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Ein Meer aus Angst

Sam

Der magische Moment, wenn ich die Meeresoberfläche durchbrach, und – anstatt ins kalte Nass einzutauchen – in der Sphäre ankam, trat auch bei diesem Wechsel ein. Nur gab ich mich dieses Mal nicht der Freude hin, endlich wieder nach Hause gekommen zu sein, sondern blockte alle Empfindungen ab. Sogar das mentale Anklopfen von Asami, der offenbar nur darauf gewartet hatte, mich in Empfang zu nehmen. Leider musste ich ihn enttäuschen: Ich war nicht als Schattenschwinge gekommen, sondern als jemand, der seine entführte Freundin zurückholen wollte. Ganz gleich, was es kostete.

Eine Sache konnte ich nach meinem Eintritt in die Sphäre jedoch nicht ignorieren: den Ring an meiner Hand. In der Sekunde, in der er mit der Sphäre in Berührung gekommen war, begann er, ein Eigenleben zu führen, so verrückt es sich auch anhören mag. Ich trug nicht länger ein Stück Bernstein, das jemand Versiertes in ein Schmuckstück verwandelt hatte, sondern etwas Eigenständiges. Der Bindungsring war zu Leben erwacht und verriet mir, dass Mila tatsächlich ebenfalls in der Sphäre war. Mir war fast so, als stünde sie direkt vor mir, als läge meine Hand auf ihrem rasch gehenden Puls.

Ich stockte.

Tatsächlich, ich konnte sie spüren! Ihr Herz jagte wie wild … vor Angst. Sie fürchtete sich so sehr, dass ich für einen Augenblick meine ausgebreiteten Schwingen vergaß und beinahe ins Wasser stürzte. Dann hatte ich mich bereits wieder gefangen und konzentrierte mich auf die Zeichen, die der Ring mir zuspielte. Der Schlag ihres Herzens, der Hall ihrer aufgewühlten Empfindungen, sie drangen über das Meer zu mir hindurch. Der Schatten hatte sie hinaus aufs Meer verschleppt.

Meine Schwingen stemmten sich mit voller Kraft gegen den Widerstand der Luft, denn obwohl der Wind günstig stand, ging es mir nicht annähernd schnell genug voran. Ich musste mich beeilen, Milas Furcht lag mir bitter auf der Zunge. Wenn ich sie nicht bald erreichte, würde ich noch daran ersticken.

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Mila

Mit jedem Herzschlag lebte der Ring mehr auf.

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie trostlos es sich angefühlt hatte, als er durch eine Barriere von mir getrennt gewesen war. Die Barriere, die entstand, wenn Sam und ich uns in verschiedenen Welten aufhielten. Nun war der Bernstein wieder warm und lebendig. Nur Sams Berührung fühlte sich eindringlicher an. Zu gern hätte ich mich dieser Empfindung überlassen, aber das war unmöglich. Führte sie mir doch vor Augen, dass Sam in meiner Nähe war. Dann hörte ich das Echo seiner Stimme.

Wo bist du?

Das Echo traf mich … und der Ring warf es zurück, schickte gegen meinen Willen eine Antwort aus: Hier bin ich, komm zu mir.

»Nein!« Ich kauerte mich auf dem Boden zusammen, die Hand unter mir verborgen, um den verräterischen Ring abzuschirmen, damit er kein weiteres Zeichen an Sam ausschicken konnte. »Du darfst ihm nicht den Weg weisen, bitte«, flehte ich. In Wahrheit wusste ich, dass es zu spät war. Es erreichte mich kein weiteres Echo mehr, denn Sam wusste nun, wo er mich finden konnte. Verzweifelt konzentrierte ich mich darauf, ihm auf die gleiche Weise, wie er mich erreicht hatte, eine Nachricht zu senden. Ich musste ihn unbedingt wissen lassen, dass er fortbleiben sollte. Doch es gelang mir nicht. Ich konnte die Magie des Ringes nicht entfachen.

»Wie nah ist Samuel?«

In meinem Kummer hatte ich Ask ganz vergessen. Nachdenklich leckte ich über meine aufgebissene Unterlippe. Das Blut schmeckte salzig. Ask wusste zwar, dass Sam in die Sphäre gewechselt war. Dass er allerdings bereits nach mir suchte, das konnte er nur vermuten. Wenn es mir gelang, Ask davon zu überzeugen, dass er sich in keiner Weise sicher sein konnte, dass Sam hier auftauchen würde, dann würde er vielleicht einen anderen Plan ersinnen – einen, der Sam nicht in Gefahr brachte. Meinen ganzen Mut zusammennehmend, schickte ich ein stummes Stoßgebet in Richtung Himmel: »Hallo, da oben, ich weiß selbst, dass ich eine miserable Lügnerin bin, aber bitte, bitte lass mich jetzt trotzdem das Schauspiel meines Lebens abliefern!«

Dann richtete ich mich entschlossen auf.

Ask hatte seine metallisch glänzenden Schwingen geöffnet und stand ein paar Schritte von mir entfernt. Um mich brauchte er sich nicht zu kümmern, ich saß fest. Um von diesem elenden Eiland mitten im Nirgendwo wegzukommen, brauchte man Flügel. Einen Kampf gegen die sich hoch aufbauenden Wellen mit ihren Schaumkronen würde ich nämlich selbst dann verlieren, wenn ich eine gute Schwimmerin wäre. Zu tosend war das Meer, geradezu, als wollte es diese kleine Insel, herausgefordert von dem magischen Grenzwall, der es fernhielt, unbedingt verschlingen. Allein sein Anblick verursachte mir Atemnot. Nun wusste ich wieder, warum ich das Meer immer gefürchtet hatte: Es war ein wildes, unberechenbares Element.

»Weißt du, dass Sam in die Sphäre gewechselt ist, muss nichts mit mir zu tun haben«, setzte ich meinen ersten Stich. »Die Sphäre ist schließlich seine Heimat und von mir hat er sich getrennt. Wir sind kein Paar mehr.«

»Getrennt.« Ask stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Du hast ihn fortgeschickt, weil dein ängstliches Menschenherz es nicht länger ertragen hat, seiner Welt ausgeliefert zu sein. Aber solange du den Ring trägst, gehört ihr zusammen. Dein überflüssiges Gerede von einer Trennung ändert daran nichts.« Während er gelassen diese Wahrheit aussprach, löste Ask nicht eine Sekunde lang den Blick vom Himmel, an dem sich nach wie vor höchstens einmal ein Seevogel zeigte. »Samuel wird kommen. Nur wird er all das für eine von Nikolais schwachsinnigen Handlungen halten und deshalb keine Ahnung haben, wem er in Wirklichkeit gegenübertritt. Im Gegensatz zu dir hat er meine Tarnung nicht gelüftet.«

Das stimmte. Sam konnte nicht ahnen, dass auf diesem Eiland sein gefährlichster Gegner auf ihn wartete. Stattdessen würde er davon ausgehen, ein leichtes Spiel zu haben. Schließlich hatte er Nikolai bereits einmal seinem Willen unterworfen, ohne dass es ihm große Probleme bereitet hätte. Heute aber würde ihm sein Gefühl der Überlegenheit das Genick brechen, denn die einzige Gemeinsamkeit zwischen Nikolai und Ask bestand in ihrem Körper. Doch was zählte in der Welt der Schattenschwingen schon ein Körper, wo es die Aura war, die über den Ausgang eines Kampfes entschied? Ich erinnerte mich nur zu gut an die entscheidende Wende im Kampf zwischen Sam und Asami, als Sams Aura so hell erstrahlte, dass es mich beinahe geblendet hätte. Seine Aura war die hellste, kräftigste von allen. Dagegen würde selbst Asks Strahlenkranz kaum bestehen können.

Plötzlich fiel mir siedendheiß der Pfeil ein, den ich Ask in die Haut geschnitten hatte. Ich hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, inwiefern die Schnittwunde ihm einen Vorteil verschaffte, aber Shirins Erinnerung hatte mir lebhaft vor Augen geführt, dass die Zeichnung der Haut bei den Schattenschwingen etwas ganz anderes bedeutete als bei uns Menschen. Die Schnitte spielten mit der Aura zusammen, indem sie Macht raubten oder schenkten. Eine dunkle Kunst, in der Ask ein Meister gewesen war. Dieser Pfeil würde zweifellos eine wichtige Rolle spielen.

Während ich versuchte, dass Ausmaß der Falle zu begreifen, in die ich getappt war, holte ich das Ginkgoblatt hervor, das ich in der Hälfte durchgerissen hatte. Die andere Hälfte hatte Sam gefunden, da war ich mir ganz sicher. Manche Dinge konnte man nicht wieder kitten, das musste man akzeptieren. Sam würde es trotzdem versuchen, indem er zu mir kam. Nur würde Ask ihm bestimmt nicht entgegentreten, wenn er sich nicht sicher wäre, aus diesem Kräftemessen als Sieger hervorzugehen. Vor allem, da er auch noch das Überraschungsmoment und mich als Geisel auf seiner Seite hatte. Kein Zweifel, er würde von Sam bekommen, was er wollte … Es sei denn, es gelang mir, seine Rechnung durcheinanderzubringen, indem ich einen Faktor rausnahm: mich.

Ich musste eine Entscheidung treffen: Welche Hälfte des Ginkgoblattes sollte erhalten bleiben? Meins – oder das, das Sam bei sich trug?

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Sam

Das Meer unter mir war in hellem Aufruhr. Gierig bauten seine Wellenkämme sich auf, als legten sie es geradezu darauf an, nach mir zu greifen.

Während ich nach der Quelle in mir tastete, um meinen bereits schmerzenden Schwingen neue Kraft zu verleihen, nahm das Echo von Milas Innenwelt zu. Sie wurde ruhiger, obwohl ihr Körper weiterhin aufgebracht war. Sie traf eine Entscheidung. Nein!, wollte ich ihr entgegenschreien. Warte! Ich bin bald bei dir. Doch sie hörte mich nicht.

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Mila

Ich hatte mich entschieden.

Es war mir so leicht wie das Atmen gefallen, nicht der leiseste Zweifel tat sich auf. Kurz versicherte ich mich noch einmal, dass Ask weiterhin in den dunstigen Himmel spähte und mich mit Missachtung strafte. Dann spannte ich sämtliche Muskeln an und sprintete los. Hinter mir hörte ich sein genervtes Schnauben.

»Mila, vor mir wegzulaufen ist doch sinnlos. Selbst wenn du dich ans andere Ende der Insel verziehst, braucht es für mich nicht mehr als einige Flügelschläge, um dich einzufangen. Komm zurück, sonst hole ich dich und breche dir als Strafe die Beine. Ich habe nämlich keine Zeit für deine Kindereien. «

Deine Drohung ist mir so was von egal, dachte ich mir, während der Rand des Eilands vor mir auftauchte. Eine unsichtbare Mauer hielt die Wellen zurück, ließ sie nur gerade eben über den Boden lecken, anstatt ihn mit seiner überschäumenden Gier zu überfluten. Hinter mir hörte ich das bedrohliche Rauschen von Schwingen, die die Luft mit Kraft verdrängten. Ask hatte beschlossen, dass es an der Zeit war, seine Drohung wahrzumachen. Obwohl die Muskeln in meinen Beinen wie Feuer brannten, zwang ich sie weiter voran. Dann war der Rand auch schon erreicht, aber anstatt anzuhalten, sprang ich über ihn hinweg.

In einem Moment hörte ich noch Asks lautstarkes Fluchen, im nächsten war nur noch das Rauschen des Wassers in meinen Ohren, während ich in das tosende Meer eintauchte, das mich sogleich in die Tiefe riss wie eine unsichtbare Hand. Selbst wenn ich es gewollt hätte, so hätte ich mich nicht gegen diese Kraft wehren können. Nur wollte ich es gar nicht. Ich ließ mich einfach sinken, trieb die Luft aus meinen Lungen und ignorierte den Schmerz, der meinen Brustkorb ausfüllte. Ich musste versinken, und zwar schnell, bevor es Ask gelang, mich herauszufischen. Allerdings standen seine Chancen schlecht in diesem undurchdringlichen, wütenden Sturm, den das Meer um das Eiland herum entfacht hatte. Das Wasser zerrte und schlug nach mir mit einer Vielzahl von Händen, während es mich in seine Schwärze riss.

Von allen Arten, zu Tode zu kommen, war mir Ertrinken stets als die Furchtbarste erschienen. Das Ausgeliefertsein, das bodenlose Nichts, die vergebliche Hoffnung, dass einem der Aufstieg doch noch rechtzeitig gelingen wird. Doch es war nicht annähernd so schlimm wie befürchtet. Die Kälte betäubte meinen Körper bis auf den Druck in meinen Schläfen, meine Gedanken schwanden. Nur das Verlangen nach Luft wurde unbändig groß, bis mein Überlebensinstinkt sich gegen meinen Willen durchsetzte und den Mund aufschnappen ließ. Es drang jedoch nur eisiges Salzwasser ein, das in meiner Kehle brannte. Hinter meinen geschlossenen Lidern breitete sich bereits warmes Rotgold aus, das mich zu wärmen begann.

Gleich ist es vorbei, dachte ich, froh über die Wärme, die mich von der anderen Seite her begrüßte … bis ich begriff, dass diese keineswegs von der anderen Seite zu mir durchdrang.

Es war der Ring, der sich in eine Leuchtflamme verwandelt hatte!

Verzweifelt versuchte ich ihn mit letzter Kraft abzustreifen, doch meine vor Kälte und Sauerstoffmangel steifen Finger verweigerten mir den Dienst.

Du wirst mich verraten. Ask wird mich finden. Geh ab!, flehte ich stumm.

Da legten sich bereits kräftige Arme von hinten um meinen Körper und die Wärme nahm schlagartig zu, obwohl sie ihre rotgoldene Farbe verlor. Ich wollte mich zur Wehr setzen, doch es gelang mir nicht. Mein Kopf wurde zurückgebogen und ich spürte Lippen, die sich auf meine senkten. Mein letztes Aufbegehren bestand darin, die Luft zu verweigern, die mit dem Kuss über meine Lippen wanderte.

Keine Rettung! Nicht so kurz vor dem Ziel!

Dann begriff ich endlich, dass es nicht Ask war, der mich gefunden hatte, sondern Sam. Nur dieser Gedanke gelang mir noch, ehe ich davonglitt in die Dunkelheit. Das Meer gewann den Kampf um mich.