20
Der Schatten
Ohne die Wellenbrecher, die dem übermütigen Meer die Kraft raubten, sah die Küstennaht ausgehöhlt und die Dünen zur Seeseite wie mit dem Fallbeil abgehackt aus. Zu oft hatten Wellen an ihnen genagt. Den schmalen Kiesstrand gab es nicht, und auch die Mulde, in der Mila und ich den Nachmittag verbracht hatten, lag in der Sphäre unter Wasser.
Feuer brannten in der Nacht, der kräftige Wind trieb ihre Rauchfahnen in die Höhe. Ihr rötliches Licht wies einen Weg zwischen zwei Dünen. Dort hatte die Flut eine breite Schneise geschaffen. Jetzt, bei Ebbe verwandelte sie sich in einen gut passierbaren Pfad, an dessen Ende der Grund für mein Kommen lag: ein bandagierter Leib, an dem weder das Meer noch seine Bewohner einen Schaden hatten anrichten können.
Asami stand neben der Hülle des Schattens, die Beine leicht auseinandergestellt, die Hand am Griff seines Katanas. Wie er so dastand, ließ sich nicht sicher sagen, was er abzuwehren gedachte: jemanden, der sich unbefugt der Hülle näherte – oder die Hülle selbst, falls sie sich wider Erwarten aufrichten sollte. Außerhalb des Feuerscheins, inmitten der Dünen, zeigten sich vereinzelt Schattenschwingen, deutlich darauf bedacht, Abstand zum Fund zu wahren. Einige andere, vermutete ich, entzogen sich absichtlich meinem Blick. Das Taktieren und Misstrauen nahm einfach kein Ende. Die konnten mir alle gestohlen bleiben. Vor allem, weil die Luft trotz des treibenden Windes roch, als würde sie sich wie kurz vor einem Gewitter stauen und mit Energie aufladen. Die Haare an meinen Unterarmen standen senkrecht ab und kribbelten.
Irgendwo zwischen den Dünen hielten sich Körperlose auf, Schattenschwingen, die ihren Körper aufgegeben hatten. Für Asami waren sie die Erhabenen, da sie seiner Vorstellung von einer Schattenschwinge am nächsten kamen. Mir waren sie wegen ihrer fehlenden menschlichen Seite unheimlich. Automatisch zentrierte ich meine Aura, bis sie einem Schutzschild gleichkam. Seit dem Übergriff auf uns Schattenschwingen waren die Körperlosen verschwunden gewesen. Dass sie ausgerechnet jetzt wiederauftauchten, verhieß bestimmt nichts Gutes.
»Wer hat die Hülle gefunden?«
Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, Asami diese Frage auf lautlosem Weg zu stellen, doch irgendwie schmeckte mir der Gedanke nicht, sein mentales Netz zu berühren. Zu schnell konnte es sich in einen Leiter für etwas ganz anderes als Gedanken verwandeln. Die Erfahrung, wie die Macht eines Unbekannten wie ein Blitz in uns alle eingeschlagen war, saß mir nach wie vor mächtig in den Knochen.
Asami löste seinen Blick nicht eine Sekunde von der Hülle, als er mir antwortete: »Die Erhabenen hatten sich unten an der Wassernaht versammelt. Oriskalit wollte nachsehen, weshalb.« Oriskalit war eine ätherische Schattenschwinge, die zwar zu Asamis Wächterriege gehörte, der jedoch nie ein Schützling unterstellt worden war. Dafür kümmerte sie sich um die verschiedensten Dinge, für die Asami keinen Kopf oder an denen er kein Interesse hatte. Konzentrationen von Energie nachspüren beispielsweise. »Da hat sie ihn gefunden. Sie hat ein Feuer am Wasser entzündet und sich dann bis zu meiner Ankunft in die Dünen zurückgezogen.«
Das erklärte zumindest, wie Nikolai hatte wechseln können: Er hatte eins der Feuer unten am Wasser benutzt. Kurz sah ich vor mir, wie er sich von der unter dem Feuer schwelenden Asche angezogen gefühlt hatte. Genau wie ich vom Meer. Und dann diese Stimme, die ihn zum Wechsel ermutigt hatte … so lockend. Ich musste mich regelrecht schütteln, um den Eindruck loszuwerden.
»Warum hat Oriskalit die Hülle in der Brandung zurückgelassen? «
Noch immer weigerte sich Asami, mich anzuschauen. Eine Nachwirkung unserer Auseinandersetzung auf dem Eiland? »Weil sie ihn fürchtet«, erklärte er schlicht.
Ich trat näher an den bandagierten Leib. Da war nichts Unheimliches oder gar Beängstigendes auszumachen. Als Kastor und ich ihn im Vernichteten Gebiet hatten retten wollen, hatte ich ihn sogar berührt … und nichts gespürt. »Die Hülle ist leer, was soll der Zirkus also?«
Einer alten Gewohnheit gehorchend, seufzte Asami resigniert. »Vor uns liegen die Reste des größten Feindes, den die Sphäre je kennengelernt hat. Trotz der vereinten Kräfte war es den Schattenschwingen damals nicht möglich gewesen, ihn zu vernichten. Hätte Shirin ihn nicht in eine Falle gelockt, wären wir verloren gewesen. Das Weiße Licht war sein Kerker, aber dort ist er nun nicht mehr. Und da wunderst du dich, dass alle sich fürchten?«
Mit den Zehen stupste ich die Hülle an. Die Bandagen waren nass und rau, doch darunter befand sich allem Anschein nach ein Körper, dessen Verwesung bestenfalls gerade erst eingesetzt hatte. »Also auf mich macht das einen ziemlich toten Eindruck. Ich weiß ja nicht, was Shirin mit ihm angestellt hat, aber er hat es offenbar nicht überlebt. Lass ihn uns auswickeln und den anderen beweisen, dass keine Gefahr von ihm ausgeht. Dann können sie ihre Verstecke in den Dünen aufgeben.«
Endlich sah Asami mich an, wenn auch alles andere als freundlich. »An dir prallt wohl alles ab, was ich dich lehre. Was habe ich dir gesagt? Kaum etwas offenbart sich auf den ersten Blick. Gerade bei einem Meister der Illusion ist nie etwas so, wie es scheint. Außerdem war Auswickeln das Erste, was ich versucht habe, nachdem ich ihn aufs trockene Land gezogen habe.«
»Du hattest also keine Angst davor, dass Ganze könnte eine Falle sein?«
»Kastor hat gesagt, er habe keine Spur des Schattens ausmachen können.«
Angesichts dieser Widersprüchlichkeit schüttelte ich nur den Kopf. Da sollte mal einer aus Asami schlau werden.
»Jedenfalls war ich nicht erfolgreich.« Asami zeigte mir sein Kurzschwert, ein Wakizashi, mit dessen Bernsteinklinge ich – oder vielmehr meine Haut – bereits Bekanntschaft gemacht hatte. Allerdings war sie dabei noch ganz gewesen. Nun war die Spitze abgebrochen und zeigte eine schartige Abbruchstelle. »Die Hülle ist durch einen starken Bann gesichert, den ich nicht durchbrechen kann. Wir brauchen Shirin, sie hat diesen Bann gewebt. Wahrscheinlich kannst du mir verraten, wo sie sich aufhält.«
Gar nicht gut. »Wer fragt mich das gerade: der Erste Wächter, eine aufgebrachte Schattenschwinge oder … der Asami, der…« Ich machte eine vage Bewegung mit der Hand, nur leider ließ sich der richtige Begriff nicht herbeiwinken.
Asami sah mich erwartungsvoll an, doch als ihm klar wurde, dass ich heillos feststeckte, schnaubte er durch die Nase. »Gut, ich bin der Asami, der Shirin nicht ans Messer liefern wird, wenn du jetzt endlich mit der Sprache rausrückst, wo sie steckt. Meinetwegen musst du es mir auch gar nicht verraten. Ruf sie einfach.«
Ich beugte mich zu Asami, damit keine der anderen Schattenschwingen mithören konnte: »Leider ist Shirin komplett außer Reichweite. Meinst du, die Angelegenheit hat Zeit bis morgen?«
Asami stieß ein bellendes Lachen aus, das irgendwo zwischen Unglaube und Ausflippen pendelte. »Nein, tut mir leid. Wir haben keine Zeit. Wir müssen es wissen, Samuel! Hat der Schatten sich aufgelöst oder spielt er uns nur einen weiteren Streich, während er woanders seinen wahren Interessen nachgeht? Das hier ist das Wichtigste, was seit der Verbannung des Schattens in die Sphäre geschehen ist. Hier muss jetzt und auf der Stelle der Beweis erbracht werden, dass unser Besuch im Weißen Licht keinen Schaden angerichtet hat. Wenn Juna vorher erscheinen sollte, dann haben wir ein ernst zu nehmendes Problem.«
Da war er wieder, mein Gewissenskonflikt: zwei Welten, zwei Brandherde. Nur leider konnte ich mich nicht zweiteilen. Egal, wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte keine richtige Entscheidung treffen. Auf der einen Seite zog es mich mit aller Kraft zu Mila, die ich in einer schrecklichen Situation zurückgelassen hatte. Wenn ich nicht umgehend wieder bei ihr war und geradebog, was noch geradezubiegen war, würden ihre eben erst beschwichtigten Sorgen erneut aufflammen. Auf der anderen Seite war die Hülle zu meinen Füßen das größte Geheimnis, das die Sphäre barg, und von dessen Enthüllung vieles abhing.
»Wer außer Shirin ist deiner Meinung nach noch in der Lage, den Körper des Schattens freizulegen?«
Schweigend hielt Asami mir das Wakizashi mit der abgebrochenen Spitze hin.
Damit war es entschieden. Ich musste bleiben, aus dem schlichten Grund, weil ich eine Schattenschwinge war. Das erkannte ich mit absoluter Bestimmtheit. Meine Verantwortung Mila gegenüber musste warten, auch wenn es mich zerriss. Trotzdem weigerte sich meine Hand, das Messer zu greifen. Sobald ich es berührte, gab es kein Zurück.
Es tut mir leid, Mila. Wieder einmal, aber es geht nicht anders.
Dann nahm ich die Klinge und wog sie in meinen Händen.
Zu meiner Überraschung stieß Asami einen leisen Laut aus. »Was trägst du da?«
»Verschon mich damit, ja? Ich lasse den Ring gleich verschwinden. «
»Samuel, wie konntest du dich nur …«
»Lass es gut sein, Asami. Ich meine es ernst.«
Nachdem ich das Kurzschwert im Gürtel verstaut hatte, streifte ich den Ring ab. Eigentlich erwartete ich einen Schmerz oder zumindest einen Schauder zwischen den Schulterblättern zu spüren, aber nichts dergleichen passierte. Seine Oberfläche war glatt und warm und so abstrus es auch klang, der Ring fühlte sich an wie ein Teil meiner selbst. Vorsichtig schob ich ihn unter die lederne Armschiene, damit ich ihn weiter auf meiner Haut spürte. Dann kniete ich mich neben die Hülle und legte beide Hände auf die Stelle, an der ich die Brust vermutete. Kein Herzschlag, kein Heben und Senken, nur Kälte. Was vor mir lag, war nicht mehr als ein verlassener Körper. Nicht der geringste Funke von Leben oder wenigstens die Überreste einer Aura waren auszumachen.
»Reine Zeitverschwendung«, sagte ich zu mir, ehe ich die aufkommende Frustration beiseiteschob und mich stattdessen darauf konzentrierte, meine Kraft zu sammeln, um die Hülle zu öffnen.
Schicht um Schicht legte ich die Kraftquelle in mir frei, wobei es ein eindrückliches Erlebnis war, es dieses Mal ganz bewusst zu tun und nicht aus einer Schwertübung oder einer Kampfsituation heraus. Zuerst war ich zu übereifrig, denn ich wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Dabei entfernte ich mich allerdings nur noch weiter von meinem Ziel. Also vergaß ich meine Anspannung, überhörte den raschen Takt meines Pulses und durchspielte stattdessen den magischen Moment, als ich das Katana in einem sauberen Bogen aus der Scheide gezogen hatte. Die innere Gelassenheit, durch die sämtliche Abläufe wie in Zeitlupe erschienen. Das Loslassen und Zulassen. Das Abstreifen aller Wünsche, aller Sehnsüchte. Der Weg zur Quelle war lang und zugleich überraschend kurz. Ich schloss die Augen, als sie sich vor mir auftat, schmeckte Salz auf meinen Lippen und hörte fernes Wellenrauschen. Eine kühle, klare Flut strömte in mich hinein, und zu meiner Verwunderung füllte sie mich dieses Mal aus, ohne dass sie mich zu zersprengen drohte.
Während die Kraft in mir zirkulierte, tastete ich nach der Bernsteinklinge. Dabei kam es mir so vor, als befände ich mich in zwei Daseinszuständen zugleich: in meinem ganz persönlichen Universum und in der Sphäre, die ich mit den anderen meiner Art teilte. Als ich die abgebrochene Klinge ansetzte, glitt die Energie mühelos in sie hinein und brachte sie zum Glühen, sodass ich fest damit rechnete, die Bandagen würden problemlos auseinanderfallen.
Ein großer Irrtum, wie sich unmittelbar herausstellte. Denn der Bann, von dem Asami gesprochen hatte, ließ sich nicht so leicht überwinden. Kaum stieß die Klinge gegen ihn, breitete sich ein Schmerz in meinem Arm aus, als hätte ich ihn mit voller Wucht auf eine Eisenplatte niedergehen lassen. In meinen Ohren dröhnte ein Donnerhall. Der Begriff Hülle bezog sich nicht allein auf die Bandagen, sondern auch auf das Energiefeld, das Shirin als Schutz und Kerker zugleich geschaffen hatte.
»Teufel noch eins«, fluchte ich.
Meine Quelle war unter dem Donnerhall verschüttet worden und schlagartig fühlten sich meine Arme wie abgestorben an. Meine Finger schlangen sich nur deshalb weiter um den Griff des Kurzschwertes, weil sie zum Loslassen zu schwach waren. Irgendwo neben mir hörte ich Asami angstvoll meinen Namen rufen, während ich das Herannahen der Körperlosen wahrnahm, fast als wären sie das einzig Reale, das in der Sphäre existierte.
Stück für Stück breitete sich die Taubheit von meinen Armen in Richtung meines Brustkorbs aus, floss über meine Schultern und lähmte meine Schwingen, die gerade hervorbrechen wollten. Doch zu meinem Entsetzen konnte ich sie nicht öffnen, sie waren unter der Haut auf meinem Rücken erstarrt.
Das ging eindeutig zu weit!
Ich schrie wutentbrannt auf und im nächsten Moment flammte die Kraft mit einer solchen Wucht in mir auf, dass die Bernsteinklinge zu surren begann.
Ohne zu zögern richtete ich das Schwert auf die Hülle und hielt dagegen, als Shirins Bann meine eigene Kraft in etwas Lebloses verwandelte. Sie richtete sich gegen mich, als wäre sie beim Aufprall gegen die Barriere ins Negative verkehrt worden. Offensichtlich zielte der Bann darauf, mich erstarren zu lassen. Ich sollte zu einer Statue werden, genau wie Nikolai, als er in die Nähe der Hülle geraten war. Doch dieses Mal wurde die Quelle in mir nicht erneut verschüttet, sondern brach stattdessen immer weiter auf und spie eine wahre Flut von Kraft aus. Ich bekam gerade noch mit, wie die glühende Bernsteinklinge die Hülle zerschnitt, als wäre sie aus Wachs. Dann wurden all meine Gedanken und Empfindungen beiseite gedrängt, weil jeder Flecken meines Selbst von der Quelle beherrscht wurde, so groß war sie mittlerweile. Mein inneres Universum dehnte sich über die Grenzen hinweg aus, um im nächsten Augenblick nicht mehr als ein winziges Samenkorn in meiner Brust zu sein.
Ich fand mich laut keuchend auf den Fersen sitzend wieder, unsicher, ob in der Zwischenzeit ein ganzes Leben oder nur eine Sekunde verstrichen war.
Unsicher blickte ich mich um. Der bandagierte Körper, dessen oberste Schicht zerschnitten war. Vereinzelte Sterne am Himmel. Der sich sanft im Nachtwind wiegende Seehafer … Die Schemen der anderen Schattenschwingen waren weg, sie hatten sich scheinbar aus dem Staub gemacht, während die Körperlosen spürbar näher gerückt waren. Aber nichts deutete darauf hin, dass hier eben eine Explosion stattgefunden hatte. Nur Asamis kreidebleiches Gesicht, das an eine Totenmaske erinnerte, verriet, dass ich deutlich mehr getan hatte, als lediglich die obersten Bandagen zu zerschneiden.
»Damit ist es beschlossene Sache: Das nächste Mal warten wir bei so einer Aktion besser auf Shirin. Soll die sich mit ihrem selbst geschaffenen Bann herumschlagen«, sagte ich. Dann holte ich kräftig Luft, um meinen völlig verspannten Brustkorb zu dehnen. Auch meine Schwingen öffneten sich wieder ohne das geringste Problem. Ich ließ sie ein paar Mal auf und ab schlagen, obwohl ich nicht vorhatte, mich auch nur einen Zentimeter von meiner erlegten Beute wegzubewegen. Außerdem tat die frische Luft Asami, der allmählich aus seiner Starre erwachte, bestimmt gut.
»Shirin.« Die Art, wie er den Namen aussprach, verriet, dass er soeben ein neues Schimpfwort für sich entdeckt hatte. Dann fügte er noch ein paar weitere üble Flüche hinzu, die mich durchaus beeindruckten. Nachdem er seine Abneigung zur Genüge kundgetan hatte, berührte er vorsichtig meinen Handrücken. Wie fürsorglich.
»Keine Sorge, so ein Test, ob ich zu guter Letzt nicht doch noch zu Staub zerfalle, ist wirklich überflüssig. Bei mir ist noch alles dran und quicklebendig«, konnte ich gerade noch herumflachsen, da hatte Asami mich schon so fest an sich gerissen, dass meine Schwingen hilflos zuckten. »Ist ja gut«, versuchte ich ihn zu beruhigen, während ich die Umarmung ein wenig ratlos über mich ergehen ließ. Ich konnte das feine Zittern spüren, das von seinem Oberkörper ausging, den kalten Schweiß auf seiner Haut und seinen stoßweise gehenden Atem an meiner Schläfe. Es war mir tatsächlich gelungen, Asami in Angst und Schrecken zu versetzen. Bei dieser Erkenntnis wurde mir flau im Magen. Wie wäre das Ganze wohl ausgegangen, wenn nicht ich den Bann gebrochen hätte, sondern er mich? Als Asami dazu überging, meinen Körper abzutasten, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich alles quicklebendig war, ließ ich ihn gewähren und redete nur beruhigend auf ihn ein.
»Alles bestens, es ist nichts passiert. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Mir wird schon nichts abfallen. Die Versteinerungsnummer des Bannes hat bei mir nicht geklappt. «
»Sei ruhig.«
Erst nachdem Asami sich restlos davon überzeugt hatte, dass ich ihm nichts vorgaukelte, stellte er seine Untersuchung ein, aber seine Hand blieb auf meinem Oberschenkel liegen. Unruhig rutschte ich hin und her, dann beschloss ich, dass es okay war. Asami brauchte die Nähe offenbar und mich kostete es letztendlich nichts.
»Soll ich jetzt die restlichen Bandagen aufschneiden?«, fragte ich, regelrecht erpicht darauf, etwas zu tun zu bekommen. »Die anderen Jungs und Mädels haben sich zwar abgesetzt, aber als Zeuge dürftest du wohl ausreichen, wenn ich hier gleich Leichenschändung betreibe.«
Im nächsten Moment bereute ich schon meine lockere Zunge. Bislang war mir der Körper des Schattens nicht wirklich wie ein Leichnam vorgekommen. Jetzt, wo die schützende Hülle verschwunden war, hatte sich das jedoch geändert. Die Bandagen rochen muffig nach Seewasser und sahen nicht mehr annähernd unantastbar, sondern vielmehr äußerst mitgenommen aus. Mit steifen Fingern setzte ich die Klinge an und zerschnitt sie Schicht um Schicht, wobei der seltsame Geruch zunahm. Nicht nach Verwesung, aber trotzdem unangenehm, als hätte man zu lange die Luft angehalten und dann festgestellt, dass alles abgestanden roch. So riecht es bestimmt, wenn man die Zeit anhält, ging es mir durch den Kopf.
Endlich wandte Asami seine Aufmerksamkeit der Hülle zu und half mir bei der Arbeit, indem er die durchtrennten Bandagen beiseite legte. Eine männliche Brust kam zum Vorschein, die Haut von einem ungewöhnlichen Ton wie beschattetes Holz, wobei ein Graustich über das weiche Braun dominierte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemals Blut unter dieser Haut pulsiert hatte. Obwohl ich es vermied, sie zu berühren, streifte ich sie trotzdem mehrfach. Sie fühlte sich eisigkalt und leicht aufgequollen an. Außerdem blieb ein feiner silbriger Schimmer zurück, den ich angewidert an meiner Jeans abwischte.
Mir bot sich keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn meine gesamte Aufmerksamkeit richtete sich auf die Zeichen, die über die Brust und den Rippenansatz eingeritzt waren. Dabei handelte es sich keineswegs um alte Narben. Sie sahen aus, als wären sie vor Kurzem erst hineingeschnitten worden und schwarz angelaufen, weil sie nicht mehr hatten heilen können. Es waren die Schnitte, die diesen seltsamen Geruch absonderten. Was die Zeichen wohl zu bedeuten hatten? Sie sahen meinen zwar nicht im Geringsten ähnlich, aber da war trotzdem eine nicht zu benennende Gemeinsamkeit, und zwar nicht nur, weil meine Schnitte aussahen, als könnten sie jeden Augenblick wieder aufbrechen … Doch das war etwas, worüber ich lieber nicht weiter nachdenken wollte.
Unter dem linken Rippenbogen befand sich eine Wunde, deren Ränder blutleer auseinanderklafften. Etwas Pechschwarzes steckte in ihr. »Diese Wunde sieht verdächtig nach Shirin aus«, sagte ich, ohne den Blick abzuwenden. »Ein Stich, mitten ins Herz.«
»Sie hätte es ihm rausschneiden und einen Tanz darauf aufführen sollen«, erwiderte Asami trocken. »Daran ist er vermutlich gestorben. Aber erst vor Kurzem … Es sieht so aus, als hätte die Hülle ihn am Leben gehalten, solange sie im Weißen Licht war.«
Je mehr wir vom Schatten freilegten, desto deutlicher wurde, um was für eine ausgesprochen stattliche Gestalt es sich gehandelt hatte. Gar nicht so imposant von der Körpergröße her, aber muskulös und breit gebaut. Ein echter Mann, gestand ich mir ein. Nicht wie die meisten von uns, die aussahen, als würden sie den letzten Sprung zum Erwachsensein niemals tun. Außer Shirin … oder auch Juna. Die alten Schattenschwingen. Als wären sie uns ein Stück voraus.
Ich unterbrach meine Grübeleien, denn ich hatte mich bis zum Kinn des Schattens vorgearbeitet. Verstört hielt ich inne. Sein Gesicht … wollte ich es wirklich sehen?
»Das reicht jetzt doch, oder? Ich meine, müssen wir ihn wirklich …«
»Seine Augen, die müssen wir uns anschauen.« Asami sah genauso elend aus, wie ich mich fühlte.
Mittlerweile war die Steifheit in meinen Fingern einem ausgemachten Zittern gewichen. Fast begrüßte ich dieses unablässige Beben, denn es zwang mich dazu, mich vollkommen auf meine Aufgabe zu konzentrieren, anstatt an das zu denken, was mir noch bevorstand. Vorsichtig zerschnitt ich die restlichen Bandagen, dann war das Gesicht plötzlich freigelegt.
Auf uns wartete weder eine verzerrte oder gar hasserfüllte Miene noch eine hohle Totenmaske, obwohl das Gesicht wegen der darin eingeschnittenen Zeichen etwas Unwirkliches hatte. Es war das Gesicht eines Schlafenden, der gerade in eine Traumwelt hinüberglitt und noch nicht wusste, was ihn dort erwarten würde: ein süßes Paradies oder vielleicht doch die wahr gewordene Hölle. Darüber hinaus war es das ausdrucksvolle Gesicht eines Mannes mit ausgeprägten Wangenknochen und einer hohen Stirn, von der das ungewöhnliche Schwarzhaar in Wellen hinabfloss. Fast kam mir der Verdacht, dass es früher eine andere Farbe gehabt haben musste, die ihm verloren gegangen war. Die Lippen des breiten Mundes waren einen Hauch geöffnet, aber es ging kein Atem über sie.
»Wie Schneewittchen, das darauf wartet, wach geküsst zu werden.«
Asami warf mir einen zustimmenden Blick zu, dann streckte er die Hand nach den geschlossenen Lidern aus. Die Augen lagen unter kräftigen Brauen im Schatten, sodass ich kaum eine Veränderung erkannte, als Asami die Hand wieder zurücknahm. Suchend tastete er nach meinem Handgelenk und umfasste es so fest, bis es wehtat. Wie Eiszapfen bohrten sich seine kalten Finger in meine Haut.
»Er ist tot«, sagte er mit einer unerwartet ruhigen Stimme. »Aber zuvor ist er fortgegangen. Durch seine Pforte.«
»Das verstehe ich nicht … wie kann er …«
Dann erkannte ich, was Asami meinte: Die Augen waren nicht deshalb vor mir verborgen, weil sie in tiefen Schatten lagen. Nein. Sie waren weg. Die Höhlen waren leer.