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Neustart mit Schwierigkeiten

Mila

Heute war Montag, der schrecklichste aller Wochentage. Es sprach also nichts dagegen, wenn ich die Schule ein weiteres Mal ausfallen ließ. Irgendwie kam sie mir nicht mehr im Geringsten wichtig vor.

Nachdem ich mich aus Shirins Erinnerung befreit hatte, waren wir noch lange nebeneinander sitzen geblieben, ohne ein Wort zu wechseln. Was hätte ich auch sagen können? Die Eindrücke waren so intensiv gewesen, dass es mir vorkam, als hätte ich diese schrecklichen Momente selbst erlebt, und ich fühlte mich schlichtweg überfordert. Vermutlich hätte nicht einmal meine Mutter gewusst, wie man mit einer solchen Geschichte umging. Ich verspürte ein heilloses Durcheinander aus Mitleid und Zorn, weil Shirin einerseits Schlimmes durchlitten hatte, andererseits aber auch vieles freiwillig von Ask hingenommen hatte. Und das alles aus blinder Liebe. Dass zum Schluss sie es gewesen war, die den mächtigen Schatten zu Fall gebracht hatte, machte es besser, aber nicht richtig gut. Froh war ich nur darüber, dass sie die Größe aufbrachte, zu ihrer Vergangenheit zu stehen. Irgendwann war ich vor Erschöpfung eingeschlafen, während sie noch neben mir saß.

Als ich am Morgen aufwachte, war ich dennoch erleichtert, dass sie nicht da war. Mein Körper schmerzte wie nach einer schweren Grippe. Selbst eine heiße Dusche kam nicht gegen das Ziehen in meinen Gliedern und die Erschöpfung an. Ein wenig orientierungslos kehrte ich schließlich in mein Zimmer zurück, ohne eine Idee, was ich als Nächstes tun sollte. Ich knabberte gerade an den Resten meiner Schokoladentafel, um ein wenig Energie zu tanken, als ein gerädert aussehender Rufus zur Tür hineinkam.

»Alles klar?«, fragte er mich mürrisch. »Sieht jedenfalls ganz danach aus, wo es mit dem Naschen schon wieder klappt. Sam ist noch nicht so weit, der hat voll auf Autopilot geschaltet.« Rufus rieb sich ausgiebig seine geröteten Augen. »Mist, ich müsste eigentlich schon im Haus der Jugend sein und die Drachen-Bastelaktion für heute Nachmittag vorbereiten. Na, jedenfalls wird Sam jetzt liebevoll umsorgt: Dieser komische Asami ist aufgetaucht. Mann, bei dem läuft mir ein Schauer über den Rücken. Der sollte echt Einreiseverbot bekommen.«

Ich verschluckte mich fast an meiner Schokolade. »Asami ist nach St. Martin gekommen, um sich um Sam zu kümmern? Das sollte doch Kastor machen.«

Rufus war bereits im Badezimmer und schmiss die Dusche an. »Keine Ahnung, warum nun Grusel-Asami anstelle dieses ominösen Kastors erschienen ist. Ist auch egal, Sam hat zugemacht wie eine Auster, an den kommt keiner ran. Da hast du wirklich saubere Arbeit geleistet mit deiner blöden Auszeit.«

Ich konnte kaum glauben, was ich da zu hören bekam. Jedes Wort war ein Schlag. »Wie kannst du nur so gemein sein? Du weißt genau wie ich, dass diese Entscheidung die schwierigste in meinem Leben gewesen ist.«

»Ja, weiß ich.« Rufus schaute aus der Duschkabine raus. »Und Sam weiß es bestimmt auch. Es ist nur … ich will nicht, dass er in die Sphäre verschwindet, weil er hier nichts mehr verloren hat. Er gehört zu uns und nicht zu den Schattenschwingen. Man braucht sich diesen Asami doch nur anschauen, der ist vollkommen anders als wir. Und sogar Shirin, so faszinierend die ja sein mag, ist mir komplett fremd. Vielleicht machst du es ja doch richtig, indem du Sam erst einmal weichkochst, damit er sich für uns entscheidet. Sonst würde der weiterhin zwischen zwei Welten pendeln. Damit muss echt Schluss sein.«

»Da hast du was falsch verstanden, Rufus.« Ich musste meine Arme vor der Brust verschränken, um das Zittern meiner Hände unter Kontrolle zu bekommen. »Es geht mir nicht darum, Sam zu manipulieren oder ihm sogar eine Entscheidung aufzuzwingen. Ich will bloß das Beste für uns alle – für Lena, für dich und natürlich für mich. Selbst für die Schattenschwingen, obwohl sie mir mittlerweile Angst machen. Vor allem aber will ich das Beste für Sam. Er liebt die Sphäre und sein Leben als Schattenschwinge, wie könnte ich ihm das nehmen? Vor allem, weil ich eines Tages nicht mehr da sein werde – Sam hingegen schon. Hast du darüber einmal nachgedacht?«

Rufus wurde blass. Wie er da im Wasserdampf stand, sah er fast ein wenig unwirklich aus. Eine verblassende Erinnerung.

»Komm mir jetzt ja nicht mit Unsterblichkeit. Das Ganze ist auch so schon verrückt genug.«

»Was denkst du denn, wie alt Shirin ist?«

»Das will ich gar nicht wissen!«

Laut vor sich hinschimpfend, schob Rufus mich zur Tür hinaus. Dann sah er mich noch einmal an und ich konnte die Überforderung in seinen Augen ablesen. So hatte auch Lena ausgesehen, kurz bevor sie im Krankenhaus angefangen hatte zu weinen: Als näme das Wissen um die Schattenschwingen so viel Platz in ihr ein, dass andere Teile ihres Selbst völlig verdrängt wurden. So durfte es aber nicht sein. »Mir wird das langsam zu viel«, bestätigte Rufus meinen Verdacht. »Ich möchte Sam bei uns behalten und meinetwegen kann auch Ranuken bleiben, aber ansonsten brauche ich dringend eine Pause. Okay, jetzt im Augenblick brauche ich vor allem eine Dusche und dann einen Ausflug in die echte Welt im Haus der Jugend. Himmel, ich habe mich noch nie zuvor danach gesehnt, Drachen-Schablonen zu entwerfen und Schnüre auf Maß abzuschneiden. Du kommst doch alleine klar, oder?«

Ich nickte tapfer und Rufus streichelte mir zur Belohnung übers Haar, dann schloss er auch schon die Badezimmertür. Ich hatte mich von diesem Gespräch noch nicht recht erholt, als mein Handy klingelte, das in der zusammengeknüllten Hose auf dem Boden lag. Mit pochendem Herzen holte ich es hervor. Lenas Nummer.

»Ja?«, meldete ich mich und deutete der maunzenden Pingpong, still zu sein. Was meine Katze nicht im Geringsten beeindruckte. Sie maunzte nur noch lauter.

»Das ist doch Pingpong im Hintergrund«, stellte Lena trocken fest. »Du schwänzt also. Schon wieder.«

»Lena, ich bin so froh, dass du anrufst.«

»So klingst du aber gar nicht. Egal. Wenn du schon den Unterricht sausen lässt, dann kannst du auch vorbeikommen und mir Gesellschaft leisten. Meine Mutter treibt mich nämlich in den Wahnsinn mit ihrer Betüddelei. Die ist quasi mit den Hühnern neben meinem Krankenbett aufgetaucht und jetzt gerade zum ersten Mal in die Cafeteria verschwunden. Und das auch nur, weil ich ein absolutes Verlangen nach Bratwurst verspüre. Hoffentlich haben die da um diese Zeit schon welche auf Lager. Als meine beste Freundin schuldest du es mir übrigens, hier aufzutauchen und meiner Mom den Weg zu versperren, wenn sie das nächste Mal ihre Hand prüfend auf meine Stirn legen will. Ihr Geglucke macht mich kränker als dieser piepsende Monitor, an dem ich dranhänge.«

»Super! Klar! Ich meine, ich komme. Sofort. Wir beide müssen uns ganz dringend über die Schattenschwingen und ihre Welt unterhalten.«

»Nein, müssen wir nicht.« Lena legte eine solche Bestimmtheit in ihre Aussage, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte. »Wir werden auf keinen Fall über das reden, was geschehen ist, und auch nicht über das Drumherum. Ich darf im Augenblick nicht einmal daran denken, ansonsten bekomme ich richtig übel Herzrasen und dann lassen die mich nie aus diesem Laden raus. Dieses Wochenende hat es nie gegeben, verstanden?«

Ich brachte kein Wort über die Lippen, aber Lena nahm mein Schweigen offenbar als Zustimmung.

»Gut, wir sehen uns dann also gleich. Und wehe, du bummelst herum. Ach, ja, eins noch. Bring mir bitte was zum Lesen mit. Was Anständiges. Dein Biobuch oder so.«

»Mach ich. Bis gleich«, brachte ich stockend heraus, dann legte ich das Handy beiseite.

Lena hatte also beschlossen, vorläufig den Mantel des Schweigens über die Geschehnisse bei den Wellenbrechern zu legen. Oder sogar über alles, was passiert war, nachdem Ranuken vor drei Tagen bei ihr angerufen und ihr Tipps für die Theaterprobe bei Mein-Gott-Walter gegeben hatte. Sie würde einfach so tun, als wäre nichts passiert. Das wunderte mich nicht – so war es zweifelsohne erst einmal leichter für sie.

Langsam sickerte die Freude über ihren Anruf in mich hinein. Darüber, dass sie weiterhin meine Freundin war. Wenn ich es geschickt anstellte, würde ich diese Wunde heilen können. Das war doch zumindest schon einmal ein Anfang!