27
Feuer und Asche
Ich sprintete gerade die Treppe ins Wohnzimmer hinab, als sich eine verdächtig große Aschewolke in unserem Kamin ausbreitete. Die feinen Partikel verdichteten sich rasch, während ich zu Shirin blickte, die aus dem Garten herbeigeeilt kam. In den Händen hielt sie einen Strauß verwelkter Rosen, die gerade wie durch Zauberhand wieder ihre Köpfe zu heben begannen. Hätte sich nicht gerade ein Schatten in der Aschewolke abgezeichnet, dann hätte ich ihr die Blumen weggenommen und ihr erklärt, dass ich keine Schattenschwingen-Magie im Garten meiner Mutter dulde. Meine Nerven lagen wirklich blank. Aber da hatte sie das Grün auch schon fallen lassen, um sich mit ausgebreiteten Flügeln vor mir aufzubauen. In der Hand hielt sie das Gartenmesser, als handele es sich um ein Schwert.
»Shirin, geh beiseite. So kann ich doch nichts sehen.«
Meinen Versuch, an ihr vorbeizukommen, blockte sie geschickt ab. Shirins Aura leuchtete auf wie ein Flutscheinwerfer und sie erschien mir mit einem Schlag viel größer und vor allem entschieden präsenter als zuvor. Ein Abbild der Frau, die die Willenskraft aufgebracht hatte, dem Schatten eine Klinge ins Herz zu rammen. Dann erlosch dieses Bild genauso rasch, wie es aufgelodert war, und Shirin ließ das Gartenmesser sinken.
»Ach, du bist es. Und du hast den Unruhestifter mitgebracht. «
Endlich schloss sie ihre Schwingen, sodass ich einen Blick auf den Eindringling werfen konnte. Oder vielmehr: auf die Eindringlinge. Ein mit Asche bestäubter Kastor befreite sich gerade aus der Umarmung jener Schattenschwinge, die Sam mit dem Namen Nikolai angesprochen hatte. Jener Schattenschwinge, die mit ihrem unbedachten Erscheinen ein solches Unglück ausgelöst hatte. Automatisch ballte ich die Hände zu Fäusten und unterdrückte leidlich das Bedürfnis, sie diesem ungewöhnlich schönen Jungen mitten ins Gesicht zu rammen. Stattdessen knallte ich wütend meine Tasche auf den Tisch, um die Hände in die Hüften stemmen zu können.
»Was macht dieser Mistkerl in meinem Kamin? Wenn er nicht sofort verschwindet, werde ich ihm ein solches Feuer unter dem Hintern machen, dass nicht einmal ein Aschestäubchen von ihm übrig bleibt!«
Nikolai zuckte zusammen, doch bevor er etwas erwidern konnte, schob sich Kastor vor ihn und schenkte mir ein schmales Lächeln, während er sich den grauen Staub von der Jeans klopfte, die er bereits bei unserem ersten Treffen getragen hatte. Vermutlich konnte er mir ansehen, dass meine Drohung mehr als ernst gemeint war. Mit der Hand bedeutete er mir, mich zu beruhigen, was ich ihm zuliebe tatsächlich versuchte. Ich mochte Kastor, viel mehr noch: Ich vertraute ihm. Außerdem sah er ordentlich mitgenommen aus. Uns allen machte das Leben im Augenblick unübersehbar schwer zu schaffen. Dann trat er vor Shirin und ich erkannte, dass sie sich über ihr mentales Netz austauschten, da Kastor offenbar weiterhin außerstande war, etwas anderes als Altgriechisch hervorzubringen.
Allerdings war ich nicht im Geringsten gewillt, mich aufs Abstellgleis schieben zu lassen. »Hey, könnt ihr euren Schattenschwingen-Kram vielleicht später klären? Ich will, dass dieser gefallene Engel dahin verschwindet, wo er hergekommen ist. Er hat bereits mehr als genug Unheil gestiftet.« Mit dem Finger zeigte ich auf Nikolai, auf dessen Stirn eine seltsam gesprungen aussehende Narbe aufleuchtete, als habe ich sie und nicht den verlegenen Jungen angesprochen.
»Mila, Liebes.« Shirin presste aufgeregt ihre Handflächen gegeneinander und ich glaubte, einen roten Schimmer auf ihren Wangen auszumachen. Sie stand komplett unter Strom, das war deutlich. »Es ist etwas sehr Bedeutendes in der Sphäre geschehen. Samuel hat, bevor er zu dir gekommen ist, eine Entdeckung gemacht, die alles verändert. Bitte, gib uns einen Moment, damit Kastor mich über die Geschehnisse aufklären kann, ja?«
Eine solche Bitte konnte ich Shirin schlecht abschlagen, außerdem verschloss Sams Name meine Lippen, die sich mit einem Schlag ganz taub anfühlten. Für ein paar Minuten hatte ich meinen Kummer über unsere Trennung tatsächlich vergessen, weil ich so glücklich über Lenas Anruf gewesen war.
Nikolai nutzte die Gelegenheit und stieg mit geschmeidigen Bewegungen aus dem Kamin. Schon bei unserem ersten Treffen hatte mich das engelsgleiche Erscheinungsbild dieser Schattenschwinge verwirrt. Auf eine solche Version der Himmelsgeschöpfe hätten sich vermutlich sämtliche Künstler quer durch die Epochen einigen können und dabei locker über die Ascheflocken hinweggesehen, mit denen er von Kopf bis Fuß bestäubt war. Einmal davon abgesehen, dass dieser Kerl meine Freundin in Lebensgefahr gebracht hatte, hielt zweierlei mich von Lobpreisungen über ihn ab: Seine kühl leuchtende Aura, die einen krassen Gegensatz zu dem Goldstich von Haut und Haar bildete, und seine Augenfarbe. Nikolais Augen waren von einem blassen Grau, umrandet von einem Feuerreif. Auf einmal flackerte es in ihnen, als wären sie bloß eine Illusion, die allmählich an Kraft verlor. Das beunruhigte mich mehr, als ich erklären konnte. Seine Pforte, seine Aura … Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, doch ich bekam es nicht richtig zu fassen. Ich war mir mehr als sicher, dass mein Misstrauen nichts mit den Vorkommnissen vom Samstag zu tun hatte. Als ich ihn an dem Abend bei den Wellenbrechern gesehen hatte, war es mir nicht so ergangen. Trotz des Schrecks, den er mir mit seinem plötzlichen Auftauchen eingejagt hatte, war ich nicht gegen ihn eingenommen gewesen und als er Lena berührt hatte, hatte ich ihm sogar Vertrauen entgegengebracht … bis er von einer Sekunde auf die andere wie ausgetauscht gewesen war. Je länger ich ihn mir jetzt anschaute, desto mehr schienen seine Umrisse zu verschwimmen, als hätte er nach der Reise durch die Asche seine Festigkeit noch nicht richtig zurückgewonnen. Als ließe sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen, wer da vor mir stand.
Während ich meinen Gedanken nachhing, hatte Nikolai sich einige Schritte in meine Richtung gewagt. Nun stand er mit herabhängenden Armen da wie ein besonders schüchterner Junge. Glaubte der Kerl wirklich, mir etwas vorspielen zu können?
»Mila, wie schön, dich wiederzusehen. Auch wenn du das vermutlich anders siehst. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut, dass unser erstes Treffen so unselig ausgefallen ist. Lässt du mich es wiedergutmachen?«
Wow, sogar seine Stimme war tiefes Glockenläuten. Das hatte ich in der Aufregung bei den Wellenbrechern gar nicht mitbekommen – nicht, dass es mich auch nur im Entferntesten überraschte. Dann brachte er allen Ernstes die Dreistigkeit auf, mir seine Hand zur Versöhnung hinzuhalten. Ich schnaubte wütend, woraufhin er langsam die Hand sinken ließ. Sehr langsam, als würde er mit dem Gedanken spielen, einfach nach mir zu greifen, ob ich nun wollte oder nicht. In seinen Ascheaugen glühte es verräterisch auf. Nikolai war nicht bloß enttäuscht, meine Zurückweisung missfiel ihm zutiefst. In der nächsten Sekunde allerdings war er schon wieder ganz die zerknirschte junge Schattenschwinge, in deren weich fallenden Locken sich das Morgenlicht brach.
»Nun schau mich bitte nicht so entsetzt an«, bat er mich leise, während Shirin und Kastor weiterhin ganz in ihren wortlosen Austausch vertieft waren. Ich war gespannt, was Nikolai zu seiner Entschuldigung vorzubringen gedachte. »Ich weiß, dass unser erstes Zusammentreffen alles andere als angenehm verlaufen ist. Ich habe einen Fehler gemacht.«
»Mehr als einen«, korrigierte ich ihn.
»Einverstanden. Aber es tut mir aufrichtig leid, das musst du mir glauben. Ich kann nicht einmal erklären, was da eigentlich vorgefallen ist. Ich wollte nur das Beste für deine Freundin, indem ich ihre Furcht auf mich nehme. Warum ich es dann nur noch schlimmer gemacht habe, weiß ich nicht … Vermutlich war ich ein wenig übereifrig und habe die Situation unterschätzt. Dabei bin ich doch nur in die Menschenwelt gewechselt, um endlich vor dir zu stehen. Was Samuel für dich empfindet, ist so wunderschön. Das wünsche ich mir auch von dir.«
Jetzt begriff ich, was mit diesem Knaben nicht in Ordnung war: Der war nicht ganz richtig im Kopf. Offenbar herrschte absolutes Chaos in seinem Inneren – warum sollte er sich sonst zu einem Mädchen hingezogen fühlen, das er nicht einmal ansatzweise kannte?
Als habe er meine Gedanken erraten, färbten sich seine Wangen kirschrot. »Ich kann mir gut vorstellen, wie verrückt das in deinen Ohren klingt. Es ist nur so, dass ich durch das Berühren von Samuels Aura vieles über dich erfahren habe. Allerdings auch über seine Gefühle für dich und das hat mich … wie soll ich sagen …«
Nikolai strich seinen Pony aus dem Gesicht. Mensch, mir fielen auf einen Schlag ein Dutzend Mädels ein, die für derartig ausdrucksstarke Augen samt Seidenwimpern gemordet hätten. Für einen Jungen waren sie einfach too much. Trotzdem fesselte mich sein Aussehen, obwohl mich nun doch wirklich ganz andere Dinge beschäftigen sollten. Zum Beispiel dieses verquaste Kompliment und was es eigentlich zu bedeuten hatte. Konnte Schönheit eine ganz eigene Form von Magie entwickeln, indem sie einem das Gehirn benebelte? Was für eine unangenehme Vorstellung. Da brauchte ich schnell ein Gegenmittel.
»Keine Ahnung, was du durch Sams Aura über mich und unsere Beziehung mitbekommen hast, aber es geht dich nicht das Geringste an. Das sind alles Sachen zwischen Sam und mir. Außerdem hat er dir vorgestern Abend doch wohl unmissverständlich klargemacht, was er von deinen Besuchen in unserer Welt hält. Nämlich gar nichts. Und jetzt bist du schon wieder da, und das auch noch in meinem Zuhause«, stellte ich trocken fest.
Erneut streckte Nikolai mir eine Hand entgegen. So stur, wie ich sie ignorierte, so beharrlich hielt er sie mir entgegen. Nun, irgendwann würde ihm schon der Arm einschlafen.
»Ich bin hier, weil Kastor Hilfe beim Wechsel in eure Welt brauchte«, erklärte Nikolai. »Seine eigene Pforte stand ihm nicht zur Verfügung, da niemand auf dieser Seite ein gezieltes Feuer für ihn entfacht hätte. Meine Pforte, die Asche, ist fast überall verfügbar, zumindest in der Sphäre. Seit dem Krieg mit seinen vernichtenden Bränden bildet sie eine feste Größe im Erdreich.«
»Feuer und Asche. Dann bildest du ja eine Art Gespann mit Kastor.«
Nikolais Lächeln erreichte locker die Wirkung einer Tausend-Watt-Glühbirne. »Wir sind Brüder. Enge Bindungen sind für eine Schattenschwinge ausgesprochen wichtig, ansonsten verlieren wir rasch den Halt. Vor allem, wenn die Verbindungen aus unserem alten Leben nach und nach abbrechen, weil die Zeit für die Menschen sich nicht zu drehen aufhört. Kennst du das Gefühl, allein zu sein?«
»Vielleicht ein wenig.«
Mit meiner Antwort kehrte unwillkürlich das Gefühl zurück, nachdem Sam gegangen war. Unerträglich. Dabei vertraute ich aller Vernunft zum Trotz darauf, dass wir eine Lösung finden würden. Irgendwann. Unsere Trennung war also nicht annähernd so endgültig wie der Tod. Wobei der Tod nur für mich ein Thema sein würde, während Sam … Meine Gedanken begannen Karussell zu fahren und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich wirklich allein ohne Sam war. Nicht bloß, weil er sich gerade an einem anderen Ort befand, sondern weil er nicht mehr zu mir gehörte. Das Brennen hinter meinen Augen bezwingend, spielte ich mit dem Ring an meiner linken Hand, der sich so wunderbar lebendig anfühlte. Ein Beweis, dass die Bindung zwischen Sam und mir nicht endgültig zerbrochen war. Noch nicht.
In der nächsten Sekunde legte Nikolai seine Hand auf meinen Handrücken, als wolle er sich ebenfalls an der sanften Glut des Bernsteinrings wärmen. Allerdings sprach er mit einer Kälte weiter, bei der ich zusammenfuhr.
»Nun, du zumindest wirst niemals wieder einsam sein, schließlich bist du durch einen Ring gebunden.«
Der zerknirschte Junge war verschwunden. Stattdessen stand dort nun ein unnahbares Wesen, die Züge leer gewischt von Emotionen und mit einer Ausstrahlung, der nichts Irdisches anhaftete. Wer stand da eigentlich vor mir?
Ich war so verstört, dass sich in meiner Kehle ein dicker Knoten bildete. Als Nikolai meine schützende Hand beiseiteschob, um die beringte Hand zu nehmen, wagte ich es nicht, die Berührung abzuweisen. Seine langen kraftvollen Finger verwoben sich mit meinen und der Ring begann in der Tiefe des Bernsteins dumpf zu pochen. Als hätte er einen eigenen Herzschlag. Vielleicht war es auch nur mein rasender Puls, der mir das vorgaukelte.
Nikolais Aura schimmerte silbrig auf. »Ich wusste gleich, dass der Bindungsring bei Samuel endlich seine Bestimmung entfalten würde, für die er geschaffen worden ist: um zwei Liebende zu binden. Um zusammenzubringen, was zusammengehört … Deine Berührung fühlt sich genauso vielversprechend an, wie ich es mir erhofft habe, Mila.«
Unfähig, mich ihm zu entziehen, ging ich in dem auf einmal silbrigen Schimmern seiner Augen verloren. Wie hatte ich diese Farbe jemals für Grau halten können? Sie war so blank und rein wie polierte Münzen, der eben noch markante Feuerreif nicht mehr als eine Ahnung. Sanft streichelte Nikolai mit dem Daumen meinen Handrücken und ein Seufzen kam über meine Lippen.
Plötzlich war Kastor da und trennte unsere Hände. Mir stockte der Atem, denn wie durch Zauberhand stand anstelle der bedrohlichen Schattenschwinge wieder der reumütige Nikolai vor mir, der sich unbedingt mit mir vertragen wollte. Während ich vergeblich nach dem silbrigen Schein suchte, in den er eben noch gehüllt gewesen war, wurde mir bewusst, dass ich bis ans Ende der Zeit auf diese Weise verbunden mit der fremden Schattenschwinge dagestanden hätte, wenn Kastor nicht dazwischengegangen wäre. Ich wäre verloren gewesen in dem Zauber, der von mir Besitz ergriffen hatte. Nein, das war keine besonders erbauliche Erkenntnis. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es sich dabei wirklich um Schattenschwingen-Magie handelte oder um pure Anziehungskraft. So oder so, jetzt, da der Bann gebrochen war, verschränkte ich die Arme hastig vor der Brust und bemühte mich mein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen.
»Was zur Hölle war das eben?«, brachte ich gepresst hervor.
Niemand beachtete mich. Kastor war vollauf damit beschäftigt, Nikolai so fest an der Schulter zu packen, bis der aufkeuchte, ehe er beschämt den Blick senkte. »Ja, ich weiß, dass Samuel eine solche Berührung nicht dulden würde. Darauf brauchst du mich nicht extra hinzuweisen, Kastor«, erwiderte er reumütig.
Anstelle von Kastor antwortete Shirin. Sie maß ihn von Kopf bis Fuß, und was sie dabei zu sehen bekam, war ganz offenbar überhaupt nicht nach ihrem Geschmack. »Wann genau hast du eigentlich beschlossen, immer alles verkehrt zu machen, Nikolai?«, fragte sie ihn mit mühsam beherrschter Stimme. »Da bekommst du eine zweite Chance, aber anstatt sie zu nutzen, treibst du es nur noch wilder als zuvor. Bist du denn gar nicht lernfähig?«
Dabei hob Shirin die Hand, um ihrer Frage Nachdruck zu verleihen. Beklommen bemerkte ich, dass sie zitterte. Was Kastor ihr auch berichtet haben mochte, es hatte sie sehr aufgewühlt.
»Ich habe nicht alles verkehrt gemacht, wenn du es genau wissen willst«, entgegnete Nikolai, ohne sie jedoch eines Blickes zu würdigen. Stattdessen zuckten seine Lider, als wolle er eine Benommenheit fortblinzeln. »Der Ring an Milas Hand, der ist mein Verdienst.«
»Du bist also für das unselige Auftauchen dieses Bindungsrings verantwortlich. Erzähl mir sofort, wo du ihn gefunden hast!«
Obwohl Shirin ihre Forderung selbstsicher formulierte, entging mir nicht das leichte Beben in ihrer Stimme. Kastors Neuigkeiten schienen sie sehr zu belasten, und Nikolais eigenartiges Verhalten trug sicherlich zu ihrer Verstörung bei. Vielleicht hatte aber auch der Anblick des Rings alte Enttäuschungen wieder zum Leben erweckt. Denn genau so einen Ring hatte Shirin sich von ganzem Herzen von Ask gewünscht und niemals bekommen.
Der Nachdruck, mit dem Shirin eine Antwort einforderte, schien Nikolai zu verwundern, denn er zuckte beschwichtigend mit den Schultern. »Ich habe den Ring auf einem Eiland draußen auf dem Meer entdeckt und Samuel die Stelle gezeigt, weil ich ihm einen Gefallen tun wollte. Jemand hatte dort vor langer Zeit eine romantische Überraschung geplant, die dann niemals eingelöst worden ist. Das heißt: Zu guter Letzt ist sie doch eingelöst worden, nur auf andere Weise, als ursprünglich geplant. Ich habe mir so gewünscht, dass Mila diesen Ring trägt.«
Nikolai hielt abrupt inne, als wisse er nicht weiter, als hoffe er auf eine Stimme, die ihm soufflierte. Und eine Erklärung war bitter nötig, wenn man Kastors eisige Miene bedachte. Sollte Nikolai nicht gleich etwas Sinnvolles hervorbringen, würde der ansonsten stets beherrschte Grieche die Geduld verlieren. Ich hegte keinen Zweifel daran, dass die Standpauke auch ohne Stimmeinsatz beeindruckend ausfallen würde.
Doch so weit kam es nicht, denn Nikolai nickte unmerklich und sagte dann: »Es fällt mir schwer, Samuels alleinigen Besitzanspruch auf Mila zu akzeptieren, wo ich mich ihr durch den Ring auch in gewisser Weise verbunden fühle. Schließlich habe ich ihn entdeckt.« Er lächelte einnehmend, wobei er jedoch niemanden direkt anblickte. »Und dann sind da noch die Nachwehen meines langen Schlafs. Ich habe mich immer noch nicht an das Hier und Jetzt gewöhnt. Die machtvolle Verbundenheit, die der Ring zwischen Mensch und Schattenschwinge schafft, ist da schlicht zu verlockend. Anders kann ich mir mein Verlangen nicht erklären.«
Obwohl Nikolais Blick hinter dem dichten Wimpernkranz verborgen lag, glaubte ich, echte Verwirrung darin auszumachen. Ja, bei diesem Auf und Ab, das er an den Tag legte, konnte einem schon schwindelig werden. Warum sollte es ihm da besser als uns anderen ergehen?
Auch Kastor war anzumerken, dass ihm Nikolais Verhalten ein Rätsel war, trotzdem ließ er diesen Erklärungsversuch für sich stehen. Mit gerunzelter Stirn blickte er zu Shirin, die immer noch einen aufgelösten Eindruck machte. Sogar ihre Lippen hatten alle Farbe verloren. Trotzdem nickte sie Kastor bekräftigend zu.
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde tun, worum du mich gebeten hast, und mich um Nikolai kümmern, während du nach Samuel siehst. Das, was ihr entdeckt habt, kann solange warten. Ehrlich gestanden, fürchte ich mich vor dem Eintritt in die Sphäre. Wenn meine Auszeit also noch einen Moment andauert, soll mir das nur recht sein. Sowohl Nikolai als auch Mila sind bei mir in guten Händen. Lass dir Zeit mit Samuel. Wir brauchen ihn jetzt mehr als je zuvor. «
Kastor senkte den Kopf, als jagten ihm so viele Sorgen hindurch, dass dieser ganz schwer wurde. Dann richtete er sich auf und blinzelte mir freundlich zu, bevor er sich zum Gehen abwendete. Augenblicklich überkam mich das starke Bedürfnis, ihn aufzuhalten. Die Vorstellung, dass Nikolai blieb, verursachte mir Beklemmungen.
Ich wendete mich Shirin zu. »Was hat Kastor dir erzählt, dass du so elend aussiehst? Ihr habt beide sehr mitgenommen gewirkt. Gibt es Neuigkeiten über den Unbekannten, nach dem ihr alle sucht?«
Shirin ließ das Tuch ihres Wickelkleides zwischen ihre Finger gleiten. »Es ist besser, wenn dich das nicht auch noch bekümmert.«
»Ach, komm schon. Dir setzt es zu und ich bin deine Freundin. Deine Hände haben eben gezittert wie Espenlaub und Kastor machte ebenfalls keinen besonders unbeschwerten Eindruck. Außerdem ist Sams Name in diesem Zusammenhang gefallen«, bohrte ich nach.
Shirin und Nikolai wechselten einen langen Blick, der mir wieder einmal deutlich machte, dass ich außerhalb ihres Kreises stand. Schattenschwingen-Angelegenheiten. Dabei konnte ich nicht einmal sagen, was sich zwischen den beiden abspielte. Wie ein gewöhnlicher Austausch erschien es mir jedenfalls nicht, dafür wirkte Shirin zu aufgewühlt und Nikolai eigenartig starr.
Langsam riss mir der Geduldsfaden. »Fein, dann eben nicht. Ihr zwei könnt ja im Garten lustwandeln oder euch sonstwie die Zeit vertreiben, bis Kastor wieder da ist. Ich muss jetzt jedenfalls los zu Lena, ansonsten streicht sie mich noch endgültig von ihrer Freundinnen-Liste.«
Obwohl ich das zu Shirin gesagt hatte, war es Nikolai, der den Kopf schüttelte und sich vor mich stellte. »Tut mir leid, Mila. Aber dein Freundschaftsbesuch wird heute wohl ausfallen müssen.«
»Sagt wer?« Ich blickte zur Diele hinüber, um den Abstand zur Haustür abzumessen. Wie viele Schwingenschläge brauchte es, um sie vor mir zu erreichen? »Shirin, kannst du dem Kerl bitte mal klarmachen, dass er hier überhaupt nichts zu melden hat?«
»Damit hat sie vollkommen recht«, stimmte Shirin mir zu, die Hände in die Hüften gestemmt.
Weiter kam sie nicht, denn Nikolai legte ihr den Zeigefinger über die Lippen. »Du hältst jetzt den Mund, meine Liebe«, sagte er, wobei seine Aura heller wurde. Diese umgab ihn nun wie einen spiegelnden Kranz und leuchtete so stark, dass ich ihre Auswirkung spürte: Die Atmosphäre verdichtete sich, die Luft legte sich wie eine samtige Hülle auf meine Haut und hinter meiner Stirn bereitete sich ein wattiges Gefühl aus – dabei war ich alles andere als müde. Shirins Augen weiteten sich, der Rest ihres Körpers hingegen gefror. Selbst als Nikolais Fingerspitze spielerisch über die Konturen ihrer Lippen fuhr, regte sie sich nicht.
Hilflos stand ich da, denn ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was sich gerade zwischen den beiden abspielte. »Alles okay?«, fragte ich leise.
Leider war es Nikolai und nicht Shirin, der sich mir zudrehte. »Es ist alles ganz wunderbar.«
Nun, ich zumindest vertrat da eine komplett andere Meinung, wenn ich mir die erstarrte Shirin so anschaute. Trotzdem nickte ich und sagte: »Super! Dann macht ihr zwei euch doch einen schönen Vormittag. Ich bin dann mal weg.«
Nikolai schenkte mir ein träges Lächeln, das mich an eine Raubkatze erinnerte, die der Maus aus Spaß am Spiel einen kleinen Vorsprung zugestand. Unglücklicherweise fühlte ich mich wie die Maus. Mein rasendes Herz lag mir auf der Zunge, als ich betont langsam auf den Ausgang zuging. Ich hielt mich an der Hoffnung fest, dass Kastor sich in der Zwischenzeit noch nicht allzu weit vom Haus entfernt hatte. Diese Sache hier war eindeutig eine Nummer zu groß für mich, das bestätigte mir allein die sich immer weiter verdichtende Atmosphäre, die meine Glieder mit Blei füllte, während mir eine verführerische Stimme zuflüsterte, dass es an der Zeit sei, sich dem Schlaf zu überlassen.
Als ich die Hand auf die Türklinke legte, verharrte ich trotz allem.
Auf meiner Haut war ein feiner silbriger Glanz.
Es ist Zeit für einen Traum.
Ich wollte herumfahren, stattdessen stand ich reglos da. Drück die Klinke! Du musst hier raus! Mein eigener Schrei, der mir aber niemals über die Lippen kam, hallte in meinem Kopf, der sich rasant schnell in einen luftleeren Raum verwandelte. Mit Mühe drängte ich den Eindruck zurück, meinen Körper zu verlassen und ins Dunkel des Schlafes einzutauchen.
Hör auf dich zu wehren.
»Auf keinen Fall«, brachte ich mit schwerer Zunge hervor. Endlich gelang es mir, die Türklinke hinabzudrücken, da berührte auch schon ein Luftzug meinen Nacken. Nicht Raubkatze, nein. Nikolai hat was von einem Raubvogel, korrigierte ich mich. Doch da war es schon zu spät. Ein schmerzhafter Griff in meinen Nacken. Die Beute war geschlagen.