7
Überraschung!
Mila
Um es gleich vorweg klarzustellen: Schwänzen ist nicht meine Art! Ich gehe gern zur Schule, obwohl es einige Fächer gibt, die die Hölle für mich sind. Außerdem nehme ich den Unterricht ernst und schäme mich jedes Mal, wenn ein Mitschüler sich nicht einmal die Mühe macht, sein Fehlen irgendwie zu begründen. Mag altmodisch klingen, aber so bin ich. Meistens jedenfalls. Außerdem war das heute kein echtes Schwänzen, ich hatte wirklich Magengrimmen. Dauerstress und Schlafentzug forderten allmählich ihren Preis. Wäre meine Mutter pfeifend durchs Haus gelaufen und hätte mein Vater mir einen heißen Tee als Guten-Morgen-Gruß in Aussicht gestellt, dann hätte die Situation vielleicht anders ausgesehen. Nur waren meine Eltern bereits gestern abgereist. So hatte ich den Wecker zum Verstummen gebracht und mich im Bett noch einmal umgedreht.
Jetzt war es Mittag.
Ich saß in der Küche mit einem Kräutertee vor mir, weil mein Magengrimmen dank einer ordentlichen Portion schlechten Gewissens deutlich zugelegt hatte. Rufus hatte sich gerade in Richtung Haus der Jugend verabschiedet, wobei er mindestens so gerädert ausgesehen hatte, wie ich mich fühlte. Während Sam und ich im Wohnwagen unsere Zweisamkeit genossen hatten, war Rufus bei den feierfreudigen Surfern versackt. Irgendwann hatte Toni mit einem breiten Grinsen an den Wohnwagen geklopft und mich darauf hingewiesen, dass mein Bruder unbedingt mitten in der Nacht surfen wollte – obwohl er es nicht einmal mehr in einen Neoprenanzug hinein schaffte. Nacktsurfen Anfang September in angesäuseltem Zustand war keine besonders gute Idee. Also hatte ich mich von Sam losgerissen und zugesehen, dass ich Rufus nach Hause bekam.
Als mein Handy klingelte, zuckte ich derart zusammen, dass mir heißer Tee über die Finger lief. Ich mochte zwar ausgeschlafen sein, aber mit den Nerven war ich eindeutig am Ende. Erst nachdem ich mich vergewissert hatte, dass der Anruf nicht etwa von meinen Eltern oder gar unserer Rektorin, sondern von Lena kam, nahm ich ihn an.
»Schulschwänzerin!«, krakeelte Lena mir fröhlich ins Ohr. »Das fängt ja gut an. Kaum sind deine Eltern aus dem Haus, wirfst du auch schon deine Lebens- und Leistungseinstellung über Bord. War mir schon klar, dass das mit dem braven Mädchen bloß gespielt war. Vermutlich hast du es mit Mr Nachtaktiv so richtig knallen lassen und kommst heute nicht mehr auf die Beine.«
»Sei nicht eklig«, forderte ich sie nur halb entrüstet auf. Denn ein wenig Recht hatte sie ja.
»Mila macht blau, die kleine …«
»Es reicht! Hörst du? Mir geht es echt nicht gut, mein Magen ist ein einziger Knoten. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist eine fiese Freundin. Ich brauche Zuneigung und Verständnis.«
Lena kicherte. »Ist ja gut, ich will dich doch nicht quälen. Na ja, höchstens ein Kleinbisschen. Aber die Bauchweh-Nummer nehme ich dir nicht ab. Ich wette, sobald du dir eingestehst, dass du einfach mal einen Tag freimachen wolltest, sind die gleich vorbei. Da passt es auch ganz gut, dass ich erst morgen mit Sack und Pack bei dir anrauschen kann. Mein-Gott-Walter hat nämlich das Vorsprechen fürs neue Theaterstück vorverlegt. Ausgerechnet auf einen Freitagnachmittag, wo wir eh alle schon kaputt sind und nur noch ans Wochenende denken. Wieder einer von seinen typischen taktischen Haken, damit wir keinen Widerstand gegen seine Tyrannei leisten können.«
Christian Walter, Lehrer für Geschichte und Musik, war der Leiter unserer Schultheatergruppe, wobei Leiter ein viel zu schwaches Wort für seine Tätigkeit war. Zirkusdirektor hätte viel besser gepasst, nicht nur wegen seiner dramatischen Ader, die ihm seinen Spitznamen eingebracht hatte. In Ausnahmesituationen waren es nämlich stets die Schüler, die die Nerven behielten und ihren zu Schnappatmung neigenden Lehrer runterholen mussten.
Lenas Gedanken schienen in eine ganz ähnliche Richtung zu gehen: »Das wird heute bestimmt wieder so eine Ausnahmesituation, die sich bis in den späten Abend hinzieht. Du weißt ja, welche Diskussionen die Besetzung jedes Mal mit sich bringt. Mein-Gott-Walter muss ja unbedingt immer komplett gegen den Willen der Truppe besetzen wollen. Ohne viel Gelabere und Hände-über-dem-Kopf-Zusammenschlagen geht bei dem nix. Wird bestimmt ein Heidenspaß, aber danach bin ich tot.« Obwohl Lena stöhnte, klang es ganz danach, als erwarte sie die Party des Jahrhunderts. Das Theater um das Theaterspielen war zweifelsohne das Beste an der ganzen Sache. »Bist du dir sicher, dass du dieses Jahr nicht doch mitmachen willst?«, hakte sie nach. »Zu zweit wäre das sicherlich super. Shakespeares Was ihr wollt – das ist doch quasi unser Motto.«
»Da muss ich nicht einmal eine Sekunde lang drüber nachdenken: Ja, ich bin mir sicher, dass ich nicht mitmachen will. Absolut und unumstößlich sicher. Mein Leben ist Drama genug und zum Totlachen komisch ist es auch«, hängte ich schnell an, bevor Lena mir mit dem schlagenden Argument, dass Was ihr wollt eine locker-flockige Komödie war, kommen konnte. »Also kommst du erst morgen?«
»Ja, aber nur, wenn dein Bruder das Haus bis dahin nicht in eine Lustgrotte verwandelt hat. Ich habe keinerlei Bedarf, Rufus mit zwei Freundinnen gleichzeitig im Arm in sein Zimmer verschwinden zu sehen.«
»Keine Sorge«, beruhigte ich sie umgehend. »Der hat andere Dinge um die Ohren. Den Don Juan von St. Martin hat das Haus der Jugend auf dem Gewissen, für solche Mätzchen fehlt ihm die Kraft. Ich hätte nie gedacht, dass Zwölfjährige so heftig anstrengend sein können – und Rufus übertreibt nicht, der ist abends richtig platt.« Und was die unternehmungslustigen Zwerge nicht schaffen, erledigt mein Freund, wie ich in Gedanken hinzufügte. »Dann komm doch morgen zu einem späten Frühstück vorbei.«
»Damit du Mr. Nachtaktiv noch rechtzeitig verabschieden kannst, was?«
Mit einem »hä, hä« beendete ich das Gespräch. Wenigstens waren mittlerweile meine Bauchschmerzen verschwunden. War das Rumflachsen mit Lena doch zu etwas gut gewesen.
Ich irrte gerade auf der Suche nach einer Beschäftigung, die nichts mit Schlafen oder Essen zu tun hatte, durch unseren Wohnraum, als es an der Terrassentür klopfte. Draußen stand – gut sichtbar im hellen Tageslicht – Ranuken und grinste mich über das ganze Gesicht an. Der Wind zerrte an seinem roten Haarschopf, sodass er aussah wie ein Steckdosenopfer. Als ich erst einmal verwundert stehen blieb, anstatt ihn sofort einzulassen, wie er es offenbar erwartete, begann er wild zu winken. Ich winkte zurück. Gut, ich verhielt mich, als wäre ich schwer von Begriff. Aber es wollte mir nicht in den Kopf, dass Ranuken tatsächlich auf der Terrasse meiner Eltern stand. Sam dort zu sehen, war eine Sache, aber Ranuken? Meinem Verständnis nach gehörte er schlicht in eine andere Welt, ganz gleich, ob er über seine eigene Pforte verfügte oder nicht.
Endlich setzte ich mich in Bewegung und ging zu ihm nach draußen. »Sag bloß, du bist schon wieder aus der Sphäre ausgebrochen!«
»Ausgebrochen … als wäre ich ein Affe im Zoo. Was ist denn das für eine lausige Begrüßung? Keine Umarmung? Ach, komm schon, Mila-Schatz.«
Ranuken strahlte ungebrochen und breitete die Arme aus, als wolle er mich mit Schmackes an seine nackte Brust drücken. Unwillkürlich setzte ich einen Schritt zurück, weil mir seine Zudringlichkeiten in der Sphäre noch lebhaft in Erinnerung geblieben waren. Ihm offenbar auch, denn seinem Grinsen nach zu urteilen fand er meine Zurückhaltung ausgesprochen unterhaltsam. Der Kerl machte sich tatsächlich lustig über mich.
Augenblicklich hatte ich mich wieder im Griff. Mit beiden Händen kräftig zupackend, umfasste ich seine Schultern und drückte ihm einen lauten Schmatzer auf die Stirn. »Ranuken, mein kleiner Freund, schön dich wiederzusehen. Vor allem im Garten meiner Eltern, die glücklicherweise gerade nicht anwesend sind.«
»Weiß ich doch von Sam. Sonst wäre ich wohl kaum hier aufgetaucht. Und jetzt lass mich los, okay? Deine Fingernägel pieken.«
Nun war es an mir, breit zu grinsen. Da Ranuken nicht nachtragend war, zuckte er einmal kurz mit der Schulter, dann deutete er auf die Eibenbüsche.
»Obwohl es niemand zusteht, mir die Menschenwelt zu verbieten, bin ich natürlich nicht einfach bloß so hier. Moment. Wenn ich das richtig bedenke, wäre auch nichts dagegen zu sagen, wenn ich bloß so vorbeigekommen wäre. Ich meine, wir sind doch Kumpel, oder?«
Ich nickte zustimmend, was Ranuken sichtlich freute.
»Das ist gut. Heute bin ich allerdings als Schutzengel unterwegs. Komm mal mit.«
Hinter den Eibenbüschen, Sams und meinem Lieblingsort, saß Shirin auf der Bank und starrte ins Leere. Zum ersten Mal sah ich ihre dunkle Haut nicht in Schwarz-Weiß, sondern in Farbe, besser gesagt in einem tiefen Schokoladenbraun, fast zu perfekt, um wahr zu sein. Ihr Haar, das noch eine Nuance dunkler schimmerte, hatte sie nachlässig zusammengebunden. Sie war in ein gewebtes Tuch mit bunten Mustern gewickelt, das sie im Nacken geknotet trug. Bei dieser Technik blieb der Rücken frei, während der Rest bedeckt war. Eine für die Menschenwelt ausgehfein gemachte Schattenschwinge. Normalerweise trug sie ihre gewebten Tücher um die Hüfte geschlungen, jetzt sah es wie ein raffiniertes Strandkleid aus … oder vielleicht doch eher wie ein Schutzpanzer gegen die Kälte der Welt.
Ich hatte Shirin seit der Versammlung in der Sphäre nicht mehr gesehen. Da hatte sie bewusstlos am Boden gelegen, und ihr Anblick war mir erschreckend nah gegangen. Auch jetzt kehrte mein Magengrimmen mit einem Schlag zurück. Shirin sah aus wie eine leblose Hülle. Von der geheimnisvollen Energie, die sie ansonsten stets umgeben hatte, war nicht einmal mehr ein Hauch zu entdecken. Sie wirkte vollkommen ausgebrannt, als wäre etwas in ihr zerbrochen.
Es war mir unmöglich, eine Begrüßungsfloskel über die Lippen zu bringen. Stattdessen setzte ich mich neben sie und nahm ihre Hand. Kaum berührten wir uns, blinzelte sie und schaute mich an.
»Es ist schön bei dir, Mila. So viel Blühendes. Man sieht es dem Garten an, dass er geliebt wird. Das letzte Mal, dass ich einen Garten betreten habe, der von Menschenhand in ein Kleinod verwandelt worden ist, ist lange her. So lange, dass ich mich fast nicht mehr daran erinnern kann. Weil ich mich auch nicht erinnern will.«
Ihre Worte gruben sich bei mir ein, aber noch mehr die Verlorenheit, die aus ihnen sprach. Wer verwehrte es sich, in der Erinnerung an einen glücklichen Ort zurückzukehren? Das war eine grausame Selbstkasteiung. Kein Wunder, dass Shirin alles von sich fernhielt, das ihr Wunden schlagen konnte. Davon hatte sie vermutlich schon mehr hinnehmen müssen, als sie ertragen konnte.
»Shirin, warum kommst du nicht mit ins Haus? Der Garten ist bestimmt wunderschön, aber drinnen ist es auch sehr gemütlich. Du könntest dich umschauen, ob dir eins der Zimmer zusagt. Ich würde mich nämlich darüber freuen, wenn du einige Zeit als Gast bei mir bleiben würdest.«
Ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf Shirins Gesicht ab. »Das ist wirklich großzügig von dir, wobei man bei mir wohl eher von einem Flüchtling als von einem Gast sprechen sollte. Wenn mir nach dem Krieg jemand prophezeit hätte, dass ich eines Tages bei den Menschen Unterschlupf suchen würde, weil ich die Sphäre nicht länger ertrage, hätte ich mir bestimmt umgehend ein Ende bereitet. Und jetzt ist es so weit und es fühlt sich nur halb so schlimm an, wie ich befürchtet hatte. Sieht ganz so aus, als wäre meine Würde inzwischen ganz erloschen. Lass uns ruhig reingehen, mich kümmert es nicht einmal mehr, in einem Menschenhaus eingesperrt zu sein.«
Ranuken, der die ganze Zeit überraschend ruhig dabeigestanden hatte, tauschte einen erschütterten Blick mit mir aus. Diese Rede hatte rein gar nichts mit der Shirin gemein, die ich vor Kurzem erst kennengelernt hatte. Die Shirin, die sich gegen den Ersten Wächter und sogar gegen den Rat gestellt hatte, um die Freiheit ihres Schützlings zu verteidigen.
»Gut, lasst uns reingehen.«

Was das Kochen anbelangte, war ich ganz die Tochter meiner Mutter: außer Buntem Essen, wie meine Familie mein instinktiv zusammengemischtes Spezialgericht nannte, bekam ich nichts Gescheites zustande. Vor allem nicht unter Druck. Heute verkochten die Makkaroni, weil ich erst daran dachte, die Eieruhr zu stellen, als es bereits zu spät war. Und dass ich mich mit den Mengenangaben für die Soße schwertat, war schon fast eine Pflichtübung. Ranuken sah das Ganze zu meiner Erleichterung nicht annähernd so kritisch wie ich. Er lugte mir hoch interessiert über die Schulter, wobei er die Hälfte der Makkaroni bereits im trockenen Zustand verputzt hatte, bevor das Wasser überhaupt sprudelte. Shirin hingegen hatte sich mitten in der Hausführung aus allem ausgeklinkt, indem sie ohne ersichtlichen Grund einfach im Wohnzimmer stehen geblieben war, als habe ihr jemand die Energie abgeschaltet.
Diese Mittagessen-Nummer veranstaltete ich ohnehin nur, um mir etwas Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Während Ranuken alles wegputzte, was ich ihm vorsetzte, inklusive des Parmesanstücks, das eigentlich zum Kleinhobeln gedacht gewesen war, fragte ich mich, wie ich mit der Situation am klügsten umging. Zweifelsohne würde sich unser Haus für die nächsten Tage in eine Anlaufstelle für Schattenschwingen verwandeln. Shirin und Ranuken waren bestimmt erst die Vorhut. Sobald Sam mehr Zeit bei uns verbrachte – was ich schwer hoffte –, würde auch Kastor nicht lange fernbleiben. Und auch wenn mir bei dem Gedanken ganz anders wurde: Es war nicht einmal auszuschließen, dass Asami plötzlich vor der Tür stand. Die ich ihm knallhart vor der Nase zuschlagen würde, nicht ohne ihm zuvor eine eindeutige Geste mit den Fingern demonstriert zu haben.
Sam hielt sich zwar bedeckt, was den Ersten Wächter anbelangte, aber ich registrierte trotzdem, dass sich die Beziehung der beiden nicht bloß gewandelt, sondern auch vertieft hatte. In der kurzen Zeit seit der Versammlung hatte Asamis Einfluss auf Sam unleugbar zugenommen. Zwar jagte mir der Gedanke an diesen schwarz-weißen Krieger unter den Schattenschwingen eine Heidenangst ein – wie sollte es auch anders sein, schließlich hatte er ausdrücklich meinen Tod gefordert. Aber Sams Überzeugung, dass Asami mir von nun an kein Haar mehr krümmen würde, färbte auf mich ab. Dadurch wurde er vielleicht nicht mein Freund, doch es machte die Vorstellung erträglich, dass Sam mit jemandem Zeit verbrachte, der die Menschen, also auch mich, zutiefst verachtete. Zumindest versuchte ich mir das tapfer einzureden.
»Willst du das noch essen?«, unterbrach Ranuken meinen Gedankengang und deutete auf meine unangerührte Pastaportion. Falls ihm seine Gier peinlich war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Da versucht schon eine Fliege drauf zu landen. Das muss mal langsam weg.«
Ich schob ihm den Teller hin. »Nimm ruhig. Nudelpampe ist nicht so meins. Sollten wir nicht versuchen, Shirin auch an den Tisch zu bekommen?«
»Brauchst keine Angst zu haben, dass sie verhungert. Wir Schattenschwingen essen nur, weil es uns Spaß macht. Genau wie all die anderen Dinge, die typisch menschlich sind«, erklärte mir Ranuken mit vollem Mund.
»Was denn noch für Sachen?«
Gott sei Dank hatte er sich gerade einen überquellenden Löffel in den Mund geschoben, sodass er nicht sofort antworten konnte. Dafür verriet ihn das schelmische Funkeln in seinen Augen.
Schnell hob ich abwehrend die Hand. »Lass gut sein. Ich glaub, ich kann es mir schon von allein denken. Außerdem geht es mir auch gar nicht darum, Shirin zum Essen zu bekommen, sondern es tut mir schlicht in der Seele weh, sie in diesem Zustand zu sehen.«
»Da gewöhnt man sich dran, schließlich steht sie ständig auf diese Weise rum. Irgendwie benebelt. Ist auch gar nicht verkehrt, dass sie im Augenblick komplett neben der Spur ist. Sonst wäre es mir kaum gelungen, sie in die Menschenwelt zu bringen. Meine Birke hat sie übrigens ausgespuckt, als wäre sie eine gefräßige Raupe, die es auf ihr Blätterdach abgesehen hat. In ’nem richtig hohen Bogen.«
Zum Glück drang die unsichere Note in Ranukens Stimme zu mir durch, denn solch eine kaltschnäuzige Haltung gegenüber Shirin hätte ich ihm nicht durchgehen lassen. »Es ist also allein deine Entscheidung gewesen, Shirin zu mir zu bringen?«
»War ja heute Vormittag sonst keiner da von den üblichen Helden«, erklärte Ranuken, während er die Töpfe nach Resten inspizierte. »Kastor hat sich gleich zu Beginn mit den üblichen Wortführern wegen seiner fixen Idee, ins Weiße Licht zu fliegen, überworfen. Sam ist gar nicht erst aufgetaucht, genau wie Lorson, der feige Hund … Selbst dieser gruselige Asami hat sich nicht blicken lassen, obwohl die Versammlungen doch seine große Bühne sind. Das war dann zwangsläufig Junas große Stunde. Du hast unseren Racheengel ja bei der Versammlung life aus der Hölle gesehen – Juna muss man nicht zweimal bitten, um es Shirin mal ordentlich zu geben. Bislang hat Shirin ihre Vorwürfe stets gleichgültig an sich abprallen lassen, aber heute hat sie ganz urplötzlich einen Weinanfall bekommen.« Ranuken ließ den Topfdeckel sinken, als sei ihm mit einem Schlag der Appetit vergangen. »Weiß der Teufel, um was es dabei eigentlich ging.«
»Was hat Juna denn gesagt?« Dabei war ich mir gar nicht sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören wollte.
»So richtig habe ich das nicht verstanden.« Mittlerweile flüsterte Ranuken, damit Shirin ihn nicht hören konnte. »Irgendwas, dass man Leute wie Shirin verbannen müsste, weil sie selbst den blühendsten Garten in die Hölle verwandeln. Ob nun durch ihr Tun oder durch ihr williges Stillhalten. Also mir wären wildere Beschimpfungen eingefallen, wenn ich es Shirin mal richtig hätte zeigen wollen. Jedenfalls hat die Anspielung auf den Garten ausgereicht, um Shirins Fassade zum Einsturz zu bringen. Ich habe sie noch nie, wirklich noch nie weinen sehen. Sie ist mehr der Typ, der einem in schneidendem Ton die Leviten liest oder einen tagelang ignoriert, weil man ihr auf die Schwinge getreten ist. Ich finde ja sogar ihre momentane Geistesabwesenheit Shirinmäßig, diese Ihr-könnt-mich-mal-Attitüde. Aber Weinen, und dann noch vor Publikum? Mann, ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich bloß dran denke.«
Das nahm ich ihm unbenommen ab. Shirin hatte die Seele einer Kämpferin, das Schicksal musste sie wirklich weit treiben, damit sie sich aufgab. Mir kamen Junas Worte in den Sinn, als sie verraten hatte, dass Shirin einst die Geliebte derjenigen Schattenschwinge gewesen war, die fast die gesamte Sphäre mit ihren Machtträumen ins Verderben gestürzt hatte. Was mochte diese unnahbare Schönheit alles erlebt haben, das sie zu einem Wesen gemacht hatte, das einerseits stark und andererseits verletzlich bis zur Selbstaufgabe war?
Obwohl Shirin weiterhin so apathisch dreinschaute, dass ich schon befürchtete, sie könnte kurzerhand beschließen, leblos in sich zusammenzusinken, freute ich mich sehr, sie zu sehen. Egal, wie kompliziert sie war, und von der Tatsache abgesehen, dass wir zwar unendlich viele Gegensätze, aber so gut wie keine Gemeinsamkeiten aufwiesen, mochte ich sie gern. Es war etwas Besonderes, sie bei mir zu haben und ihr – hoffentlich – etwas Gutes tun zu können.
Unterdessen sah Ranuken ausgesprochen zufrieden mit seiner Initiative aus. »Das habe ich doch gut gemacht, was?«, wollte er sich prompt von mir bestätigen lassen.
Ich nickte. »Vor ein paar Tagen habe ich gerade erst mit Sam darüber gesprochen, dass wir Shirin rüberholen sollten, damit sie ein wenig Abstand zur Sphäre bekommt.«
»Ach, nö! Nun tu mal nicht so, als hättet ihr die Idee vor mir gehabt. Das ist nicht fair.«
Da Berührungen in der Menschenwelt nicht annähernd an die Intensität in der Sphäre heranreichten, streckte ich mutig meine Hand aus und wuschelte ihm durchs Haar. »Keine Angst, der Ruhm für diese Tat gehört allein dir, du tapferer Ritter. Noch in Jahrhunderten werden sie deinen Edelmut besingen.«
»Das ist ja wohl das Mindeste«, antwortete Ranuken schlagfertig und blies sich die Fransen aus der Stirn. »Vielleicht sollte ich jetzt einmal an Madames mentale Pforte anklopfen, damit sie uns mit ihrer Anwesenheit beehrt. Gibst du mir Rückendeckung, wenn ich Shirins Aura berühre? Bei ihr kann man nämlich nie wissen.«