13

Nur mit dir

Mila

»Es tut so gut, deine Stimme zu hören!«

»Ach, komm schon. Es ist ja nicht so, als wären wir schon seit Jahren voneinander getrennt«, beschwichtigte ich.

»Nun gib dich doch nicht tapferer, als du bist. Mir gegenüber kannst du ruhig eingestehen, dass dir ein bisschen schwer ums Herz ist. Wenigstens ein klitzekleines bisschen.«

Ich musste kichern, es ging nicht anders. »Ja, gut, ich gestehe. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich die ganze Nacht ins Kissen geweint habe, wo mir doch der wichtigste Mann in meinem Leben abhandengekommen ist. Geschluchzt wie ein Schoßhund habe ich, und heiße Tränen der Sehnsucht vergossen. Wie konntest du mich nur jemals verlassen?« Um das Ganze in seiner Aussagekraft zu unterstreichen, wimmerte ich leise.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Es ist wirklich gut, dass du dich in diesem Jahr gegen die Theatergruppe entschieden hast, mein Schatz. Du magst viele Talente haben, aber das Schauspiel gehört nicht dazu.«

»Danke, Papa. Das war jetzt pädagogisch gesehen ein absolut wertvoller Beitrag.«

Vom anderen Ende der Telefonleitung erklang das tiefe Lachen meines Vaters, und obwohl es mir die Show ruinierte, musste ich mit einstimmen. Ich mochte sein Lachen einfach zu gern.

»Warte mal, Liebling. Deine Mutter will dich unbedingt noch einmal sprechen. Reza, nun reiß mir doch nicht das Handy aus der Hand.«

»Mila, du darfst deinem Vater nicht glauben, was dein schauspielerisches Talent anbelangt! Deine Rolle im letzten Stück hast du ganz hervorragend umgesetzt.« Reza klang so verzweifelt, dass mir das Lachen im Hals stecken blieb.

»Mama, nun übertreib doch bitte nicht. Ich war ein atmendes Requisit, das die Bühnenausstattung aufgewertet hat.«

»Du hattest Text!«

»Ja, ganze drei Sätze. Wirklich, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich verzichte nicht aufs Theater, weil ich an meiner Begabung zweifle, sondern weil ich in diesem Jahr schlicht nicht die Zeit dafür habe. Zerbrich dir bitte nicht den Kopf, sondern genieße deine Auszeit. Die habt ihr beiden euch wirklich verdient. Und macht Fotos!«

»Verstehe, verstehe.« Zu meiner Erleichterung wirkte Reza überzeugt. »Nun wollen wir dich auch nicht länger stören, du hast ja sicherlich was Besseres zu tun, als dich von deinen Eltern am Telefon nerven zu lassen. Nicht dass du zu guter Letzt noch glaubst, wir würden so oft anrufen, um dich zu überwachen. Das glaubst du doch nicht, oder?«

»Nein, Mama, das glaube ich nicht. Außerdem freue ich mich jedes Mal, wenn ich eure Stimmen höre. Und nun ab zum Essen in dieses Superrestaurant. Viel Spaß. Und sag Papa tschüss von mir.«

Bevor Reza sich ein weiteres Mal von mir versichern ließ, dass alles zum Besten stand, drückte ich das Gespräch weg.

Unruhig rutschte ich auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer hin und her, bis Pingpong, die neben meinen Füßen gedöst hatte, genervt auf einen Sessel auswich. Ich fröstelte, konnte mich aber nicht dazu durchringen, nach der Wolldecke zu greifen, die über der Lehne hing. Das machte wenig Sinn, weil Ranuken bestimmt gleich wieder ins Zimmer gesprungen kam und irgendwas von mir wollte. Wozu es sich dann also erst gemütlich machen?

Seit Shirin sich in den Garten zurückgezogen hatte, wo sie mit ausgebreiteten Schwingen auf der Bank saß und ihren Gedanken nachhing, raubte der kleine Kerl mir den letzten Nerv. Er konnte sich nämlich nicht entscheiden, ob er in seiner selbst ernannten Schutzengelfunktion an ihrer Seite bleiben oder doch lieber auf der Suche nach interessanten Dingen durch unser Haus streifen sollte. Es kam nach wie vor einem Wunder gleich, dass er Shirin und mich während unserer Malsession nicht mit seiner Anwesenheit heimgesucht hatte. Das holte er jetzt nach, indem er unentwegt ins Haus geschossen kam und um mich herumflatterte, ohne mir endlich einmal zu sagen, was er wirklich von mir wollte.

Es gab aber noch einen Grund, weshalb ich der kuscheligen Decke nicht über den Weg traute: Ich hatte Angst, ich könnte mich damit so behaglich fühlen, dass ich einschlief. Sam hatte sich zwar nicht offiziell für heute Abend angekündigt, doch ich hoffte trotzdem auf eine Stippvisite. Zwar hatten wir uns gestern Abend gesehen, aber das kam mir schon unendlich weit weg vor. Eigentlich fühlte es sich schon so an, wenn Sam nur kurz aus meiner Sichtweite geriet. Es war zum Verrücktwerden, wie sehr ich mich nach seiner Nähe sehnte. Und selbst wenn er dann vor mir saß, war es mir immer noch nicht nah genug. Am liebsten wäre ich mit ihm verschmolzen, bis er ein Teil von mir war, unauslöschbar. Vielleicht würde dann endlich einmal der Hunger gestillt sein, den seine Küsse in mein Leben getragen hatten. Die Sehnsucht nach dem Klang seiner Stimme, das Kribbeln, das durch meine Adern schoss, sobald ich ihn sah. Und die unablässige Frage, ob es ihm wohl genauso ging … Falls ja, so würde er heute doch wohl kaum fernbleiben, oder? Wenn er mich dann allerdings schlafend auf dem Sofa vorfand, würde er mich auf keinen Fall wecken – man musste kein Sam-Spezialist sein, um das zu wissen. Er war keiner, der schlafende Schönheiten weckte. Vor allem, wenn die Schönheit mit offenem Mund gut hörbar vor sich hin schnarchte und wie ein Kaninchen mit der Nase zuckte.

Also fröstelte ich tapfer vor mich hin, während ich in einer der unzähligen Gartenzeitschriften meiner Mutter blätterte und versuchte, nicht über das Gespräch mit Shirin nachzudenken, das mir unentwegt durch den Kopf hallte. Trotzdem wurde mein Kopf immer schwerer, während das leise Ploppen der Regentropfen gerade wieder an Eindringlichkeit zunahm, bis es sich schließlich in ein deutliches Klopfen verwandelte. Nein, keine Regentropfen, jemand klopfte gegen die Terrassentür.

Ich war tatsächlich eingenickt!

»Mensch, Ranuken, was klopfst du denn, anstatt einfach reinzukommen? Ist doch offen«, schimpfte ich, während ich mich aus den weichen Polstern hochkämpfte.

»Als ob Ranuken in seinem ganzen Leben schon einmal angeklopft hätte. Höflichkeit ist nicht gerade eine seiner großen Stärken.«

»Sam!«

Vor lauter Freude nahm ich bei meinem Aufstehversuch gleich eine Ladung Sofakissen mit. Flink glitt Sam durch den Türspalt, gefolgt von ein paar dicken Regentropfen. Dann war er auch schon bei mir, einen Schwung Herbstluft mit sich bringend.

»Und wieder einmal nass wie ein Fisch«, rutschte es mir bei unserer Umarmung heraus.

Hastig stand Sam wieder auf und blickte auf den dunklen Fleck, den seine klitschnasse Hose auf dem Sofa hinterlassen hatte. Er verdrehte die Augen. »Das mit den tropfenden Klamotten entwickelt sich langsam zu einer Art Fluch. Ich traue mich schon gar nicht mehr zu fragen … aber borgst du mir was Trockenes zum Anziehen?«

»Nö, auf keinen Fall.«

Sam tat mir zwar leid, wie er so verlegen vor mir stand, aber ich konnte mir ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. Wie kam er bloß auf die Idee, dass ich ihm freiwillig etwas zum Anziehen besorgen würde, wenn ich ihn auch ohne alles haben konnte? »Wenn du willst, kannst du dich der allgemeinen Schicklichkeit halber ja in die Wolldecke wickeln, sobald du dieses triefende Stück Stoff abgelegt hast.«

Zu meiner Enttäuschung ging Sam nicht auf die Neckerei ein. »Das lass ich mal lieber bleiben. Ich liefere hier doch keine Stripnummer ab, während Ranuken vermutlich bereits auf der Terrasse steht. Der Kerl hat mich eben eh kaum vom Wickel gelassen, der ist vollkommen überdreht. Gott sei Dank hat Shirin mich rasch auf den Stand der Dinge gebracht, ihr Retter ist nämlich völlig neben der Spur. Eine Überdosis Menschenwelt, vermute ich mal.«

»Oh, Ranuken. Den hatte ich ja ganz vergessen.« Ich legte meine Hand auf Sams Oberarm, um ihn ein wenig zu beruhigen. Seine Haut war eisig kalt und unter meiner Berührung stellten sich feine, kaum sichtbare Härchen auf. »Ich habe mich vielleicht gefreut, als der gemeinsam mit Shirin aufgetaucht ist. Jetzt muss ich mir wenigstens keine Sorgen mehr darüber machen, dass Juna sie noch auf einen Scheiterhaufen zerrt.«

»Da hat Ranuken uns wirklich mal ein Stück Arbeit abgenommen«, stimmte Sam widerwillig zu. »Mir wäre es bestimmt nicht so leicht gelungen, Shirin zu einem kleinen Ausflug zu überreden. Das ändert aber nichts daran, dass ich heute Abend nicht mehr die Kraft dazu habe, ihn dafür ausführlich zu loben.«

»Lass uns doch auf mein Zimmer gehen. Wir stellen einfach einen Stuhl unter den Türgriff und haben unsere Ruhe von dieser rothaarigen Heimsuchung. Wir machen es uns gemütlich und lassen die Seele baumeln.«

Dieser Vorschlag stimmte Sam tatsächlich milder. Zärtlich streichelte er meine Halslinie entlang, wobei nicht nur seine kalten Finger mir eine Gänsehaut verursachten. Ein Schaudern unterdrückend, sah ich ihn an. Wenn das überhaupt möglich war, dann sah Sam noch erschöpfter aus als bei unserem letzten Treffen. Da waren so viele Schatten in seinem Gesicht, dass es geradezu kantig wirkte. Und seine Aura strahlte bestenfalls milde. Er war zweifelsohne restlos erschöpft.

»Deine Eltern kehren heute auch ganz bestimmt nicht wieder heim? Ich kann mir im Augenblick nämlich nichts Schöneres vorstellen, als mich an dich zu schmiegen und einzuschlafen. Ich bin so dermaßen erledigt, Mila. Heute hat wirklich eine üble Nummer die nächste gejagt. Ich könnte glatt im Stehen wegdämmern.«

»Du Armer, du brauchst wirklich ganz dringend eine Auszeit«, sagte ich mit schlechtem Gewissen, denn ich hatte schließlich den halben Tag verschlafen, während Sam in der Sphäre allem Anschein nach mehr als ein Abenteuer erlebt hatte. Ich nahm mir fest vor, ihm die Ruhe zu verschaffen, die er zweifelsohne dringend brauchte, bevor er noch zusammenklappte.

Sam rieb sich die geröteten Lider. »Es ist wirklich zum Schreien, dass mir ausgerechnet jetzt die Luft ausgeht. Dabei habe ich mir das, ehrlich gesagt, anders vorgestellt mit der elternfreien Zeit. Ich dachte, wir beiden könnten endlich mal was Besonders miteinander unternehmen und den ganzen Stress hinter uns lassen. Es sollte ein ganz romantischer Abend werden, ich wollte dich unbedingt überraschen und dann … Tja, dann war so viel los, dass ich nicht einmal dazu gekommen bin, mir überhaupt irgendetwas zu überlegen. Und jetzt tropfe ich hier vor mich hin und bin so kaputt, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Ich bin nicht gerade ein romantischer Lottogewinn.«

»Das ist vollkommen in Ordnung, Hauptsache, ich habe dich bei mir«, beruhigte ich ihn. Letztendlich stimmte es auch: Alles, was ich wollte, war, ihn bei mir zu haben. »Das wird der Höhepunkt meines Tages, wenn ich eng an dich gekuschelt einschlafe. Ich kann ruhig auch noch eine Extraportion Schlaf vertragen. Und morgen früh, wenn wir beide wieder Oberwasser haben, sehen wir einfach weiter.«

Meine Katze Pingpong konnte der Idee mit dem Aneinanderkuscheln offenbar auch was abgewinnen: Beim Klang von Sams Stimme kam sie angehopst und strich schnurrend um seine Beine. Das musste echte Katzenliebe sein, denn Pingpong hasste in der Regel alles, was mit Nässe zu tun hatte. Sam bückte sich nicht zu ihr hinunter, sondern berührte sie auf Schattenschwingenart. Offenbar war das ganz nach Pingpongs Geschmack, denn sie ließ sich abrupt auf den Rücken fallen und begann zu schnurren, als habe sie gerade das größte Säckchen Katzenminze der Welt geschenkt bekommen.

»Den Trick musst du mir unbedingt beibringen.« Fast beneidete ich Pingpong.

Sam streckte sich, bis dass es knackte. »Katzen haben eine ungewöhnlich starke Aura. Sie mögen es, wenn man ein wenig daran kitzelt.«

Ich verbiss mir die Anmerkung, dass ich mich auch gern von ihm kitzeln ließ – mit oder ohne Aura –, und legte meinen Arm um seine Taille. Vor lauter schlechtem Gewissen würde er ansonsten noch die Zähne zusammenbeißen und … Mir war nur allzu bewusst, dass Sam ernsthaft am Ende seiner Kräfte sein musste, wenn er es mir gegenüber zugab. Was war bloß in der Sphäre vorgefallen? Gott sei Dank wirkte er nicht wirklich aufgebracht oder gar verstört, ansonsten hätte ich sofort nachgehakt.

Wir kamen nur ein paar Schritte weit, als die Haustür mit einem Knall aufflog.

Wie erstarrt blieben wir stehen, nur um zu beobachten, wie Rufus, in einen liebestollen Nahkampf mit Julia verwickelt, hineinstolperte. Nun, wenn man nach dem Haus der Jugend zu erschöpft war, neues Land zu erobern, griff man – vor allem wenn man Rufus hieß – am besten auf Altbewährtes zurück. In diesem Fall auf seine On-Off-Beziehung, die in der letzten Zeit ziemlich off gewesen war. Die beiden waren derartig miteinander beschäftigt, dass sie gar nicht mitbekamen, wie wir zwei, zu Salzsäulen erstarrt, mit offenen Mündern mitten im Wohnzimmer standen und sie dabei beobachteten, wie sie sich Stufe für Stufe die Treppe hocharbeiteten. Kurz sah es ganz danach aus, als würden sie es nicht mehr bis auf Rufus’ Zimmer schaffen, aber dann erklang endlich das erlösende Zuschlagen seiner Zimmertür.

»Das habe ich eben doch wohl geträumt, oder?«, fragte Sam in den Raum hinein.

»Kannst du bitte sofort meine Erinnerung löschen? Das war ja so was von …« Mir fehlte das passende Adjektiv, das ich laut aussprechen konnte, ohne rot zu werden.

»Hörst du das? Wenn man die beiden schon hier unten so gut mitbekommt, können wir dein Zimmer die nächste Stunde getrost vergessen. Da geh ich nicht näher ran.«

Wie ein vom Leben gebeuteltes Ehepaar ließen wir uns nebeneinander auf das Sofa sinken. Das eben Gesehene musste erst einmal sacken, so viel stand fest.

»Was Julia gerade mit ihrem …«, setzte ich an, weil es mir wie ein Stachel im Fleisch saß.

»Hör bloß auf«, unterbrach Sam mich mit einer seltsam gepressten Stimme, als würde er mühsam einen Lachanfall unterdrücken. »Ich möchte jetzt wirklich nicht darüber nachdenken, was sie da gemacht hat. Ansonsten ist diese Sache für mich bis zum Jüngsten Tag gestorben.«

Das kam so flehend rüber, dass ich zu kichern anfing. Erst ganz verhalten, dann immer lauter, bis schließlich auch Sam mit einstimmte. Nachdem wir uns vor Lachen ausgeschüttelt hatten, ging es uns beiden merklich besser.

»Das Sofa ist doch auch nicht schlecht zum Schlafen, wenn du dich nicht allzu breitmachst und deine Schwingen schön drin lässt, mein müder Krieger.«

»Hmm«, brummte Sam und ließ sich mit mir im Arm auf die Seite sinken. Zu mehr fehlte ihm ganz offenbar die Kraft. Obwohl mich weiterhin die Neugier quälte, was ihm heute wohl widerfahren war, hielt ich meinen Mund. Meine Fragen und Sorgen konnten warten, genau wie mein Bedürfnis, mit ihm zu reden und zu lachen. Morgen früh, sagte ich mir, Morgen früh gehört er mir … und ich ihm.

Es fühlte sich gut an, wie seine Arme warm und schützend um mich lagen und ich seinen immer langsamer gehenden Atem auf meinem Haar spürte. Aber im Gegensatz zu ihm konnte ich nicht loslassen, sosehr mich der Schlaf auch lockte. Ein seltsames Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Ein Warnen und Ziehen. Dann plötzlich wusste ich, was es bedeutete: Wir wurden beobachtet.

Erschocken starrte ich Ranuken an, der tief über uns gebeugt dastand.

»Hallo«, flüsterte er und winkte mir mit einem schüchternen Lächeln zu.

»Du schon wieder!«

Es gelang mir tatsächlich, alles, was mir an Empfindungen durch den Kopf jagte, in diesen Satz hineinzulegen: Wut, Frustration und Unglaube. Nicht, dass irgendetwas davon Ranuken beeindruckt hätte. Mit dem Zeigefinger stupste er Sam an, der nur ein tiefes Seufzen von sich gab. Wenn mein Freund mich nicht wie ein Schutzwall umfangen gehalten und ich befürchtet hätte, ihn zu wecken, sobald ich mich bewegte, hätte ich Ranuken seinen Zeigefinger in die verkehrte Richtung gedreht.

»Sam schläft tief und fest«, stellte er zufrieden fest.

»Und wehe, das ändert sich deinetwegen, Sommersprosse.«

»Höre ich da etwa einen feindseligen Unterton?« Ranuken schien abzuwägen, ob er sich lieber mit mir befehden oder klein beigeben sollte. Zu meiner Überraschung entschied er sich für Letzteres. »Du wunderst dich doch ganz bestimmt, warum ich schon den ganzen Abend unentwegt bei dir reinschneie, oder?«

Das klang nicht gut.

»Aaalsooo.« Ranuken dehnte das Wort wie ein Gummiband, um sich Zeit zu verschaffen. Bildete ich mir das ein, oder war er tatsächlich knallrot unter seinen Sommersprossen? »Du warst da heute ganz schön lange mit Shirin zugange. Das war auch okay für mich, solange der Lesestoff ausgereicht hat, aber dann wurde es verflucht langweilig. Ich meine: so richtig langweilig.«

Mir kroch es kalt den Rücken hinauf, obwohl Sams Körper jede Menge Wärme ausstrahlte. »Was hast du angestellt? «

»Nichts Schlimmes«, behauptete Ranuken, aber sein verzweifelter Gesichtsausdruck erzählte etwas anderes. »Da lag bloß dieser kleine schwarze Kasten auf deinem Schreibtisch, der mit den vielen Nummern drin.«

»Mein Handy!«, rief ich alarmiert. Wobei rufen, ohne laut zu werden, eine ernsthafte Herausforderung darstellte. Ohnehin begann Sam sich schon unruhig zu bewegen.

»Genau, das Handy. Kann mir dieses blöde Wort nicht merken, da entsteht immer ein Loch in meinem Kopf. Genau wie bei diesen Fabriken, die Energie erzeugen. Da sind offenbar ein paar Fehler im Informationsnetz für Schattenschwingen eingewebt.«

»Lenk nicht ab. Was hast du mit meinem Handy angestellt, du Wahnsinniger?«

»Was heißt hier angestellt? Ich habe es benutzt. Nur um herauszufinden, ob es auch tatsächlich so funktioniert, wie es bei mir angekommen ist. Was soll ich sagen? Es hat funktioniert. Und jetzt kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass deine Freundin Lena wirklich nett und unterhaltsam ist, obwohl sie mitten in einem Theatervorsprechen drinsteckte. «

Ich konnte es nicht fassen. »Er hat mit Lena telefoniert. Diese Schattenschwinge hat mit meiner Lena telefoniert. Mit der Naturkunde-Lena, die physikalische Gesetze für fantastisch genug hält. Telefoniert.« Selbst nachdem ich es laut ausgesprochen hatte, fühlte es sich noch immer wie in einem Traum an. Genauso musste es sein: Ich war neben Sam eingeschlafen und durchlebte gerade einen grauenhaften Albtraum.

»Ich habe nicht nur mit ihr gesprochen, sondern ihr auch einen Rat für diese Theatersache gegeben. Gut, dass Sam Was ihr wollt letztes Jahr im Englischunterricht gelesen und ich davon weiß, da kannte ich mich also super mit aus. Ich habe ihr gesagt, sie muss unbedingt für den Toby Belch vorsprechen, der ist die beste Figur im Stück. Da muss man nicht viel Text lernen und kann sich ordentlich danebenbenehmen. Das fand diese Lena richtig gut.«

»Lena als Toby Belch?« Der Irrsinn kannte in diesem Albtraum auch wirklich keine Grenzen.

»Ja-haaa.« Wieder zog Ranuken das Wort verdächtig in die Länge. »Wir haben dann noch ein wenig rumgeschnackt, na, und da hat sie irgendwann gefragt, wer zum Teufel ich eigentlich bin, Mr. Nachtaktiv etwa? Das konnte ich dann ja nicht auf mir sitzen lassen. Also habe ich gesagt: nee, nur sein bester Freund.«

»Sein bester Freund«, echote ich ungläubig. Das war nun doch zu viel. Ich befreite mich aus Sams Umarmung, der sich daraufhin murmelnd in die Kissen grub. Ranuken wich klugerweise ein Stück zurück.

»Okay, bester Freund war vielleicht ein bisschen übertrieben, aber das musst du Lena ja nicht gleich stecken, einverstanden? Sie sagte nämlich, sie würde meinetwegen heute Abend doch noch vorbeikommen, nicht erst morgen.«

Bevor ich meiner Wut Luft machen und losbrüllen konnte, hörte ich Schritte in der Diele.

»Huhu«, ertönte Lenas Stimme. »Die Haustür steht sperrangelweit auf und ich spazier jetzt einfach rein. Irgendwer da?« Dann stand sie auch schon im Wohnzimmer … und schaute Ranuken neugierig an. »Mein Telefonfreund! Du siehst genauso aus, wie du am Handy klingst: rotzfrech.«

Mehr Liebesbeweise brauchte Ranuken nicht. »Und, war Mein-Gott-Walter von deiner Vorstellung des fiesen Onkel Belch begeistert? Lass noch mal den Rülpser hören, den wir vorhin trainiert haben.«

Ehe Lena der Aufforderung nachkommen konnte, hob ich beschwichtigend die Hände in die Höhe. Dabei kämpfte ich gegen eine heftig aufsteigende Übelkeit an. Klar hatte ich meine Freundin früher oder später einweihen wollen, dass Sam wieder da war. Und nicht nur Sam, sondern mit ihm auch ein paar weitere sehr interessante Persönlichkeiten. Dann, wenn Lena große Begeisterung gezeigt hätte, wäre ich ihr ganz behutsam mit der Tatsache gekommen, dass so etwas Fantastisches wie die Schattenschwingen existierten. Was ich geplant hatte, war genau das Gegenteil von dem, das sich hier gerade abspielte. Ranuken hatte mich mit seiner Handy-Aktion kalt erwischt, nun stand ich ratlos da. Und das ausgerechnet bei meiner Freundin, der so schnell nichts entging.

»Lena, schau mal, das ist so. Der Ranuken hier, tja, also der ist…«, startete ich unsicher, während Ranuken sich neben mir zu seiner vollen Größe von höchstens einssechzig aufrichtete. Offenbar reichte diese Körpergröße aus, um Lenas volle Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Bist du etwa tätowiert? Lass sehen.« Mit einem Sprung hielt sie auf den Jungen zu. »Teufel, der ganze Rücken! Das sieht ja vielleicht abgefahren aus. Muss schon sagen, das hat sich ja voll gelohnt, nach dem ganzen Theaterstress so spät am Abend noch vorbeizukommen. Respekt, Mila. So ein Spielzeug hätte ich auch gern.«

»Ranuken ist doch nicht mein Spielzeug«, erwiderte ich empört, so was von gar nicht Herrin der Lage.

»Nein, und mit wem spielst du dann die Nächte durch?«

»Na, mit dem da«, brachte Ranuken besserwisserisch hervor. Dabei deutete er auf Sam, der sich gerade schlaftrunken aufsetzte.

»Das ist doch wohl alles nicht wahr«, knurrte Sam, während er sich das verwuschelte Haar aus dem Gesicht strich. Er war eindeutig nicht froh drüber, geweckt worden zu sein. »Könnt ihr das Theater vielleicht woanders veranstalten? Wenn ich nicht gleich in Ruhe schlafen kann, laufe ich Amok.«

Die Drohung erreichte Lena nicht, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihn anzustarren. »Samuel Bristol«, brachte sie schließlich atemlos hervor.

»Genau. Ich bin wieder da und todmüde. Wäre toll, wenn wir den Rest morgen klären könnten.«

Na, das mit dem Lena-Aufklären ging ja einfacher als gedacht. Ich stand kurz davor, hysterisch aufzulachen. Wie sollte ich das bei Lena jemals wieder geradebiegen?

Lena nickte robotermäßig, dann sah sie zu Ranuken hinüber, der mit der Schulter zuckte. Alles halb so wild, sagte seine Geste. Und vielleicht war es das auch, wenn ich mir Lenas verblüfftes, aber keineswegs entsetztes Gesicht so anschaute.

»Im Keller steht ein Kasten Cola. Sollen wir mit unserem Rülpswettbewerb weitermachen?«, schlug Ranuken vor.

Ich hörte Lena noch »Klar, warum nicht« sagen, dann packte Sam mich bei der Hand und zog mich hinter sich her in Richtung meines Zimmers. Eigentlich hätte ich den Griff abschütteln und mich um meine Freundin kümmern sollen, aber ich war zu durcheinander. Vermutlich hätte ich ohnehin nur Unsinn verzapft und alles noch schlimmer gemacht. Da war sie bei Ranuken und seiner Charmeoffensive zweifelsohne besser ausgehoben.

Vor Rufus’ Tür blieb Sam kurz stehen, schlug dröhnend mit der Faust dagegen und schrie: »Ihr zwei hört jetzt auf mit dem Scheiß, es ist Schlafenszeit. Ich will keinen Mucks mehr hören.«

Als Antwort kam nur ein derbes Schimpfwort, dann herrschte Ruhe.

Die Lider bereits auf Halbmast kroch Sam mit mir unter die Bettdecke, gab mir einen Kuss auf die Schläfe, und schlief auf der Stelle ein. Ich lag noch eine Weile wach, weil ich aus dem Staunen nicht herauskam. Entweder war Lena zu übertölpelt gewesen, um nicht sofort eine Erklärung von Sam einzufordern, oder sie war schlicht Ranukens ganz speziellem Zauber erlegen und hatte beschlossen, dass alles andere warten konnte. Als dann leise Rülps- und Kichergeräusche aus dem Wohnzimmer hochdrangen, schlief auch ich beruhigt ein. Meine Freundin befand sich in den besten Händen.