich lief ihr nach, doch ein paar Meter vor der Felskante hielt sie an. Sie schaute über den Felseinschnitt zu unserer Rechten hinweg. Der Wind hatte den Brandungsschaum wie Baiser gegen die Klippen geklatscht. Sie drehte sich zu mir um, das Haar umflatterte ihr Gesicht. Sie zeigte zum Rand der Klippen, doch der Wind riss ihre Worte mit sich fort. Sie kam zu mir und neigte sich vor. Ich spürte ihren warmen Atem am Ohr.

»Warum fliegst du nicht?«

Ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte, ihr Gesicht zu erkennen. Aber sie zog mich wieder an sich.

»Wenn du ein solcher Superheld bist? Warum fliegst du nicht?« Ihr brach die Stimme.

Ich schloss sie in die Arme. »Mum, Mum, ist schon gut.« Sie ließ sich einen Moment von mir halten, dann stolperte sie zurück zum Unterschlupf. Sie setzte sich auf den Baumstamm und beugte sich vor, vergrub den Kopf in den Armen. Ich setzte mich neben sie und wartete. Nach einer Weile hob sie den Kopf und wischte sich mit den Handschuhen die Tränen vom Gesicht.

»Ich hab das nicht gewollt«, sagte sie mit leiser, tonloser Stimme. »Ich wollte nie die Mutter der beschissenen Jeanne d’Arc sein.«

»Das ist der Grund, weshalb ich geboren wurde«, sagte ich.

»Nicht zu wissen, weshalb man auf der Welt ist, ist das Schicksal des Menschen.«

»Ist es nicht!«, rief ich vergnügt. »Ist es nicht!«

»Jessie, du wirst sterben.«

»Hier geht es nicht um ein Individuum. Die Gesamtheit, die Menschheit als Ganzes – die ist wichtiger als ein einzelner Mensch.«

»Das ist eine erschreckende Sichtweise. Wenn man erst mal glaubt, einzelne Menschen könnten geopfert werden …«

»Mum. Denk doch nur mal an die Frauen, die schon gestorben sind. An die vielen Frauen, die gestorben sind.« Der Wind heulte am Schatten des Felsen vorbei, hinter dem wir Schutz gesucht hatten. Ich wusste, dass auch sie in diesem Moment an Mandy dachte. Aber da waren auch noch all die anderen Frauen. Und deren Kinder. Alle miteinander. Mum blickte starr vor sich ins Leere. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Sie glich einer hell brennenden Kerze. Schmelzendem Wachs. Ich dachte, endlich begreift sie es. Ich kniete mich vor sie hin und ergriff ihre handschuhumhüllten Hände. »Siehst du?«, fragte ich. »Siehst du? Eigentlich ist es ganz einfach.« Ich umarmte sie; spürte, dass sie nach Luft schnappte wie eine Ertrinkende.

»Jetzt verstehst du es, du verstehst es«, murmelte ich in ihr Haar. »Alles wird gut.« Schließlich hörte sie zu weinen auf und hob den Kopf, und ich wischte ihr mit meinem Seidenschal die Wangen trocken.

»Du machst mir Angst«, flüsterte sie, und ich lachte sie aus. »Nein«, sagte sie. »Es stimmt. Du bist ein anderer Mensch geworden.«

»Ich möchte nicht, dass du traurig bist.«

»Was soll ich machen? Ich liebe dich, Jessie.«

Wieder zu Hause, als ich zu Bett ging, lag ich lange wach und dachte über Mum nach. Vielleicht hatte sie mich ja verstanden. Ich überlegte, wie ich Dad angehen sollte.

Am Morgen stand ich auf, sobald ich ihn rumoren hörte. Ich ging in die Küche, wo er mit breitem Grinsen von der Zeitung aufsah. »Morgen, Jessielein! Und wie geht’s meinem nussbraunen Mädchen?«

Ich war baff. In letzter Zeit hatte ich ganz vergessen gehabt, wie nett er sein konnte! Ich betrachtete sein Affengrinsen und sein verwuscheltes Haar und hatte auf einmal die freudige Hoffnung, Mum habe ihm von unserem Ausflug nach Scarborough erzählt und ihn umgestimmt.

»Ich muss dir was zeigen!«, meinte er, bevor ich etwas sagen konnte. Er hob die Zeitung hoch und zeigte mir die Titelseite. Die Überschrift lautete: Embryo-Embargo! Ich verstand nicht, was das bedeuten sollte. »Es ist Schluss mit dem ganzen Unsinn«, sagte er. »Die Vernunft hat gesiegt.«

»Was meinst du?«

»Die Implantation von Embryos wird gestoppt. Als Reaktion auf den Unfug in Cheshire von letzter Woche.«

»Aber man kann die Schlafenden Schönen doch nicht einfach …«

»Man kann die Frauen nicht daran hindern, auf natürlichem Wege schwanger zu werden, das ist klar. Die Implantationen werden gestoppt.«

»Aber es wurden doch noch gar keine Embryos eingepflanzt.«

»Glaubst du, Golding wäre der Einzige? Jetzt, da der Impfstoff verfügbar ist, werden Kliniken im ganzen Land auf den Zug aufspringen.«

»Aber warum sollte man sie stoppen?«

»Wegen fehlender Einvernehmlichkeit. Die geltende Rechtsprechung deckt das bei Weitem nicht ab.«

»Erklär mir das.«

»Okay. Bevor alles anfing, gehörte ein gelagerter Embryo juristisch betrachtet seinen biologischen Eltern, die seine Erzeugung veranlasst haben. Entstand der Embryo aus einer Spendereizelle oder einer Samenspende, konnten die Spender ebenfalls mitreden. Und jetzt ist da auch noch die Leihmutter, die bei der Schwangerschaft stirbt und deren Eltern ebenfalls ein Wörtchen mitreden wollen. Das ergibt sechs potenzielle Elternanwärter für jedes Kind. Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass die biologischen Eltern den Vortritt haben sollten. Aber von einigen sind bis zu zehn Embryos gelagert. Was soll man mit zehn Kindern anfangen? Wer entscheidet, welche man behält? Und warum sollten die Familien der Leihmütter leer ausgehen? Manche Leute finden auch, dass keine dieser Parteien die Kinder bekommen sollte – die Babys seien so kostbar, dass man sie nur bewährten Pflegefamilien überlassen sollte.« Lachend rieb er sich die Hände. »Cath hatte recht, das ist ein Minenfeld. Im Vergleich dazu sind die Aktionen der Mütter für das Leben ein Klacks.« Er schob mir die Zeitung zu und erhob sich. »Ich mache Kaffee. Möchtest du auch einen?«

Die ersten drei Seiten befassten sich mit dem Thema. Es gab Fotos von Mitgliedern der Mütter für das Leben und von Spendern. Und das körnige Foto eines Schafes von der Website der Tierrechtler. Dann war da noch ein Luftfoto von den Unruhen von Wettenhall. Und eine Liste von stichpunktartigen Vorschlägen.

  • neue (Post-MTS-)Embryos: individuelle Spendergenehmigung für wissenschaftliche Nutzung
  • Prae-MTS-Embryos: Biologische Eltern erhalten Besitzansprüche auf mindestens drei Embryos und haben ein Jahr Zeit, um dem Einsatz von Leihmüttern zuzustimmen.
  • Nach zwölf Monaten gehen alle Prae-MTS-Embryos in den Besitz des Staates über, der sie ausgewählten Freiwilligen einpflanzen kann.

Dad war so froh, dass ich schon das Schlimmste fürchtete, doch als ich den Artikel las, wurde mir klar, dass es halb so wild war. Weshalb sollten nicht die biologischen Eltern meine Tochter aufziehen? Auch biologische Eltern wären auf eine Leihmutter angewiesen. Sie würden doch bestimmt jemanden akzeptieren, den die Klinik bereits untersucht hatte? Als ich das Dad sagte, lachte er.

»Das sind Leute, deren Embryos noch immer eingefroren sind, weil sie schon vor drei, sechs oder zehn Jahren nicht wussten, was sie mit ihnen anfangen sollten. Und jetzt bekommen sie eine Frist von einem weiteren Jahr eingeräumt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie gleich morgen losrennen und sich Freiwillige suchen!« Er brachte Mum einen Becher Kaffee nach oben. Ich las die Stellungnahme der Sprecherin von Mütter für das Leben. Sie sagte, sie wollten weiter für die Rechte der Leihmütter und deren Familien kämpfen. Dad kam zurück.

»Sie werden bis zum letzten Drücker zögern, weil man ihnen die Zeit lässt und weil sie auf einen wissenschaftlichen Durchbruch warten. Je länger sie warten, desto wahrscheinlicher wird er.«

»Aber wenn es keinen wissenschaftlichen Durchbruch gibt …«

»Dann kannst du dich nächstes Jahr dazu melden«, sagte er selbstgefällig.

Ich stellte den Fernseher an. Da kam das Gleiche. FLAME-Frauen begrüßten die Neuigkeiten überschwänglich und erklärten, sie wollten ein Eizellen-Spendenprogramm für die Forschung an Tierimplantationen organisieren. Die Mütter für das Leben organisierten Proteste. Wissenschaftler beklagten ein verlorenes Jahr, und die Politiker redeten davon, man müsse sich Zeit lassen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Das Telefon klingelte. Die Klinik teilte mir mit, Mr. Golding wolle mich am Nachmittag sprechen. Dann stimmte es also. Das Telefon klingelte wieder – Sal. Sie meinte, wie froh sie sei, sie hätte es nicht ertragen, wenn ich mein Leben weggeworfen hätte. Sie sagte, FLAME wolle die Aktionen auf die Kliniken mit den Schlafenden Schönen konzentrieren, ihr Ziel sei es, die Frauen ganz aus der Forschung herauszunehmen. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn du mit dem Zeug zu tun hättest«, sagte sie. »Ich will nicht, dass dir etwas passiert.«

Ich dankte ihr und legte auf. Dann vergewisserte ich mich, dass ich meine Glücksnonne in den Rucksack gepackt hatte.