17

Ewige Verbundenheit

Sam

Der Spaziergang durch die Dünen war trotz seiner Länge großartig. Der Sonnenschein fühlte sich gut an, und das sahen auch die Möwen so, die träge ihre Runden über uns drehten. In dieser Gegend gab es keinen Deich, ein weich geschwungener Sandhügel schloss sich an den nächsten an, viele von ihnen waren mit im Wind tanzendem Seehafer bedeckt. Hier und da trotzten niedrige Bäume, die vom Wuchs her an mutierte Bonsais erinnerten, dem rauen Klima. Neben dem immer wieder von Sand bedeckten Weg wuchs silbriger Wermut, und der Seeflieder zeigte seine vom Sommer verblassten Blüten.

»Guck mal, die Heide blüht schon und da drüben gibt es die ersten Preiselbeeren.« Mila zeigte auf ein Beet aus dunkelgrünen Miniblättern, zwischen denen es rötlich aufleuchtete. »Der Herbst steht vor der Tür.«

Langsam schlenderten Mila und ich dem aus Lena, Rufus und Ranuken bestehenden Gute-Laune-Trio hinterher. Nachdem ich den Ford abgestellt hatte und ein grünlich angelaufener Rufus nicht aufhören konnte, mir zu erklären, dass ich das Lenkrad seines Wagens nach dieser Halsbrecher-Nummer so was von nie wieder zwischen die Finger bekommen würde, hatte ich nach Milas Hand greifen wollen. Doch sie hatte Lena rasch die Decken abgenommen und sie mit beiden Armen vor ihre Brust gehalten. Seitdem liefen wir nebeneinander her, nur gelegentlich über die Pflanzenwelt plaudernd, mit der Mila sich, ganz Tochter von Reza »Gartenqueen« Levander, bestens auskannte.

Ich dachte unentwegt darüber nach, was ich sagen konnte, um das Ganze zwischen uns wieder einzurenken. Dabei wusste ich nicht so genau, was das Ganze eigentlich war. Zum ersten Mal, seit ich Mila in der Schulbibliothek angesprochen hatte, spürte ich einen Graben zwischen uns. Keiner, der sich nicht überwinden ließ, aber es setzte mir zu, dass er sich überhaupt aufgetan hatte. Zwar waren wir – Schattenschwingen und Menschen – heute gemeinsam unterwegs und nach außen wies nichts daraufhin, dass es grundlegende Unterschiede zwischen uns gab, aber zum ersten Mal spürte ich, dass Milas und meine Welt auseinanderzudriften drohten. Und das bereits nicht einmal zwei Wochen, nachdem ich sie zurückgewonnen hatte. Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen, das diesen Prozess stoppte.

»Es ist wirklich toll, dass Shirin bei uns ist«, unterbrach Mila meine Grübeleien. »Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als sie mit uns gefrühstückt hat. Sie hat zwar kaum etwas gesagt, aber es ist trotzdem nicht zu übersehen, dass sie aufblüht. Allein wie ihre Aura wieder an Kraft gewonnen hat.«

Es war mir fast ein wenig peinlich, dass ich mir über unsere Beziehung den Kopf zerbrach, während sie sich mit ganz anderen Dingen auseinandersetzte. Dingen, die für mich eigentlich auch von großer Bedeutung sein sollten. Allerdings war ich viel zu sehr damit beschäftigt, Panik zu schieben, weil ich fürchtete, meine Freundin zu verlieren.

»Ich habe zwar keine Ahnung, woran es liegt, aber es tut uns Schattenschwingen eben gut, unter Menschen zu sein. Kastor hat sich nach seiner Stippvisite ja auch regelrecht beflügelt gefühlt.«

»Woran liegt das wohl?« Mila zog ihre Stirn kraus. Das Thema bewegte sie sichtlich.

»Für mich sieht es so aus, als würde es eine Art Wechselwirkung zwischen unseren Welten geben«, dachte ich laut nach. »In der langen Zeit, in der die Schattenschwingen nicht mehr gewechselt sind, haben viele von ihnen ja regelrecht den Lebensmut verloren. Die meisten der Alten haben bis vor Kurzem in einem schier endlosen Schlaf gelegen, als mache es wenig Sinn, in den Resten der Sphäre ein Leben zu führen. Und wir jüngeren …«

Ich hielt inne und zuckte mit den Schultern, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie mein Leben ohne die Möglichkeit zu wechseln ausgesehen hätte. Vermutlich hätte es in einem ziellosen Sich-Treiben-Lassen bestanden, weil die Wächter darauf geachtet hätten, dass ich ja keine meiner Gaben über Gebühr entwickelte. So gesehen war die geschlossene Sphäre einer Verwahranstalt für Schattenschwingen gleichgekommen, wo die Jüngeren durch Vorenthaltung von Wissen, ja, sogar durch bewusste Unterdrückung, kleingehalten wurden. Ein selbst verordneter Dornröschenschlaf, der kurz nach meinem Eintreten in die Sphäre beendet worden war. Aber von wem? Diese Frage elektrisierte mich sosehr, dass ich stehen blieb. Die Flaschen im Beutel über meiner Schulter klirrten aufgeregt.

»Sam, alles okay?«

Mila schaute mich mit ihren großen Nussaugen verunsichert an. Noch immer hielt sie die Decken wie ein Bollwerk vor sich. Ich atmete tief ein und versuchte mich zum Mundhalten zu zwingen, doch es gelang mir nicht.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass rein gar nichts okay ist – mal abgesehen davon, dass heute ein strahlend schöner Tag ist. Du strafst mich wegen Asami ab, was ich bestimmt auch verdient habe. Und vorgestern erst warst du enttäuscht von mir, weil ich mich vor einer offiziellen Rückkehr nach St. Martin drücke. Davor ist die Sache mit Reza passiert, die auch nicht gerade Begeisterungsstürme auf deiner Seite ausgelöst hat. Alles Sachen, die mit meiner Existenz als Schattenschwinge zusammenhängen. Diese Seite an mir fängt langsam an, dich abzustoßen. Ist ja nicht gerade schwierig nachzuvollziehen, warum. Aber ich kann nun einmal nicht ändern, wer ich bin.«

Nun war es heraus. Ich hätte vor Frustration schreien können, dass ich die nächste Auseinandersetzung anschob, anstatt einfach alles dafür zu tun, dass heute mal ausnahmsweise alles friedlich verlief.

Milas Nussaugen weiteten sich vor Erschrecken. »Heißt das, du willst es hinschmeißen?«

»Ich?« Mit größter Mühe konnte ich meine Schwingen davon abhalten hervorzubrechen. Wie immer, wenn ich unter großem Druck stand. Ich hätte viel dafür gegeben, sie jetzt zu öffnen und einige Male ausschlagen zu lassen, doch leider war das gerade unmöglich. Lenas orange-grüner Schopf, der keine hundert Meter vor uns leuchtete, war nicht zu übersehen. »Ich will doch nichts hinschmeißen, Herrgott! Wie kommst du nur auf eine so absurde Idee? Mit der ganzen Erklärerei will ich doch nur verhindern, dass du mir den Laufpass gibst, weil dir das alles zu viel wird.«

»Vielleicht solltest du dann nicht so viel reden, sondern lieber handeln«, schlug Mila mit einem verschmitzten Lächeln vor.

»Das habe ich neulich schon einmal irgendwo gehört.«

Milas Lippen glitten bereits auseinander, um nachzufragen, wo, aber ich war schneller und gab ihr über den Deckenwall hinweg einen Kuss.

»Das hättest du schon viel früher tun sollen«, sagte Mila, als ich sie wieder freigab. »Ich wollte mich bereits mit dir vertragen, als wir nach dieser Mörderfahrt, die du hingelegt hast, ausgestiegen sind. Vermutlich lag es an der Freude, noch am Leben zu sein«, fügte sie neckend hinzu.

»Deine Körpersprache hat aber ganz was anderes erzählt.«

»Papperlapapp, du warst einfach nicht entschlossen genug. «

»Gut, in Zukunft verzichte ich darauf, dich ernst zu nehmen, und tue einfach, wonach mir der Sinn steht.«

Betont draufgängerisch nahm ich ihr die Decken ab, ließ sie achtlos auf den sandigen Weg fallen und küsste Mila leidenschaftlich. Einen Augenblick stand sie noch stocksteif da, dann ließ sie sich darauf ein … bis Lenas Stimme zu uns rüberhallte, untermalt von einem wilden Pfeifkonzert.

»Ist ja super, dass ihr beiden euch so lieb habt, aber wir brauchen die Decken. Ihr könnte ja gleich bei den Wellenbrechern weitermachen, wir schauen euch auch nicht zu. Na ja, zumindest Rufus und ich, für Ranuken lege ich meine Hand nicht ins Feuer.«

Die drei hatten bereits die letzte Düne vor der Küste erreicht und winkten uns zu. Was für ein super Spaß. Verlegen winkten wir zurück, dann klemmte ich mir die Decken unter den Arm, wo sie mit den Flaschen kollidierten. Den freien Arm legte ich um Milas Taille.

»Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich denke, wir sollten Lena beim Wort nehmen und so schnell wie möglich da weitermachen, wo wir eben aufgehört haben.«

»Beim Küssen?« Es war Mila anzusehen, dass ihr die rüde Unterbrechung durch ihre Freundin immer noch peinlich war.

»Unter anderem«, erwiderte ich vielsagend.

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Mila

»Nun komm schon, Sam. Dieses Ablenkungsmanöver kannst du doch nicht den ganzen Tag lang durchziehen.« Lena formte einen Trichter mit ihren Händen, um gegen den Wind anzutönen. »Wo bist du den ganzen Sommer über gewesen und warum wollt ihr nicht, dass jemand mitbekommt, dass du zurück bist?«

Das Versprechen, die Gründe für Sams Rückkehr erst nach unserem Ausflug zur Sprache zu bringen, hatte Lena nicht allzu lang gehalten. Doch Sam, der auf einem der gischtumspritzten Wellenbrecher stand, ließ sich nicht bedrängen. In der Hand hielt er ein paar Grissini-Stangen, mit denen er die Möwen fütterte, die sich gegenseitig mit riskanten Sinkflügen übertrumpften, geradezu als wollten sie ihm eine tolle Show bieten. Und vermutlich wollten sie das auch, weil sie spürten, dass sie in Sam jemanden hatten, der Flugakrobatik wirklich zu schätzen wusste.

»Dein Freund ist ein ganz sturer Brocken.« Lena hatte ihre Füße in dem grobkörnigen Sand vergraben und kitzelte Ranuken, der ein Stück von uns entfernt eingedöst war, mit einem Strandhaferhalm entlang der Wirbelsäule. Mehr als ein Grunzen erntete sie jedoch nicht für ihre Mühe. »Noch ein sturer Brocken. Wenigstens bekomme ich auf diese Weise Gelegenheit, mir die Flügelzeichnung mal genauer anzusehen. Ranuken macht zwar ein Heidengewese darum, aber richtig drangelassen hat er mich nicht. Dabei juckt es mich in den Fingern, sie einmal anzufassen.«

»Wow, Lena«, mischte Rufus sich in die Unterhaltung ein. Eigentlich hatte ich gedacht, er wäre ganz in die Musik versunken, die er mit seinem iPod hörte. »Dass du einen schlechten Geschmack hast, habe ich ja gewusst, aber das ist echt heftig. Diesen Zwerg anfassen wollen, brrrr.«

Zu meiner Verwunderung ging Lena nicht einmal ansatzweise auf Rufus’ Provokation ein – womit sie ihn zweifelsohne mehr traf, als wenn sie sich mit geballten Fäusten auf ihn gestürzt hätte. Für Körperkontakt war mein Bruder schließlich zu haben. Stattdessen sah sie mich ernst an. »Hör mal, Mila. Ich habe schon kapiert, dass du es Sam überlassen willst, mich aufzuklären. Aber über dieses Flügelmotiv dürfen wir beiden uns bestimmt unterhalten, während dein Freund sich mit einem Schwarm Luftpiraten verbrüdert. Wofür stehen die Schwingen?«

Ich knabberte an meiner Unterlippe herum und gab vor, hoch konzentriert an meiner Zeichnung zu arbeiten, in der ich eigentlich die stürmische Naturgewalt Wasser hatte einfangen wollen. Irgendwie war es dann doch eine Skizze von Sams Rückenansicht geworden. Mir gefiel, wie der Wind an seinem Haar riss und das über die Wellenbrecher schwappende Wasser an seinen nackten Füßen leckte. Seine Aura leuchtete zwar sanft, aber doch sichtbar genug, weshalb es mich wunderte, dass Lena sie nicht bemerkte. Dieses Strahlen sagte doch alles über ihn aus. Auf meiner Zeichnung ließ ich die Stellen weiß, wo eigentlich die Aura sein müsste – für den Fall, dass Lena einen Blick darauf warf. Ich wollte ihr nicht erklären müssen, warum ich meinem Freund einen Strahlenkranz verpasste. Die Sprüche, die sie darüber reißen würde, konnte ich mir auch so lebhaft ausmalen.

»Die Schwingen auf Sams Rücken stehen für ein neues Leben, das mit seinem alten kaum noch etwas gemeinsam hat. Sie stehen dafür, dass Sam niemals nach St. Martin zurückgekehrt wäre, wenn es mich hier nicht geben würde. Weil er jetzt zu denen da gehört.«

Ich deutete mit dem Stift auf Ranuken.

Nachdenklich wiederholte ich meine eigene Feststellung im Geist. Es stimmte: Ohne mich wäre Sam nicht in die Menschenwelt zurückgekehrt. Soweit ich wusste, hatte keine andere der Schattenschwingen, die nach dem Krieg in die Sphäre gekommen waren, diesen Weg eingeschlagen. Sie waren alle mehr oder weniger damit zufrieden gewesen, ihr Dasein auf die Sphäre zu beschränken. Den Wechsel zwischen den Welten zu unterbinden, war eine Sicherheitsmaßnahme gewesen, die mittlerweile offenkundig in Vergessenheit geraten war. Bei diesem Gedanken rann mir ein kalter Schauer über die sonnengewärmte Haut, obwohl ich doch glücklich war, meine drei Lieblingsschattenschwingen in St. Martin zu haben. Am liebsten für immer. Ehrlich gesagt, hätte es mir nicht viel ausgemacht, wenn die Grenze zwischen den Welten plötzlich geschlossen worden wäre und sie deshalb bei mir hätten bleiben müssen.

»Sam sieht wirklich ganz verändert aus.« Lena klang einen Tick benommen, ganz so, als habe sein Anblick ihr eine Überdosis Sam-Zauber verpasst. »Damit meine ich weder, dass er vom Aussehen her sichtlich reifer geworden ist, noch die längeren Haare und sein breites Kreuz … obwohl ich das schon ziemlich beeindruckend finde.«

Wir tauschten ein Grinsen aus, während Rufus genervt stöhnte und den Lautstärkebutton hörbar nach oben trieb, bis er unsere Schwärmerei nicht länger ertragen musste. Dann zog er los, um das Treibholz, das wir bei einem Gang am Wasser entlang aufgesammelt hatten, zu einer Pyramide aufzuschichten. Wie ich meinen Bruder kannte, hatte er nach dem Picknick, das wir zur Mittagszeit veranstaltet hatten, bereits wieder ein Loch im Magen und wollte die übrig gebliebene Dose Sojawürstchen in Essbares verwandeln. So ein Feuer wäre auch eine feine Sache, schließlich würde es bald zu dämmern anfangen. Der Tag war wie im Flug vergangen.

Lena warf Rufus noch einen verstohlenen Blick hinterher und lächelte mich dann entschuldigend an. »Schlechte Angewohnheit, ich weiß. Aber ich arbeite hart daran, sie abzulegen.«

»Du schlägst dich tapferer, als du glaubst. Noch ein bisschen mehr kalte Schulter, und Rufus fängt an, um deine Aufmerksamkeit zu betteln.« Und nichts anderes hat er verdient, fügte ich im Geiste hinzu.

»Frag mich nicht, worauf Rufus’ Anziehungskraft beruht, aber sie hat es ganz schön in sich.« Lena lehnte sich gegen mich, was mich automatisch zusammenzucken ließ. Ankuscheln war so gar nicht meine Freundin. Seit dem Sommer zeigte sie unablässig neue Seiten, ich kam schon gar nicht mehr hinterher. »Anziehungskraft hin oder her, ich bin jedenfalls fest entschlossen, mich davon nicht mehr einseifen zu lassen. Bei deinem Sam ist das was anderes. Seine Ausstrahlung packt einen, ob man will oder nicht. Das ist schon immer so gewesen. Jetzt ist es übrigens noch um ein Vielfaches intensiver, als würde man geradezu magnetisch von ihm angezogen, sobald man in seinen Radius gerät. Bei Shirin ist es ähnlich und selbst Ranuken hat was davon. Dabei ist er nach wie vor ganz klar Sam, nur irgendwie mehr Sam.«

Die Zielsicherheit, mit der Lena es auf den Punkt brachte, ließ mich schlucken. Es war schwierig, vor jemandem wie ihr ein Geheimnis zu bewahren. Egal, was Sam sich gerade als Ausrede zurechtlegte, während die Möwen die letzten Grissinis verschlangen, langfristig würden wir Lena nicht täuschen können. Allerdings war ich mir auch gar nicht sicher, ob Sam das überhaupt wollte. Es schien ihm zu widerstreben, seine wahre Natur zu verleugnen.

»Ich verstehe, was du meinst«, bestätigte ich Lenas Beobachtung. »Sam hat eine beeindruckende Entwicklung durchgemacht. Seine Freunde haben ihm sehr dabei geholfen. Es ist also kein Wunder, dass es ordentlich in dir arbeitet, nachdem du diesen Haufen kennengelernt hast. Die sind eben beeindruckend. Ich würde dir das alles total gern erklären, nur ist die Sache überkompliziert. Komplizierter als du es dir auch nur im Entferntesten vorstellen kannst. Wortwörtlich.« Mein Lächeln geriet schief.

Lena sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Du machst mir Angst. Und weißt du warum? Du kennst mich sehr gut, Mila. Manchmal denke ich, dass niemand ein klareres Bild von mir zeichnen könnte. Wenn du dich also derartig standhaft weigerst, mit der Story rauszurücken, fallen mir nur zwei logische Erklärungen ein. Möglichkeit Nr. 1: Bescheid zu wissen, würde mich in irgendeiner Form gefährden. Das kann es aber nicht sein, ansonsten würdest du mich wohl kaum mit diesen tätowierten Barfußfanatikern zusammen rumhängen lassen.«

Ich nickte eifrig, obwohl Lena meiner Bestätigung offenbar nicht bedurfte. Ganz in Gedanken malte sie mit dem Strandhaferhalm eine Zwei in die Luft.

»Möglichkeit Nr. 2: Die Story ist tatsächlich so irre, dass sie mich komplett überfordern würde. Nervte ich dich solange, bis du sie mir schließlich erzählst, würde sich mein Hirn in Brei verwandeln und zu meinen Ohren hinauslaufen.«

»Bingo«, sagte ich schlicht.

Lena ließ sich auf den Rücken sinken, den Halm zwischen den Zähnen. »Okay«, sagte sie dann. »Ich muss über das Risiko nachdenken. Was ist von größerer Dringlichkeit: ein intaktes Hirn oder meine befriedigte Neugier?«

Das war Lena.

Ich spielte mit dem Gedanken, weiter an meiner Zeichnung zu arbeiten. Dann blickte ich auf und sah meinem Motiv direkt in die schillernden Meeresaugen. Oh ja, ich spürte diesen Magnetismus, von dem Lena eben gesprochen hatte. Mehr als jeder andere Mensch. Mit einem raschen Griff legte ich den Block beiseite und lief auf meinen Stern zu.

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Wenn man die richtige Mulde in den Dünen fand, war der Wind plötzlich wie abgeschnitten. Gerade fegte er einem noch den Sand ins Gesicht und fuhr unter die Kleidung, bis sie sich aufblähte. Sobald man jedoch einen Schritt in die Kuhle setzte, war er fort. Als hätte ihn jemand ausgeknipst. Nur das Tosen der brechenden Wellen war noch zu hören.

Sam und ich lagen Arm in Arm nebeneinander und blinzelten in den dunkelblauen Himmel, den die Dämmerung nach und nach schwarz färbte. Nicht mehr lange und die ersten Sterne würden wie elfenbeinfarbene Blumen aufgehen. In einem Moment war da noch nichts, und schon im nächsten sprenkelten sie das Firmament. Unverwandt richtete ich meinen Blick nach oben, denn ich war fest entschlossen, mir den Moment nicht entgehen zu lassen. Das hieß: vielleicht doch. Zum Meer hin sah ich nämlich eine Rauchsäule in den Himmel steigen. Ich stützte mich auf die Unterarme und holte Sam damit aus seiner Relaxtheit.

»Schau dir das an. Ich wette, unser Feuerteufel ist wieder am Werk. Ranuken ist nicht der Typ, der sich mit einem ordinären Lagerfeuer zufrieden gibt. Nein, bei ihm muss es ordentlich qualmen und rußen. Meinst du, Rufus und Lena packen das allein?«

»Das Feuer oder Ranuken im Zaum zu halten?«

»Beides.«

»Keine Ahnung, aber im Zweifelsfall brennt Sand nicht. Was kann schon Großes passieren, außer dass plötzlich die Küstenwache auftaucht und den dreien kräftig den Kopf wäscht?«

Sam hat recht, sagte ich mir. Wie typisch für mich, gleich wieder nach einem Problem zu suchen, anstatt einfach zu genießen, dass wir beide zum ersten Mal seit Tagen Ruhe und Zeit füreinander hatten. Ich wusste doch genau, wie rar diese Momente derzeit waren. Warum konnte ich sie nicht einfach entspannt genießen? Warum suchte ich überall Fallstricke? Während ich mich an Sam schmiegte, nahm ich mir fest vor, an mir zu arbeiten. Schließlich wollte ich nicht zu der Sorte Mensch werden, auf deren Stirn sich vor lauter Misstrauen Falten eingraben und die selbst Marienkäfern böse Absichten unterstellen. Mit einer Mutter, die voller Vertrauen durchs Leben wandelte, und einem Vater, der zwar Wissenschaftler, aber nichtsdestotrotz Optimist war, sollten mich meine Familiengene eigentlich davor schützen.

»Alles wird gut«, flüsterte ich vor mich hin und fühlte der Erleichterung nach, die sich bei dieser Losung einstellte.

»Was sagst du?« Sam drehte sich auf die Seite und streichelte über die empfindliche Innenseite meines Arms. »Du siehst aus, als wäre dir gerade ein Stein vom Herzen gefallen. «

»Viel besser: Ich habe ihn zur Seite gerollt. Versteh mich jetzt nicht falsch, aber es ist nicht einfach für mich, mit dir zusammen zu sein. Das, was in der Sphäre passiert ist, hat mich ziemlich verstört. Jetzt muss ich erst einmal lernen, dass das nichts mit uns als Paar zu tun hat. Die Sphäre und was in ihr geschieht, ist das eine – du und ich, wir sind das andere. Das, was ich für dich empfinde, ist richtig. Daran können weder die Schattenschwingen noch die Menschen um uns herum was ändern.«

Ich kniff die Augen zusammen und bemühte mich, die liebkosenden Finger auf meinem Oberarm zu vergessen. Es war mir einfach zu wichtig, Sam verständlich zu machen, was in mir vorging.

Allem Anschein nach hatte Sam sich bereits ähnliche Gedanken gemacht. »Das klingt ja fast so, als würdest du glauben, dass der Übergriff bei der Versammlung eine Strafe für meine Rückkehr in die Menschenwelt war.«

Überrascht öffnete ich die Augen. Zuerst wollte ich lautstark protestieren, aber dann bemerkte ich, dass Sam keineswegs verärgert, sondern locker klang. »Dir ist diese Möglichkeit also auch durch den Kopf gegangen?«

Sam knabberte nachdenklich auf seiner verschorften Unterlippe, die leicht zu bluten begann. »Der Gedanke war naheliegend. Aber er ist falsch. Die Pforte ist Teil unserer Existenz, sie ist sogar in unserer Augenfarbe festgelegt. Ich kann also nichts Verkehrtes daran erkennen, sie zu benutzen. Ich kann mir höchstens vorwerfen, dass ich nicht bedächtiger vorgegangen bin, sondern mir gleich den Zorn der Wächter zugezogen habe. Aber die Versammlung war unausweichlich, früher oder später hätten wir darüber beraten müssen, wie mit dem Wechseln umzugehen ist. Denn ich hätte auf keinen Fall darauf verzichtet, zu dir zu kommen.« Die Entschlossenheit ließ die Züge seines Gesichtes markant herausstechen. Wann genau war Sam eigentlich zu einem jungen Mann geworden? »Es gibt zwei Momente in meinem Leben, in denen sich alles genau richtig angefühlt hat: Als ich von der Klippe gesprungen bin, um mein altes Leben hinter mir zu lassen. Und als ich zu dir zurückgekehrt bin.«

Ein solches Geständnis gelang auch nur Sam mit einer solchen Selbstverständlichkeit. Dabei wurde er nicht einmal rot oder verhaspelte sich. Warum auch? Er schien sich seiner Sache absolut sicher.

Kurz flackerte ein Bild vor mir auf, welche Art Mann er sein würde, wenn er die letzten Schalen eines Jugendlichen abgestreift hatte. Unumstößlich und von einer Klarheit, die sich jetzt schon in seiner Aura zeigte. Die Vision wurde stärker und wischte alle menschlichen Züge beiseite. Ich ließ es geschehen. Schließlich zeigte sie mir den Kern, der tief in Sam ruhte, die Essenz dessen, was er war. Reines, helles Licht. Eine seltsame Erregung ergriff Besitz von mir, ausgelöst von dem Verlangen, dieses Licht zu berühren, mit ihm zu verschmelzen. Zugleich war da aber auch Furcht vor der Andersartigkeit, denn was ich sah, hatte wenig mit meiner menschlichen Natur gemein. In mir schlummerte nichts Vergleichbares. Ich war anders, eben keine Schattenschwinge. Doch spürte ich da keine Grenze, sondern viel mehr die alte Verbundenheit, die sich in der Sekunde aufgetan hatte, als ich Sam das erste Mal auf dem Schulflur gesehen hatte. Was auch immer die Schattenschwingen in Wirklichkeit sein mochten, sie gehörten auch zu uns Menschen. Und es war Sams menschliche Seite, in die ich mich verliebt hatte – unabhängig von dem Strahlen, das ihn umgab und mich wärmte.

Immer noch umfangen von der Vision, holte ich das getrocknete Ginkgoblatt aus meinem Zeichenblock hervor und legte es auf meinen Handteller. »Schau mal, was siehst du?«

Sam runzelte die Stirn, dann schlich sich ein Lächeln in seine Mundwinkel. »Die Frage müsste wohl eher lauten, was du siehst. Deiner Miene zufolge, steht dieses Blatt für etwas Besonderes.«

»Für uns beide«, antwortete ich leise. »So sind wir: zwei und zugleich eins. Wobei ich mir sehnlichst wünsche, nur eins mit dir zu sein. Aber ich befürchte, bis auf einige wenige Momente wird einem diese Art von Vereinigung nicht zuteil. Man kann jemanden innig lieben und trotzdem ist da stets die Ahnung, zweigeteilt zu sein.«

»Bereitet dir das Kummer?«

»Ja, aber von einer schmerzlich-süßen Sorte.«

»Den Geschmack kenne ich.« Sam streichelte mit seinen sandigen Fingern über den Puls meines Handgelenkes. Ich stemmte meine Füße in den Sand, um ein Seufzen zu unterdrücken. Es fühlte sich einfach zu schön an. »Jedes Mal, wenn du dich von mir abwendest, ist da dieser Geschmack: Als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Gleichzeitig genieße ich das Gefühl, weil es mir zeigt, wie viel du mir bedeutest. Da fällt mir ein, ich habe ein Geschenk für dich.«

Mit der freien Hand griff er in seine Hosentasche und holte einen Ring hervor. Einen weichen Glanz verströmend, wie ihn nur der Bernstein der Sphäre hervorrufen kann, lag er auf seinem Handteller. Es waren zwei ineinander verschlungene Bänder, wovon das eine heller und schmaler war. Der Art, wie die Bänder sich umeinander wanden, haftete etwas Sinnliches und Lebendiges an. Als wären sie ein Liebespaar.

Ich beugte mich über den Ring, traute mich allerdings nicht, ihn zu berühren.

»Falls du ihn nicht tragen möchtest, kann ich es verstehen. « Unsicherheit hatte sich in Sams Stimme eingeschlichen. »Er ist ein Fundstück aus der Sphäre und darüber hinaus verfügt er über Magie, auch wenn ich nicht genau weiß, welcher Art sie ist.«

Daran zweifelte ich nicht im Geringsten. Das war nicht bloß ein symbolisches Schmuckstück. Ihm war eine Aufgabe eingraviert worden.

»Dieser Ring steht für die Bindung, die zwei Liebende eingehen«, setzte Sam ein wenig hilflos nach.

Ich brauchte ihn nicht anzuschauen, um zu wissen, wie sehr er sich wünschte, dass ich sein Geschenk annahm. Ein Symbol unserer Verbindung, für jedermann sichtbar.

»Ich möchte ihn tragen.«

Die Oberfläche des Rings schimmerte fein. Als ich ihn zwischen meine Fingerspitzen nahm, konnte ich mir lebhaft ausmalen, wie sich das Material an meinen Finger schmiegen würde. Zu meiner Verwunderung zerfloss der Bernstein jedoch unter meiner Berührung. So fühlte es sich jedenfalls an. Als ich die Hand zurückzog, erkannte ich, dass die Bänder auseinandergeglitten waren und nun zwei Ringe auf Sams Handteller lagen.

»Einen für dich und einen für mich. Darf ich ihn dir anstecken? « Ich konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, obwohl Sams Miene überaus ernst war.

»Ja«, sagte er leise und hielt mir seine linke Hand hin. Die versehrte Hand, an der ein Teil der Ringfingerspitze fehlte. Als ich fragend die Augenbrauen hochzog, lächelte er. »Links ist näher am Herzen.«

Behutsam schob ich ihm den dunkleren Ring über den Ringfinger, im Stillen darauf hoffend, dass dieser schmale Reif auch passte. Sams Hände waren kräftig, mit ausgeprägten Knöcheln. Meine Sorge erwies sich allerdings als überflüssig, denn der Bernstein passte sich so perfekt an, wie es wohl keinem geschmiedeten Ring je gelungen wäre.

Dann nahm Sam das hellere Gegenstück und steckte ihn mir langsam an, als wolle er mir noch die Chance geben, meine Hand zurückzuziehen. Nichts lag mir ferner. Als der Ring seine Position eingenommen hatte, wartete ich darauf, dass etwas Außergewöhnliches geschah, wie das Einrasten eines Mechanismus. Doch das Einzige, das ich wahrnahm, war ein warmer Stich in meiner Brust, gefolgt von einem Herzrasen, das mir bis in die Ohren dröhnte.

Sam sah mich an, dann beugte er sich vor und gab mir einen leichten Kuss auf die Lippen. »Damit ist es besiegelt«, sagte er und lachte befreit.

»Ja.« Mehr brachte ich nicht hervor. Vielleicht war durch das Anstecken des Bernsteinrings kein magisches Feuerwerk entbrannt, aber ich brannte trotzdem lichterloh.