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Wie auch immer es kommt

Mila

Das späte Frühstück mit meiner Familie verlief unerwartet ruhig. Als ich mich mit schmerzenden Gliedern die Treppe runterquälte, erwartete mich statt jeder Menge Fragen und Vorwürfe das extraleckere Omelett meines Vaters. Reza deutete auf den Platz neben sich und nutzte die erstbeste Gelegenheit, mir durchs Haar zu wuscheln. Viel durcheinanderzubringen gab es da nicht, heute hätten meine kurzen Fransen auch nach einer halben Flasche Superkleber widerspenstig in alle Richtungen abgestanden. Bei manchen Leuten konnte man den Stress von ihrer Haut ablesen, bei mir waren es die Haare. Da sehnte ich mich glatt nach meinem Pferdeschwanz zurück, der machte es einem in solchen Lebenslagen definitiv einfacher.

»Guten Morgen. Also, wegen gestern …«, startete ich und musste dann husten, weil meine Kehle immer noch ganz wund war.

Meine Mutter deutete auf das frische Omelett. »Jetzt isst du erst einmal in Ruhe, den Rest besprechen wir dann später. Ach, Mädchen, wenn ich dich so ansehe … Wüsste ich nicht, dass der Grund für diese Monsteraugenringe blond, groß und ausgesprochen niedlich ist, würde ich mir ernsthafte Sorgen um deine Gesundheit machen. Diese Kalorienbombe, die dein Vater gezaubert hat, wirst du auf jeden Fall bis auf den letzten Krümel aufessen. Also los.«

Da war ich aber platt. Offenbar sah ich richtig übel aus, ansonsten hätte Reza es auf keinen Fall ausgehalten, mir wegen meines Sturzes ins Meer oder gar wegen Sam sofort auf den Zahn zu fühlen. Wenn ich mich nicht allzu sehr täuschte, dann ging sie davon aus, dass die Erschöpfung, mit der ich auch nach gut vierzehn Stunden Schlaf immer noch zu kämpfen hatte, unmittelbar mit Sams Rückkehr zusammenhing. Dafür war ihre Anspielung ja noch verhältnismäßig milde ausgefallen. Ich hätte ihr durchaus einen Kommentar zugetraut wie »Irgendwie hast du dich verändert, von der fahlen Haut und Strubbelhaaren einmal abgesehen … Du siehst jetzt aus wie eine echte Frau. Ob das mit Sam zusammenhängt? «. Oder, noch schlimmer: »Es freut mich als Mutter von Herzen, dass dein Freund so ein toller Hecht ist, dass du anschließend ein Wrack bist.« Eigentlich war es mir sogar ganz lieb, dass Rezas Überlegungen in diese Richtung gingen. Denn je weiter sie vom wahren Grund für meine Erschöpfung entfernt waren, desto besser. Über eine Tochter, die in klitschnassen Klamotten von ihrem Freund nach Hause gebracht wurde, konnte man schmunzeln. Über ein Kind, das sich fast selbst in einer anderen Welt ertränkt hätte, gewiss nicht.

Mein Vater dagegen hielt sich erst einmal komplett zurück und begnügte sich stattdessen mit praktischer Fürsorglichkeit, indem er mir auch noch heiße Schokolade machte. Erst als Teller und Becher leer waren und ich meinen Kugelbauch betastete, begann er, mir mit ein paar zielgerichteten Sätzen vom vergangenen Abend zu erzählen. Wie versprochen, war er mit Sam zur Polizeistation gegangen, wo die Beamten Sam zwar ein Loch in den Bauch gefragt hatten, im Großen und Ganzen aber nett mit ihm umgesprungen waren. Schließlich konnte es dem Jungen niemand verübeln, dass er nach der mörderischen Attacke seines Vaters die Flucht angetreten hatte. Da wollte auch niemand über die kostenintensive Suche reden. Und was Jonas Bristol anbelangte – für den spielte es in seinem Zustand vermutlich keine große Rolle, dass sein Sohn noch am Leben war.

»Die größte Herausforderung für Sam wird vermutlich in der Pressekonferenz bestehen, der er sich heute Morgen gemeinsam mit dem Ermittlungsbeamten, der für seinen Fall verantwortlich gewesen ist, stellen muss«, schloss Daniel seinen Bericht.

»Warum erzählst du mir erst jetzt von dieser Pressekonferenz? « Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf. »Nun komme ich bestimmt zu spät, und Sam braucht doch jemanden an seiner Seite. Jemanden, der zu ihm gehört, und nicht bloß so einen Beamten!«

Daniel drückte mich sanft, aber entschieden zurück auf meinen Stuhl. »Keine Sorge, seine Schwester Sina hat versprochen, ihn zu begleiten, obwohl sie alles andere als glücklich über die Neuigkeiten gewesen ist. Außerdem ist es besser, wenn du nicht dabei bist. Oder wäre es dir lieb, wenn dir jemand eine Kamera ins Gesicht hält und du am nächsten Tag dein Foto mit der Bildunterstift ›Für dieses Mädchen kehrte Samuel Bristol aus dem Reich der Toten zurück‹ in unserem Lokalblatt bewundern darfst?«

Stumm schüttelte ich den Kopf, nicht zuletzt wegen der Vorstellung, was für ein gruseliges Bild ich mit meinem zerzausten Äußeren abgeben würde.

Und so ging das späte Frühstück relativ ruhig zu Ende, einmal davon abgesehen, dass Rufus noch später als ich den Weg aus dem Bett fand und sich mit den Resten zufrieden geben musste.

»Wie, kein Omelett für mich? Ich habe doch schon gesagt, dass ich mit dieser Ascheschicht nichts zu tun habe. Wahrscheinlich ist der Kamin verstopft gewesen und hat sich mal ordentlich freigepustet oder so.«

»Du hättest uns trotzdem helfen können.« Daniel sah wirklich sauer aus. »Aber nein, der junge Herr kommt mitten in der Nacht nach Hause und lässt mich auch noch seine Taxirechnung begleichen.«

»Hatte mein Geld auf die Schnelle nicht parat«, nuschelte Rufus und nippte dann an seinem Kaffee, als wäre das Thema damit erledigt.

Ich rückte ein Stück näher an ihn heran. »Wo bist du gewesen?«, fragte ich leise. »Hast du Shirin irgendwohin gebracht?«

»Nein, die muss sich zusammen mit Kastor rechtzeitig abgesetzt haben. Ich war bei Lena am Krankenbett. Du bist da ja nicht aufgetaucht.« Rufus lehnte sich zurück und begann eine Locke langzuziehen, um dann dabei zuzusehen, wie sie spiralengleich zurücksprang. So wie er dasaß, hätte ich glatt eine Wette darauf abgeschlossen, dass er sich mittlerweile unsicher war, was er eigentlich im Krankenhaus verloren gehabt hatte. »Deine Freundin …« setzte er zwei Mal an, ohne den Satz auszuführen. Dann ging er über zu »Wenn ich Sam in die Finger kriege, dann …« Sein Blick wanderte zu unseren Eltern, und er unterbrach sich.

»Was dann? Himmel, kannst du dich vielleicht mal klar ausdrücken?«, zischte ich ihn an, als Reza und Daniel gerade in trauter Zweisamkeit die Lebensmittel im Kühlschrank verstauten und dabei ein Zwiegespräch führten, von dem wir beiden nach Möglichkeit auch nichts hören sollten. Das sah mir sehr nach Flirterei aus. Wie süß!

»Ich habe zwar keinen Beweis dafür, aber der Kerl hat irgendwas in meinem Kopf gedreht. Wieder einmal. Ich bin mir absolut sicher, dass da was in Unordnung geraten ist.«

Nachdenklich betrachtete ich Rufus’ Miene. Die Art, wie er die schwarzen Augenbrauen zusammenzog, bis sich eine steile Falte auf seiner Stirn abzeichnete, deutete auf seine Verärgerung hin. Aber warum dann der Zug um seinen Mund, der seine Verlegenheit verriet? So sah Rufus eigentlich nur aus, wenn man ihn bei etwas echt Peinlichem erwischt hatte. Und meinem Bruder war es nicht einmal peinlich, seine benutzte Unterwäsche herumliegen zu lassen.

»Hast du was mit meiner Freundin angestellt?«

»Unsinn.« Rufus senkte den Kopf, bis sein Gesicht hinter dem Lockenwust verschwand.

»Du wirst rot«, behauptete ich, obwohl ich es nicht sehen konnte.

Mit einem Sprung war Rufus auf den Beinen und stürmte in Richtung Treppe davon. »Sag Sam, der soll den Scheiß in meinem Kopf wieder richtig biegen, ansonsten kann er sich auf was gefasst machen. Dieser Pfuscher, unglaublich.«

A-ha. Nun war ich aber wirklich neugierig. Ich nutzte die Chance, dass meine Eltern weiterhin miteinander beschäftigt waren – es hatte ganz den Anschein, als ob der Kurztrip ausgesprochen romantisch verlaufen war – und lief nach oben. In meinem Zimmer setzte ich mich auf die Fensterbank und wählte Lenas Handynummer. Draußen im Garten pustete der Wind durch das sich langsam golden einfärbende Laub. Es klingelte eine ganze Weile und ich befürchtete schon, bloß ihre Mailbox dranzukriegen, als plötzlich ihre Stimme ertönte.

»Soso, die Frau, die mir derartig viele Erklärungen schuldet, dass mir allein bei der Vorstellung schon die Ohren rauschen.« Lena kam verblüffend gut gelaunt rüber. »Rufus meinte, du hättest dich kurzfristig zu einem Ausflug entschlossen und bist deshalb nicht bei mir aufgetaucht. War übrigens eine super Idee, mir deinen Bruder als Ersatz zu schicken.« Lena stockte. »Das war jetzt ironisch gemeint.«

»Klang aber gar nicht so. Eher wie: Bitte, bitte, ich brauch dringend noch mehr von diesem Ersatz. Eine extragroße Portion«, nutzte ich die Chance, um von meinem Ausflug, wie mein Bruder es genannt hatte, abzulenken. Offenbar war Rufus’ Wirkung auf Lena nach wie vor stark genug, um sie selbst die Existenz der Schattenschwingen vergessen zu lassen. »Gib es zu: Ein Abend gemeinsam mit Rufus, und du stehst kurz davor, ihm wieder willenlos zu verfallen.«

Lena lachte. »Neee, dieses Mal drehe ich den Spieß um und lasse ihn mir mit raushängender Zunge hinterherlaufen. Ich glaube, Rufus steht auf dieses weiße Nachthemd, in das sie mich hier gesteckt haben. Vielleicht assoziiert er damit ja gewisse Doktorspielchen. Du weißt schon, die Sauereien, die …«

»Igitt. Ich will nichts darüber hören«, stöhnte ich ins Handy. »In meinen Augen ist mein Bruder ein reines Wesen, erhaben über jedes körperliche Bedürfnis. Wenn Rufus dich in diesem Krankenhaushemdchen dazu bekommen wollte, dich einmal vorzubeugen, dann bestimmt nur, weil er sich davon überzeugen wollte, dass noch alles bestens bei dir funktioniert. Nicht mehr und nicht weniger.« Es fühlte sich dermaßen gut an, einfach sinnbefreites Zeug mit Lena zu reden. Nur leider konnte ich es nicht dabei belassen. »Du, Lena. Ich bin gestern nicht zu dir gekommen, weil ich mit Sam in der Sphäre war, dem Ort, an dem die Schattenschwingen leben. Eine andere Welt.« Mir stockte der Atem, während auf Lenas Seite der Leitung ein scharfes Einatmen zu hören war. »Nikolai …« Meine Zunge weigerte sich fast, den falschen Namen auszusprechen und damit die Verantwortung für das Geschehene einem Unschuldigen zuzuschieben. Nur war es für Lena gleichgültig, ob Nikolai oder Ask für ihren Zustand verantwortlich war. Also fuhr ich fort: »Nikolai wird unsere Welt nie wieder betreten, das verspreche ich dir. Nach dem, was gestern geschehen ist, werden unsere Welten vermutlich sogar so weit auseinanderdriften, dass wir mit keiner Schattenschwinge mehr in Berührung kommen.«

»Nicht einmal mit Sam?«

Zu meiner Verwunderung hörte ich Enttäuschung aus Lenas Stimme heraus. Erschienen ihr die Schattenschwingen im Nachhinein vielleicht doch nicht ausschließlich als Widerspruch zu den Naturgesetzen? Gelang es ihr trotz ihres schrecklichen Erlebnisses, nun auch die andere, lichte Seite der Schattenschwingen zu sehen? Jene Seite, die ich im Lauf der letzten Tage ebenfalls vergessen hatte?

»Sam hat sich entschlossen, in St. Martin zu bleiben. Er will ein ganz normales Menschenleben führen.« Bei den Worten legte sich ein Gewicht auf meine Brust, das ich mir nicht erklären konnte.

»Vermutlich rede ich Käse, aber irgendwie tut es mir leid für ihn«, sprach Lena aus, was mir ebenfalls durch den Kopf ging. »Außerdem ist es ein echter Verlust, künftig auf die Gesellschaft dieses Quatschkopfs Ranuken verzichten zu müssen.«

»Und auf Shirin«, fügte ich leise hinzu.

Nachdem ich das Telefonat beendet hatte, stand ich ein wenig hilflos im Zimmer herum. Dann schnappte ich mir meine Jacke und lief die Treppe hinunter. In der Küche griff ich mir noch rasch die Tüte mit den vom Frühstück übrig gebliebenen Brötchen und rief zu Reza, die auf der Terrasse die mitgebrachten Setzlinge in Töpfe pflanzte: »Ich statte Sam einen Besuch im Wohnwagen ab. Die Pressekonferenz müsste ja vorbei sein. Hab mein Handy dabei, falls was ist.«

»Mila, warte! Wir haben noch einiges zu besprechen.« Hastig versuchte meine Mutter ihre erdebeschmierten Clogs abzustreifen, um mich im Wohnzimmer abzufangen. Deshalb sauste ich rasch weiter. »Sieh wenigstens zu, dass dich niemand aus der Schule sieht, wir haben dich schließlich für heute krankgemeldet. Über die Schule müssen wir auch noch ein ernsthaftes Gespräch führen. Schwänzen dulde ich nämlich nicht.«

»Ein anderes Mal. Okay, Mama?« Ich winkte und sah zu, dass ich zur Garage kam, wo mein Fahrrad stand.