1
Liebeshunger
Mila
Überragend groß rückte der Zeiger der Wanduhr auf die Eins zu. Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Dann erreichte er sie: Es war ein Uhr nachts und Sam damit offiziell drei Stunden überfällig. Wieder einmal.
Mit einem Seufzer gab ich meinen Aussichtsplatz beim Fenster auf und tigerte in meinem Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb ich mit dem Fuß hängen und verlor das Gleichgewicht. Bei meinem Versuch, mich abzufangen, brachte ich den Krimskrams auf der Kommode zum Klappern. Angespannt lauschte ich in die Dunkelheit, aber weder fragte Rufus’ knurrige Stimme, was zum Teufel los sei, noch erschien meine vom Schlaf verknitterte Mutter in der Tür. Glück gehabt. In der letzten Zeit hatte Reza nämlich einen regelrechten Ammenschlaf entwickelt. Vermutlich sagte der mütterliche Instinkt ihr, dass das jüngste Küken der Familie nachts dem sicheren Nest entschlüpfte, um jemanden zu treffen, den es in St. Martin offiziell eigentlich gar nicht gab.
Wütend stierte ich die Stolperfalle an, die sich als Tasche mit lauter herausquellenden Schulbüchern erwies. Obwohl in der Dunkelheit nur Umrisse zu erkennen waren, war ich mir sicher, dass es der neue Mathewälzer war, der mir ein Bein gestellt hatte. Gerade noch so konnte ich den Wunsch unterdrücken, ihm einen Tritt zu verpassen.
Meine Nerven lagen wirklich blank. Aber wen wunderte das schon?
Seit die Schule vor einigen Tagen wieder angefangen hatte, litt ich unter chronischem Schlafmangel. Tagsüber war ich vollauf damit beschäftigt, mit meinem neuen Kursplan klarzukommen und mir beim Handballtraining nicht die Nase einschlagen zu lassen, weil ich den ganzen Sommer über, statt zu trainieren, nur Trübsal geblasen und mein einziger großer Lauf in einer anderen Welt stattgefunden hatte. Abends saß ich wie auf heißen Kohlen und wartete darauf, dass draußen im Garten ein helles Licht aufleuchtete … und dass Rufus so erledigt von seinem Job im Haus der Jugend war, dass er es nicht ebenfalls bemerkte. Ansonsten musste ich mir die spärliche Zeit, die mir mit meinem Freund blieb, nämlich mit ihm teilen. Etwas, worüber ich mich nicht beschweren durfte, denn schließlich tüftelte Rufus eifrig an Sams Wiederkehr nach St. Martin herum. Auf mein exklusives Recht auf Zweisamkeit mit Sam zu pochen, wäre also nicht nur kindisch, sondern auch dumm. Sobald Sam sich wieder ganz normal in unserem Küstenstädtchen bewegen konnte, würden nämlich die kräftezehrenden, nächtlichen Treffen flachfallen.
Mittlerweile zeigte die Wanduhr Viertel nach eins an und im Garten war immer noch kein Sternenglanz zwischen den Bäumen zu entdecken. Ich gab auf.
Der Spiegel im Badezimmer zeigte mir eine hohläugige Mila mit Zottelhaaren und vor Anspannung wundgeknabberten Lippen. Sah ganz danach aus, als sollte ich äußerst froh darüber sein, dass Sam mich versetzt hatte. Das Mädel, das sich nämlich gerade die Zahnbürste in den Mund steckte, während die Lider langsam hinabsanken, sah nicht wirklich nach einem heißen Date aus. Schlaf, das war es, worauf es jetzt ankam. Und kein Junge in abgewetzten Jeans, dessen Haut selbst im anbrechenden Herbst nach Sonne duftete. Allerdings reichte allein der Gedanke an Sams nackten Oberkörper aus, um mir einen Energiestoß durch die Glieder zu jagen, der die Müdigkeit schlagartig vertrieb.
»Ich brauche dringend Hilfe«, erklärte ich meinem Spiegelbild.
Meine Klamotten, für deren Zusammenstellung ich den halben Nachmittag drangegeben hatte, weil ich einerseits wow! und andererseits nicht zu aufgebrezelt hatte aussehen wollen, stopfte ich in den Wäschekorb. Stattdessen zog ich mir ein aufgetragenes Basketball-Shirt von Rufus über, das mir bis zu den Oberschenkeln reichte. Es roch vertraut nach dem Öko-Waschmittel, das meine Mutter schon seit meiner Kinderzeit verwendete. Genau so vertraut wie die Bettwäsche, in die ich gleich schlüpfen würde.
Ich gab mir genau drei Sekunden, dann würde ich auch schon weggeschlummert sein und mich keinen Millimeter rühren, bevor der Wecker nicht Alarm schlug. Während ich mich mit dem Gedanken ans Traumland tröstete, kniete ich mich aufs Bett und wollte die Vorhänge zuziehen, und genau da sah ich es doch: Sams strahlende Aura in der Dunkelheit des Gartens.
Innerhalb einer Sekunde waren mein kuscheliges Kissen und die schweren Augenlider vergessen, ich fuhr mir nur rasch mit den Fingern durchs Haar, dann tapste ich so schnell wie möglich auf Zehenspitzen nach unten … um auf der Terrasse beinahe vom Wind umgepustet zu werden. Ja, es wurde tatsächlich Herbst, die Nächte waren eindeutig ungemütlich geworden. Zumindest wenn man bloß ein Basketball-Shirt trug.
Kaum hatte ich den Weg zwischen den abgeblühten Lavendelbüschen betreten, kam Sam mir auch schon entgegen. Obwohl er das Leuchten seiner Aura gedimmt hatte, konnte ich die Schatten unter seinen Augen und die kantig gewordenen Wangenknochen erkennen. Auch Herrn Bristol machte der Schlafmangel zu schaffen – neben vielen anderen Dingen, wenn ich mir das richtig zusammenreimte. Die Sphäre war im Augenblick alles andere als ein paradiesischer Ort.
»Ich bin spät dran, es tut mir leid. Aber heute Abend hat schon wieder eine Versammlung stattgefunden und die Debatten wollten einfach kein Ende nehmen«, sagte er, während er mich in die Arme schloss. Zu gern ließ ich mich von ihm halten, denn seine Haut war wunderbar warm. In meiner Eile hatte ich vergessen, mir Schuhe geschweige denn eine Jacke überzuziehen.
»Besser spät als gar nicht. Ich habe dich vermisst.«
Sam ließ nur ein zustimmendes Brummen hören, bevor er mir einen Kuss auf die Lippen gab … und verharrte. Ich stemmte mich auf die Zehen, um dem Kuss Nachdruck zu verleihen, aber Sam löste sich zu meiner Enttäuschung bereits von mir.
»Deine Lippen sind eiskalt«, sagte er mit einem besorgten Ton.
»Hier draußen ist es ja auch eiskalt. Ich glaube, es fängt gleich an zu regnen.« Zu spät bemerkte ich meinen taktischen Fehler.
»Mila, du solltest jetzt besser wieder reingehen, sonst holst du dir noch den Tod. Ich wollte eh nur kurz vorbeikommen, damit du dir keine Sorgen machst.«
»Ich mache mir aber Sorgen, und nichts auf der Welt wird besser, wenn du mich jetzt schon wieder allein lässt. Außerdem habe ich auch einen Anspruch auf dich und nicht bloß die Schattenschwingen. Die nehmen dich eh schon unablässig in Beschlag und mir bleibt nur die Spätschicht, wenn wir beide vor lauter Gähnen nicht mehr zum Reden, geschweige denn zum Küssen kommen.«
Während ich auf ihn einredete, legte Sam mir den Arm um die Schultern und lenkte mich in Richtung Haus zurück. Meine Bemühungen, stehen zu bleiben oder den Gang doch zumindest zu verlangsamen, überging er einfach. Die Muskeln unter seiner braungebrannten Haut sahen nicht nur gut aus, sie waren auch zu etwas nutze, wie ich mir mit zusammengebissenen Zähnen eingestehen musste.
»Mila, hör auf, mit den Fersen abzubremsen, sonst lege ich dich kurzerhand über meine Schulter.«
»Falls du es vergessen hast: Du bist eine Schattenschwinge und kein Neandertaler. Obwohl ich mir manchmal nicht sicher bin, ob es da überhaupt einen Unterschied gibt.«
Wie erhofft, hielt Sam inne und lachte. Sofort nutzte ich meine Chance und zog ihn ein paar Schritte ins Gebüsch. Wir waren schon sehr nah beim Haus und ich wollte nicht riskieren, dass mein Vater gerade jetzt auf die Idee kam, das Schlafzimmerfenster zu schließen, weil der Westwind so lautstark pfiff. Der Anblick von Sam und mir in inniger Umarmung hätte Daniel ganz bestimmt nicht gefallen – einmal davon abgesehen, dass ihn vermutlich der Schlag getroffen hätte. Schließlich glaubte er, dass Sam tot war.
Es war Sam deutlich anzumerken, dass er einen inneren Kampf ausfocht, während ich mich fest an ihn schmiegte. Auch er sehnte sich nach Nähe, aber es widersprach schlicht seinem angeborenen Verantwortungsgefühl, mich für ein paar Zärtlichkeiten schnatternd in der Kälte zu dulden. Ich hatte da deutlich weniger Mitleid mit mir, denn was ich im Ausgleich für eisige Füße und Gänsehaut bekam, war es tausendfach wert.
Mit steifen Fingern streichelte ich über seinen Rücken und spürte ein feines Kribbeln, sobald ich eine der Tuscheschlieren berührte: Sams Schwingen, die sich unter seiner Haut verbargen und nur auf ein Zeichen seines Willens warteten, um hervorzubrechen. Fasziniert fuhr ich an ihren Rändern entlang und stellte mir mit geschlossenen Augen vor, wie sie sich geschmeidig aus der Zeichnung lösten, sich wie ein Schatten verdichteten und dann zu ihrer vollen Weite ausdehnten. Als habe jemand mit dem Pinsel schwarzgraue Flügel in die Luft gemalt, ein so fantastisches Gemälde, dass es einem den Atem raubte.
Sam genoss die Berührung merklich, wie er mich so still umfangen hielt, während doch jeder Muskel angespannt war und seine Brust sich verräterisch heftig hob und senkte. Er hatte sein Gesicht in die Kuhle zwischen meinem Hals und der Schulter gelegt, wobei seine Lippen bei jedem Atemzug meinen Puls streiften.
Ich hätte ewig auf diese Weise verbunden mit ihm dastehen können, wenn meine allmählich taub werdenden Zehen mir nicht zu schaffen gemacht hätten. So unauffällig wie möglich rutschte ich auf seine Füße drauf, denen vermutlich nicht einmal Eisschollen ihre Wärme rauben konnten. Einen Moment noch lobte ich mich für diese gute Idee, dann war aber auch schon Sam klar geworden, dass ich ihn als Heizmatte benutzte.
»Mila, das ist jetzt definitiv das Ende unseres Rendezvous. Du bist ja schon ein halber Eiszapfen.«
»Das sehe ich nicht so«, erwiderte ich trotzig und verstärkte meine Umarmung.
In diesem Augenblick setzte auch noch der Regen ein, der schon die ganze Zeit in der Luft gelegen hatte. Kurzerhand packte Sam mich bei den Hüften und legte mich allen Ernstes über seine Schulter. Ich krakeelte, wenn auch nicht annähernd mit der Lautstärke, die meine Lungen eigentlich hergegeben hätten, da ich ansonsten sogar das Unwetter übertönt hätte. Und wie gesagt: Reza schlief wie auf Abruf. Als Sam mich bei der Terrassentür absetzte, hatte ich vor Aufregung einen Schluckauf bekommen und er musste so breit grinsen, dass seine Aura wie ein sanftes Licht aufbrannte.
»Du kannst vielleicht ein Theater veranstalten, Levander«, sagte er belustigt.
In diesem Moment wurde mir wieder einmal bewusst, dass ich auf gar keinen Fall und unter gar keinen Umständen in der Lage wäre, ohne diesen Jungen zu leben. Selbst mit seinen klitschnassen Haaren, die ihm am Hals klebten, und einem von Erschöpfung gezeichneten Gesicht war Sam großartiger als alles andere, was das Leben zu bieten hatte. Es war mir schlicht ein Rätsel, wie ich die vier Monate ohne ihn hatte überstehen können.
Bevor er auf die Idee kommen konnte, zu einer Verabschiedung anzusetzen, legte ich ihm eine Hand auf die Brust, wobei mir der Schluckauf die Eindringlichkeit der Geste ein wenig vermasselte. »Warum kommst du nicht noch kurz mit hinein und erzählst mir, worum es heute beim Rat gegangen ist?«
Achtsamkeit flackerte in Sams Meeresaugen auf und ich ahnte, warum: Er war sehr vorsichtig mit dem, was er über die Vorgänge in der Sphäre erzählte, seitdem ich dort fast zu Tode gekommen war. Offensichtlich wollte er mir nicht noch mehr Angst machen, als ich ohnehin schon hatte. Auch wenn wir beide es vermieden, darüber zu sprechen, schwebte der unheimliche Schatten, der mich für seine Zwecke missbraucht hatte, über uns. Sam war die Sorge anzusehen, etwas von dem, das in der Sphäre passierte, könnte das Fass für mich zum Überlaufen bringen. Aber wie er so vor mir stand, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendetwas dazu in der Lage wäre. Ich war dem Sam-Zauber mit Haut und Haaren erlegen.
»Nun komm schon, du Sturkopf. Drinnen ist es warm. Wenn du jetzt einfach gehst, werde ich den Rest der Nacht wach liegen und mir schreckliche Sorgen machen. Denn es muss ja etwas Übles im Busch sein, wenn du es mir nicht erzählen willst«, erpresste ich ihn. Es war vielleicht unfair, an sein schlechtes Gewissen zu appellieren, aber im Krieg und in der Liebe sind bekanntlich alle Tricks erlaubt.
»Erinnere mich bitte daran, dass ich mir noch so was wie ein Rückgrat zulege. Es kann doch nicht sein, dass ich ständig einknicke«, knurrte Sam, als er hinter mir ins Haus schlüpfte.
»Psst.« Ich legte den Zeigefinger mahnend über die Lippen. »Sonst weckst du noch Reza auf. Wir reden erst wieder, wenn wir auf meinem Zimmer sind.«
Die Art, wie Sams Augenbrauen in die Höhe rutschten, verriet, dass er mein Ablenkungsmanöver komplett durchschaute. Nun, damit hatte ich kein Problem. Hauptsache, der Junge in meinem Rücken folgte mir.

»Unsere Versammlungen geraten immer mehr zur Farce«, sagte Sam, während ich, eingemummelt in meine Bettdecke, langsam wieder auftaute. »Zuerst sah es ganz danach aus, als hätten die anderen Schattenschwingen es nur darauf abgesehen, mich mürbe zu machen, indem sie unentwegt die Geschehnisse seit meinem Eintritt in die Sphäre durchgekaut haben. Jetzt aber hacken die Jüngeren auf den Älteren herum und die Älteren hacken zurück. Dabei tritt die Frage, wer denn nun hinter dem Übergriff steht, immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen arten die Versammlungen zur öffentlichen Abrechnung aus und zur Lieblingszielscheibe entwickelt sich allmählich Shirin. War ja klar.«
Vor Wut über diese Ungerechtigkeit hielt Sam inne, und ich hätte schwören können, dass die Temperatur im Raum um einige Grad sank. Mühsam befreite ich meinen Arm unter der Decke. Als ich nach seiner Hand griff, zuckte er zusammen und seine Aura flammte auf, kühl und abweisend. Was gerade bei den Versammlungen der Schattenschwingen vor sich ging, setzte ihm unübersehbar zu. Ein feines Knistern breitete sich unter meiner Berührung aus. Fast befürchtete ich, gleich einen Stromschlag verpasst zu bekommen, doch so schnell gab ich nicht auf.
»Du bist nicht im Feindesland, du brauchst deine Abwehr also nicht hochzufahren.«
Für einen Moment flackerten seine selbst im Dämmerlicht schimmernden Augen unbeherrscht auf, doch dann entspannte er sich. »Es ist gar nicht einfach, aus diesem Dauerstress-Modus herauszukommen. Außerdem wäre es gelogen, wenn ich behaupten würde, ich wäre nicht enttäuscht. Die meisten von uns haben total verlernt, was Gemeinschaft bedeutet. Wir sind ein Haufen aus Eigenbrötlern, und das Einzige, worauf sich die Mehrheit einigen kann, ist, dass Shirin nicht über den Weg zu trauen ist. Dabei kann nicht einmal Juna Shirin mehr vorwerfen, als dass sie die Zügel bei mir zu sehr hat schleifen lassen. Dass Juna keinen Beweis zur Hand hat, hält sie natürlich nicht davon ab, unablässig Gift zu verspritzen, und langsam zeigt ihre Hetze Wirkung. Richtig zur Sache geht es dann wohl immer, wenn wir jungen Schwingen fortgeschickt werden, weil man über die alten Verstrickungen vor dem Krieg diskutiert, in denen Shirin ja eine ganz besondere Rolle gespielt hat. Komplette Zeitverschwendung! Niemand hat bisher eine Idee, wer uns angegriffen hat – und zwar keine einzige Schattenschwinge, ohne Ausnahme. Aber das ist offenbar niemandem mehr wichtig.«
Seine Machtlosigkeit in einer solchen Situation setzte Sam zu. Vor allem, da Shirin als seine Wächterin in diese Lage geraten war, weil sie ihn entgegen den Regeln darin unterstützt hatte, in die Menschenwelt zurückzukehren. Meinetwegen, wie ich beklommen dachte. Und nun konnte er sich nicht revanchieren, weil seine Meinung als junge Schattenschwinge wenig zählte. Shirin mochte zwar schwer zu durchschauen sein, und nicht jede ihrer Entscheidungen hatte sich als richtig erwiesen, aber genau wie Sam hegte ich keinen Zweifel daran, dass sie nur das Beste für die Schattenschwingen und vor allem für ihren jüngsten Schützling hatte herausholen wollen.
»Denkst du, sie werden Shirin bestrafen?«
Bei der Vorstellung, zu welcher Art Strafen die Schattenschwingen imstande sein mochten, zog meine Brust sich angstvoll zusammen. Zu gut war mir noch in Erinnerung, wie rücksichtslos man bei der Versammlung mit Sam umgesprungen war. Besonders Asami mit der gezückten Klinge, mit der er ein Symbol in Sams Unterarm zu schneiden gedachte, stand mir noch lebendig vor Augen. Was für ein Volk auch immer die Schattenschwingen einst gewesen sein mochten, übrig geblieben war ein zersplitterter Haufen aus Einzelkämpfern, die der Last ihrer eigenen Geschichte kaum Stand hielten.
»Die Frage ist nicht sosehr, ob Shirin bestraft wird, sondern, wie hart die Strafe ausfallen wird.« In Sams Stimme schlich sich eine Härte ein, die mich aufhorchen ließ. Trotz allem, was geschehen war, liebte er die Sphäre und empfand ihre Bewohner als seine Familie. »Was mir allerdings mehr Sorge bereitet, ist Shirins Zustand. Als wäre sie unter einer Glocke gefangen. Es muss schon etwas sehr Krasses passieren, damit sie aus ihrer Apathie auftaucht. Ranuken weicht ihr quasi gar nicht mehr von der Seite, aber ich habe da meine Zweifel, ob sie ihn überhaupt bemerkt. Ihr Weggefährte Lorson hat sich frustriert zurückgezogen. Ich habe bereits versucht, sie über unsere Aura zu erreichen. Obwohl das eigentlich nicht meine Art ist, habe ich sie regelrecht bedrängt. Aber das Einzige, was ich damit erreicht habe, war ein mentaler Aufprall, von dem mir immer noch die Ohren dröhnen. Sie ist wie in sich gefangen, ich komme einfach nicht zu ihr durch.«
»Das hört sich wirklich schlimm an. Vielleicht täte es Shirin gut, die Sphäre und den ganzen Druck eine Zeit lang hinter sich zu lassen.«
Ein warmes Lächeln breitete sich auf Sams Gesicht aus. »Möchtest du der Ausgestoßenen etwa Asyl anbieten?«
Nachdenklich fuhr ich mir mit der Hand durchs Haar, bis es endgültig zu Berge stand. Falls es das nach Sams elektrisierender Wirkung nicht ohnehin tat. »Vielleicht ist die Idee gar nicht so schlecht. So, wie du Shirins Verfassung beschreibst, zerbricht sie noch an alledem. Ein kurzer Urlaub in der Menschenwelt könnte Wunder bewirken.«
Sam schien meine Gedanken zu lesen. »Denkst du an Lucas Wohnwagen?«
Ich nickte.
Im Frühsommer war Luca vor lauter Schulstress und dem andauernden Kleinkrieg seiner Eltern ausgetickt, weshalb ihm sein Cousin Toni kurzerhand einen ausrangierten Wohnwagen auf dem Gelände der Surfschule als Unterschlupf zur Verfügung gestellt hatte. Auf die Idee, sich diesen Kasten zunutze zu machen, war Rufus gekommen. Solange Luca mit dem Rucksack quer durch die Lande reiste, sollte Sam dort sein Zelt aufschlagen. Auch wenn wir Luca erst einmal nicht auf die Nase gebunden hatten, wen wir dort unterzubringen gedachten.
»Kein Problem, Kumpel«, hatte Luca meinem Bruder bei einem Telefonat erklärt. »Du kannst den Wohnwagen haben, wofür auch immer. Aber sieh zu, dass Julia nicht dahinterkommt, dass du dir ein zweites Schlafzimmer zulegst. Wenn ich in zwei, drei Monaten zurück bin, will ich sie nicht heulend vor meiner Tür sitzen haben, während du dich mit irgendeiner Touristenmaus vergnügst. Mal ernst: Ich dachte, du hättest dich auf unserer Tour genug bei den Frauen ausgetobt.«
Rufus war nicht einmal rot geworden, obwohl ich das Gespräch mitgehört hatte. »Nee, mir geht’s nicht ums Abschleppen. Ich brauch den Wohnwagen nur zum Abhängen. «
»Ja, klar.« Luca hatte nicht sonderlich überzeugt geklungen. »Im Zweifelsfall findest du ein paar Gummis beim CD-Regal am Bett.«
Rufus hatte das Gespräch noch nicht richtig beendet, da hatte er mich auch schon angepflaumt. »Das mit den Gummis vergisst du ganz schnell wieder. Die brauchst du mit Sam auf keinen Fall in diesem Wohnwagen! Dafür habe ich das Teil nämlich ganz bestimmt nicht besorgt.«
Ich hatte nur mit den Schultern gezuckt und mich gefreut, den ersten Punkt auf unserer »Sam kehrt nach St. Martin zurück«-Liste mit diesem übergangsweisen Zuhause abgehakt zu haben.
Nachdem mein Bruder nämlich den ersten Schrecken über Sams Rückkehr verwunden hatte, wollte er ebenfalls, dass Sam wieder ein ordentlicher Bestandteil von St. Martin wurde. Ehrlich gesagt, hatte Rufus sich für meinen Geschmack eine Spur zu rasch an den Gedanken gewöhnt, dass sein bester Freund mit einem Mal Flügel hatte und die Pforte in eine andere Welt kannte. Zwar hatte Rufus bislang noch keinen Blick in das ungestüme Reich der Sphäre geworfen, aber die interessierte ihn ohnehin nicht weiter. Alles, was für Rufus zählte, war Sam. Darin waren mein Bruder und ich uns überraschend ähnlich.
Jedenfalls war Luca noch einige Zeit mit Chris auf Tour, sodass sein Wohnwagen leer stand. Ein altes Ding, das schon fast Sammlerwert hatte, wenn auch bloß wegen der Graffitis, mit denen es komplett überzogen war. Es stand ein wenig abseits vom Spektakel der Surfschule in den Dünen, war also der ideale Unterschlupf für Sam. Am Abend zuvor hatte Rufus den Schlüssel besorgt und wir hatten jede Menge Sand, der durch die Ritzen eingedrungen war, und eine ganze Spinnenvereinigung ins Freie getragen. Der Wohnwagen roch muffig, aber ansonsten war er ganz okay.Bei der Vorstellung, wir könnten Shirin in diesem Quartier unterbringen, breitete sich ein Grinsen auf Sams Gesicht aus. »Shirin als Surferbraut. Na, wenn das mal keine Idee ist.«
Unauffällig versuchte ich ein Gähnen hinter der Bettwäsche zu verstecken, was Sams Aufmerksamkeit natürlich nicht entging. Er schaute mich prüfend an, dann stand er auf. »Es ist wohl das Beste, wenn ich mich jetzt aus dem Staub mache, sonst schlafen wir beide noch ein, und den Entsetzensschrei deines Vaters am frühen Morgen möchte ich mir gern ersparen.«
Als er sich zu mir hinabbeugte, um mir einen Abschiedskuss zu geben, wusste ich, dass er recht hatte. Dass es vollkommen kindisch war, ihn bei mir behalten zu wollen, obwohl es auf den Morgen zuging. Trotzdem konnte ich es nicht unterlassen, die zärtliche Berührung unserer Lippen in einen leidenschaftlichen Kuss zu verwandeln. Und ich konnte auch nicht widerstehen, ihn so weit runterzuziehen, bis er auf dem Bett kniete.
»Mila«, brachte Sam zwischen zwei Küssen hervor, »so komme ich hier nie weg.«
Mit einem Augenaufschlag, der mir hoffentlich den Charme von Bambi verlieh, sah ich ihn an. Seine schön geschwungene Oberlippe war von unserem Spiel auf diese spezielle Weise gerötet, die mich fast um den Verstand brachte, und seine Augen funkelten so anziehend wie das Meer im Morgenlicht.
»Was soll ich tun? Deine blauen Augen machen mich so sentimental«, begann ich zu singen.
Sams Mundwinkel zuckten. Das ermutigte mich, weiterzumachen. Wenn ich den Clown geben musste, um ihn noch eine Minute länger bei mir zu behalten, dann sollte mir das recht sein.
»Was ich da so fühle, ist nicht mehr normal«, sang ich weiter.
»Nein, normal ist das ganz bestimmt nicht.«
Bevor ich mich versah, hatte Sam mich auch schon von meiner Bettdecke befreit und mich auf seinen Schoß gezogen. Definitiv der perfekte Platz für mich.
»Oh, Mann. Und dabei bin ich vor Sonnenaufgang mit Asami zum Schwerttraining verabredet. Der wird mich das so was von büßen lassen«, war das Letzte, das Sam bei noch einigermaßen klarem Verstand hervorbrachte.
Mir gelang es nicht einmal mehr nachzuhaken, was es, bitte schön, mit dem Schwerttraining auf sich hatte – zu betörend fühlten sich seine Berührungen an. Sämtliche Ängste und Sorgen waren vergessen, sogar meine eben noch bleierne Müdigkeit war restlos fortgewischt von dem Zauber, den Sams Nähe ausübte. Das Einzige, wofür noch Raum war, war die Sehnsucht nach seinen Lippen und dem Tanz seiner Finger auf meiner Haut. Schmerzlich wurde mir bewusst, wie ausgehungert ich nach seinen Zärtlichkeiten war, nachdem wir die letzten Tage ausschließlich im Gespräch und oftmals in der Gesellschaft von Rufus verbracht hatten. Ich brauchte Sam, ich brauchte diese Vertrautheit und die Gefühle, die er in mir hervorrief. Es war eine ganz eigene Art von Sucht.
Wie im Rausch ließ ich meine Hände unter seine regennasse Jeans gleiten, woraufhin seiner Kehle ein Geräusch entfuhr, das mich augenblicklich mutiger werden ließ. Dabei hätte ich nicht gedacht, dass es so schwierig sein könnte, jemanden aus einer klammen Jeans herauszuschälen. Was soll ich sagen? Die Mühe lohnte sich auf jeden Fall. Achtlos warf ich das nasse Bündel zur Seite und kümmerte mich auch nicht weiter darum, dass es eine Vase mit lautem Rums vom Nachttisch fegte.
Sam ließ sich auf den Rücken gleiten und zog mich auf sich, obwohl ich lieber einen Moment an seiner Seite gesessen hätte, um ihn zu betrachten. Er sah einfach zu verführerisch aus, wie er da in meinem zerwühlten Bett lag. Aber ihm stand offensichtlich nicht der Sinn danach, in aller Ruhe angeschaut zu werden. Seinem Herzschlag nach zu urteilen, der mit voller Kraft gegen meine Brust donnerte, war er kurz davor, auch die letzte Zurückhaltung aufzugeben. Seine Hände strichen von meinen Schenkeln hoch zu meinem Rücken und hinterließen eine Feuerspur, die mich aufseufzen ließ.
Der Ton blieb mir allerdings in der Kehle stecken, als ich die schlaftrunkene Stimme meiner Mutter hörte.
»Mila, was machst du denn da?«
Gar nichts!, wollte ich rufen, doch das gelang mir nicht. Wie zur Salzsäule erstarrt saß ich auf Sams Hüften. Ein Blick auf sein entsetztes Gesicht reichte, um zu begreifen, dass Reza mittlerweile verstanden hatte, was ich da tat.
»Oh, mein Gott«, stieß ich kaum verständlich hervor und brachte endlich so viel Geistesgegenwart auf, mir die Bettdecke über den Kopf zu ziehen.
»Tolle Idee«, hörte ich Sam nuscheln.
Ich hörte, wie Reza mit energischen Schritten auf das Bett zuhielt.
»Du kannst froh sein, dass dein Vater wie ein Toter schläft. Das wäre ja was geworden. Solche Mätzchen erwarte ich eigentlich von Rufus, aber nicht von dir. Also wirklich, Mila! Einmal davon abgesehen, dass morgen Schule angesagt ist … Willst du mir den jungen Mann denn nicht langsam mal vorstellen?«
Das war meine Mutter, wie sie leibt und lebt.
Mit ihrer unnachahmlichen Selbstsicherheit zog sie die Decke beiseite, und ich konnte mit jeder Faser spüren, wie sie sich vor Fassungslosigkeit versteifte. »Sam?«, sagte sie mit einer ungläubig hohen Stimme.
»Hallo, Frau Levander.« Sam sah aus, als müsste er sich vor Terror gleich übergeben.
»Reza. Wir hatten uns doch auf Reza geeinigt.«
Der Verstand meiner Mutter drehte allem Anschein nach gerade einen Looping. Wie eine Schlafwandlerin taumelte sie einige Schritte zurück. Es fehlte nicht viel, und der Schreibtisch hätte sie zu Fall gebracht.
Mit einem Griff hatte Sam mich von sich gehoben und war auf den Beinen, um meine Mutter am Oberarm zu packen. Zwar ließ sie die Berührung zu, aber sie blickte ihn an, als wäre er das Absurdeste, was ihr in ihrem bunten und verrückten Leben jemals untergekommen war. »Junge«, sagte sie auf eine überraschend bestimmte Weise, »du solltest dir besser mal was überziehen.«
Mir wurde alles zu viel. »Sam, bitte kümmere dich um ihre Erinnerung, oder ich stürze mich aus dem Fenster!«, flehte ich ihn an, wobei ich all meine Kraft zusammennehmen musste, nicht sämtliche Levander-Männer des Hauses auf den Plan zu rufen, indem ich die Worte hinausbrüllte.
Einen Moment lang schüttelte Sam energisch den Kopf. Dann blickte er an sich hinab und beschloss wohl, dass es zweifelsohne das Beste für uns alle war, wenn Reza sich an diesen Anblick niemals würde erinnern können. Meine Mutter öffnete gerade den Mund, um wieder etwas sehr Reza-mäßiges über den nächtlichen Besuch im Schlafzimmer ihrer Tochter hervorzubringen, als Sams Aura sie umflutete wie ein Mantel aus Licht. Ich sah, wie ihre Gesichtszüge sich entspannten, während Sam auch schon behutsam ihre Lider schloss. Urplötzlich gaben ihre Beine unter ihr nach, doch er fing sie auf und legte sie auf mein Bett.
»Geht es ihr gut?« Panik kroch mir die Kehle hoch.
Sam war aschgrau im Gesicht, aber er nickte. »Sie schläft jetzt wie ein Baby und wird sich morgen höchstens an einen ziemlich befremdlichen Traum erinnern. Erzähl ihr einfach, dass du auch sehr überrascht bist, dass sie in deinem Bett liegt, und dass du keine Ahnung hast, wie sie hierher gekommen ist.«
»Wird es denn keine Nachwirkungen wie bei Rufus geben? «
»Nein«, erwiderte Sam. »Ich bin deutlich besser darin geworden, den menschlichen Geist zu beeinflussen. Jetzt, da ich begreife, was ich eigentlich tue.«
Obwohl ich ihm in diesem Fall äußerst dankbar dafür war, minderte das, was er sagte, meine Panik nicht gerade. Wenn Sam mittlerweile so gut darin war, in den menschlichen Geist einzugreifen, dass kaum Spuren blieben, was konnte er dann damit alles machen? Während ich meine friedlich schlafende Mutter zudeckte, versuchte ich diesen Gedanken zu verdrängen, doch die Vorstellung ließ sich nicht vollständig abschütteln. Bei Sam mochte eine solche Gabe in guten Händen sein, aber was sagte sie über die Schattenschwingen im Allgemeinen aus? Vor allem, da einige von ihnen Geschmack daran gefunden hatten, die Grenze zur Menschenwelt zu überschreiten.