9
Ein Schatten im Licht
Es brannte.
Nein, es fühlte sich wundervoll an. Wie es mich von allem unnötigen Ballast befreite. Das Weiße Licht war gut.
Aber wie konnte etwas Gutes einem die Haut wegbrennen?
Das würde es nicht tun. Ruhig bleiben, es zulassen.
Nur ist es schlicht unmöglich, ruhig zu bleiben, wenn ein magisches Reinigungsfeuer in die eigenen Gehirnwindungen eindringen will.
Wie sollte ich mich noch einmal verhalten?
In einem fort schwirrte dieses Durcheinander an Gedanken durch meinen Kopf, während sich die erlösende Wirkung, die ich bei meiner ersten Begegnung mit dem Weißen Licht erfahren hatte, nicht einstellen wollte. Wenn ich mich nach einer Sache ganz bestimmt nicht sehnte, dann war es die Auslöschung meiner Persönlichkeit mit allem Drum und Dran. Schließlich hatte mein Ich am Abend noch ein Date.
Alles um mich herum war gleißendes Weiß, es gab kein Oben und kein Unten. Ich fragte mich, wie es Kastor bloß gelang, das Leuchten meiner Aura auszumachen. Ich hatte jedenfalls nicht die geringste Ahnung, wo er sich gerade befand. Dafür glaubte ich zu spüren, wie die Haut auf meinen Unterarmen Blasen schlug.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. »Sam, hör auf, dich gegen das Weiße Licht zu wehren. Akzeptiere, was es tut, dann verbrennt es dich auch nicht. Besinn dich unterdessen auf deine eigenen Fähigkeiten. Das ist alles, was zählt.«
Ja, großartig! Und wie genau funktionierte das noch einmal? Anstatt zu einer Schimpfattacke anzusetzen, für die mir mittlerweile bestimmt die Auswahl an Wörtern fehlte, weil das Weiße Licht sie gelöscht hatte, ließ ich meine Ängste los und tastete nach jenem Etwas in mir, das zwar kein Körperteil im eigentlichen Sinne war, mir jedoch vertrauter erschien als mein Gesicht: meine Aura. Es ist schwierig zu beschreiben, wie sich diese Form von Energie, aus der auch meine Schwingen gesponnen waren, anfühlte. Vermutlich, weil ich dazu auf Worte aus der Menschenwelt zurückgreifen musste, der diese Art von Energie fremd war. Am ehesten ähnelt es der Spannung, die entsteht, kurz bevor zwei Menschen ihre Handflächen gegeneinanderpressen. Wie ein magnetisches Feld. Nur war die Aura viel mehr als das.
Kaum ließ ich zu, dass außer dem Empfinden der Aura nichts anderes mehr von Bedeutung war, flammte sie um mich herum auf wie ein Strahlenkranz, sodass mir sogar Kastors Schattenschwingen fast strahlend weiß erschienen. Auf seine kantig geschnittenen Gesichtszüge stahl sich ein Lächeln, denn ich hatte es geschafft. Ich wollte es gerade erwidern, da bemerkte ich, dass ich mich in Schräglage befand. Schon sackte ich ein ganzes Stück in der Luft ab. Offensichtlich galt die Schwerelosigkeit nur für jene, die der Magie ausgeliefert waren. Bevor ich meine Schwingen ausrichten konnte, kehrte das Weiße Licht in mein Bewusstsein zurück. Als ich es erneut gebannt hatte, war Kastor bereits nur noch ein Fleck in der Ferne, dessen Silhouette von der flirrenden Luft verzerrt wurde.
Ich wollte ihm nachsetzen, doch sobald ich zu einem ordentlichen Flug überging, bekam ich das Weiße Licht zu spüren. Offensichtlich brauchte es einiges an Übung, um in diesem Gebiet zu bestehen. Nun, Kastor erwartete ja auch nicht mehr von mir, als dass ich seinen Leuchtturm spielte. Alles, was ich tun musste, war, meine Aura strahlen zu lassen. Und dabei konnte ich ja ein wenig meine Schwingen bewegen, nur um herauszufinden, wie das so funktionierte.
Im Nachhinein habe ich nicht die geringste Ahnung, wie viel Zeit verging, während ich bei meinen Flugversuchen immer wieder im Weißen Licht endete. Aber ich hielt mich allmählich besser, und das allein reichte mir zur Motivation. Es war einfach zu seltsam, durch etwas zu fliegen, das sich wie tausendfach gebrochene Luft oder ein Strahlennetz anfühlte. Jeglicher Widerstand, und mochte es nur eine lebensmüde Möwe sein, die in dieses Netz geriet, wurde weitergetragen und versetzte mir einen leichten Schlag. Auf diese Weise hatte Kastor also als Wächter den Schutzwall kontrolliert: indem er die Verbindung zwischen dem Netz und seiner Aura abgetastet hatte. Deshalb hatte er mich finden können, bevor das Weiße Licht mich auslöschte. Nur andersherum wollte es mir nicht gelingen: Von Kastor war keine Spur zu entdecken.
Meine zunehmende Beunruhigung trieb mich voran, immer tiefer ins Weiße Licht, nun ganz konzentriert darauf, wenigstens eine Spur von Kastor zu entdecken. Doch da war nichts. Wahrscheinlich gelang es mir noch nicht richtig, das Weiße Licht abzusuchen, oder er war schlicht schon zu weit vorgedrungen, versuchte ich mir einzureden. Schließlich war ich gerade erst dabei, mich hier zurechtzufinden, oder vielleicht funktioniert das Netz in der Nähe zum Vernichteten Land nicht. Wie auch immer dieses Gebiet aussehen mochte … Ich schluckte schwer.
Unschlüssig, was ich tun sollte, betrachtete ich das Meer, das sich jäh unter mir aufgetan hatte. Sonst schenkte mir sein Anblick immer Trost, aber in diesem Moment verstärkte es meine Unruhe nur. Denn ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt Wasser war, das in der Tiefe unter mir das Licht wie ein gleißender Spiegel zurückwarf. Obwohl ich meinen Flugkünsten noch nicht wirklich über den Weg traute, schwebte ich bis knapp über die Oberfläche.
Kein Wellenrauschen und auch kein typischer Meeresgeruch, der einem die Nebenhöhlen freimacht, wie ich irritiert bemerkte. Dafür stellte sich eine andere vertraute Reaktion ein: Die Narbensymbole auf meinem Unterarm machten sich unter der von Lorson reparierten Armschiene bemerkbar. Allerdings auf eine bislang unbekannte Weise, die mir überhaupt nicht gefiel. Es fühlte sich an, als würde jedes einzelne Zeichen mit einer scharfen Messerspitze fein säuberlich nachgeschnitten. Ein scharfer Schmerz, der einen Augenblick beim letzten Zeichen verweilte, als erwarte das Messer ein weiteres Symbol, auf das es überspringen konnte. Glücklicherweise war die Zeichnung jedoch niemals vervollständigt worden.
Dann war der Schmerz vorbei.
Verwundert blickte ich auf den Meeresspiegel, der mich nicht länger blendete. Stattdessen sah ich flaschengrünes Glas unter mir, dessen erstarrte, glänzende Oberfläche sich zu Wellen bog.
So fantastisch das Ganze auch sein mochte, auf meinen Oberarmen breitete sich eine Gänsehaut aus. Ein Meer, das nicht in Bewegung war, war kein Meer. Zumindest hatte dieses Reich nichts mit dem Element zu tun, dem ich mich von Geburt an verbunden gefühlt hatte und das zugleich meine Pforte zwischen den Welten war.
Mit pochendem Herzen sah ich, was sich in diesem reglosen Meer befand: ein Schwarm schillernder Heringe, mitten in der Bewegung konserviert, und Treibholz, umgeben von einem Schleier aus Perlen, die zuvor aufsteigende Luftbläschen gewesen sein mochten. Darunter immer schwärzer werdende Schichten aus Glas, die nichts anderes als zum Stillstand gezwungene Wasserströmungen waren. Vom Grund war keine Spur auszumachen.
Je länger ich in diesen Abgrund starrte, desto unruhiger wurde ich, und dabei hätte ich fast das Strahlen meiner Aura eingebüßt. Im Gegensatz zu mir gönnte sich das Weiße Licht keine Auszeit. Als ich mich wieder gefangen hatte, kam mir eine Idee. »Gut, die Aura ist zwar keine Taschenlampe, aber warum nicht?«, flüsterte ich mir selbst Mut zu.
Zuerst sah es so aus, als würden meine Strahlen an der Spiegelfläche abprallen, aber dann geriet das grüne Glas in Bewegung. Das Ganze erinnerte ein wenig an Wackelpudding, doch irgendwie gelang es mir nicht richtig, mich über meinen Erfolg zu freuen. Zu tief und bedrohlich war die Schwärze unter mir, zu der ich soeben die Tür geöffnet hatte. Unschlüssig blickte ich auf das geschmolzene Glas, das in einem Durchmesser von gut drei Metern Wellen zu schlagen begann, die sogleich wieder erstarrten. Gerade als ich beschloss, nun ausreichend Forschung betrieben zu haben, bemerkte ich ein Glimmen in der Tiefe. Ein feurig rotes Glimmen, das mir seltsam vertraut vorkam.
Kastors Aura.
Einen Moment lang verfluchte ich noch die halsstarrigen Schattenschwingen, Kastors Vertrauen in meine Fähigkeiten und mich selbst im Allgemeinen, dann schloss ich meine Schwingen und tauchte ins Meer ein.

Der Zeitpunkt war gekommen. Es gab nur diese eine Chance.
Der Versuch zu retten, was von ihm übrig geblieben war, würde die gesamte Kraft aufzehren, die er gesammelt hatte. Er musste sie darauf verwenden, einen Eingang in einen ruhenden Geist zu schaffen. Danach gab es kein Zurück mehr. Außerdem würde dabei der graue Pfad, über den er bislang an Samuel gebunden war, vernichtet werden. Die Verbindung zwischen ihnen wäre aufgelöst. Trotzdem musste er das Risiko eingehen. Denn wenn sie seinen Leib fanden, würden sie ihn endgültig zerstören, da war er sich sicher. Und wenn er dann in diesem Körper, seinem Gefängnis, steckte, würde er mit vernichtet werden. Dank Samuels Kraft war er stark, stark genug für eine Flucht. Und er musste fliehen.
Jetzt.

Während das Weiße Licht eine Hitze zu beschwören imstande war, in der man wie ein Stück Papier aufflammte, so war das Wasser, in das ich unnatürlich langsam eintauchte, kalt und schneidend. Instinktiv presste ich die Hand auf meine Armschiene, damit sie ja bloß nicht das kleinste Stück verrutschte. Doch meine Vorsicht erwies sich als überflüssig, weil die Symbole nicht einmal ansatzweise auf die Berührung des Meeres reagierten. Auch der Schmerz der spitzen Messerklinge wiederholte sich nicht. Dafür umspülte mich die grüne Flut mit einer beängstigenden Kraft, sodass ich froh war, von meiner Aura wie von einem schützenden Kokon umgeben zu sein. Mir kam der Gedanke, dass ich jetzt besser keinen Fehler begehen sollte, denn im Gegensatz zum Weißen Licht würde das Meer beim Auslöschen meiner Existenz sofort zuschlagen. Um das zu begreifen, brauchte ich nicht meinen Instinkt zu bemühen.
Mit einer Rolle abwärts verabschiedete ich mich von dem lockenden Funkeln der Wasseroberfläche und tauchte der schwachen Flamme am Abgrund entgegen. Dabei brauchte ich mich nicht sonderlich anzustrengen, denn ein unwiderstehlicher Sog zog mich hinab. So kam ich der Flamme unaufhaltsam entgegen, wobei ich den Gedanken verdrängte, wie schwierig anschließend wohl der Wiederaufstieg sein mochte. Mittlerweile erkannte ich zweifelsfrei, dass es Kastor war, den das pulsierende Rot umgab.
Kastors Aura brannte lichterloh, doch er selbst wirkte so leblos wie das Wasser um ihn herum. Den Kopf in den Nacken gelegt, war er mit schmerzverzerrtem Gesicht mitten im Versuch, sich der Oberfläche entgegenzustrecken, erstarrt. Unter dem rechten Arm hielt er einen in Bandagen geschlungenen Leib, der entfernt an eine Mumie erinnerte. Das mussten die Überbleibsel des Schattens sein.
Ich wartete auf eine Reaktion in mir, doch die Überreste der Schattenschwinge, die beinahe die Sphäre ihrem Willen unterworfen hätte, lösten nichts bei mir aus. Damit hatte ich nicht gerechnet, nur blieb jetzt kaum die Zeit, darüber nachzugrübeln. Etwas anderes nahm meine Aufmerksamkeit gefangen: Mit der linken Hand hielt Kastor nämlich etwas, das auf Anhieb kaum zu erkennen war, weil es eins zu eins mit der Farbe des Wassers harmonierte. Wenn ich raten musste, hätte ich auf eine mit Algen und Muscheln besetzte, etwa menschengroße Figur getippt. Es sah ganz danach aus, als sei diese Figur zu schwer, als hätte sie Kastors Aufstieg verlangsamt, bis er erstarrt war – wie der Rest dieses unheimlichen Meeres. Für einen Moment kam es mir so vor, als legte sich eine kalte Hand um meinen Nacken, dann war der Eindruck auch schon wieder verflogen.
Der Widerstand des Wassers nahm mit jedem Millimeter, mit dem ich mich Kastors ausgestreckter Hand näherte, mehr zu. Es war wie in einem Traum, in dem man sich noch so sehr anstrengen kann, ohne jedoch von der Stelle zu kommen. Der Druck um mich verstärkte sich, bis es in meinen Schläfen pochte. Mein Herz schlug gegen den Brustkorb, als sei er ihm mit einem Mal zu eng geworden, und ich dankte dem Schicksal dafür, dass ich längere Zeit ohne Sauerstoff auskommen konnte, denn in meine kollabierenden Lungen hätte ich kaum auch nur einen einzigen Luftzug hineinbekommen. Ohne mein Zutun wollten meine Schwingen hervorbrechen, doch sie wurden von einem schneidenden Schmerz gestoppt: Es fühlte sich an, als würden sie gefrieren, sobald sie sich öffneten. Verzweifelt kämpfte ich gegen die unsichtbare Mauer an, die mich von Kastor trennte. Das Strahlen meiner Aura stieß auf eine Glasschicht, die einfach nicht einschmelzen wollte.
Unschlüssig, was zu tun sei, verharrte ich, obgleich das Wasser um mich herum zunehmend erstarrte. Wenn mir nicht ganz schnell etwas einfiel, würde es mir genau wie Kastor ergehen.
Was hatte ich beim Iaido gelernt?
Konzentration. Darauf kam es jetzt an.
Als hätte ich alle Zeit der Welt, legte ich die Hände um den Griff meines Katanas, während der Sog des erstarrenden Wassers mich um die Glocke, in der Kastor sich samt seiner Beute befand, herumleitete. Doch davon ließ ich mich nicht ablenken. Meine Gedanken waren beim morgendlichen Strand, meine Füße fanden die richtige Position und das Schwert in meinen Händen versprach mir, für mich zu singen. Ich war schon fast an Kastor vorbei und mein Sinken nahm deutlich an Fahrt auf, als ich jene gebündelte Kraft in mir wiederfand, die ich unter Asamis Anleitung erschaffen hatte. Ich griff nach ihr und als ich das Katana zog, war es für einen Herzschlag keine aus Stahl geschmiedete Klinge, sondern pures Licht.
In dem Moment, da ich die Klinge die Glocke zerschlug, ertönte kein Geräusch. Dafür baute sich eine Vibration auf, erst ganz fein, nicht mehr als eine zarte Erschütterung, die sich wellenartig ausbreitete, um dann rasch an Intensität zu gewinnen. Hinter meiner Stirn breitete sich ein unangenehmer Druck aus, während ich auf das Katana in meinen Händen blickte, von dem nur noch der Griff existierte. Dafür wird Asami mich filetieren!, schoss es mir durch den Kopf. Dann schmiss ich den nutzlosen Griff beiseite und schwamm stattdessen zu Kastor, der sich gerade wieder zu regen begann.
Noch immer schimmerte seine Aura wie ein Feuerkranz, erschüttert von den Druckwellen um uns herum. Benommen trat er im Wasser auf der Stelle, dann hatte ich ihn auch schon unter den Armen gepackt. Ein Fischschwarm umkreiste uns, vollführte einen Bogen und verschwand wie ein Blitz im Grün. Obwohl ich ein guter Schwimmer war und Kastor begann, meine Aufstiegsbemühungen zu unterstützen, kamen wir nur mühsam voran. Zwar gestand das Meer mir nun einen größeren Bewegungsspielraum zu, aber die konzentrischen Erschütterungen, die stetig zunahmen, und das Gewicht, mit dem Kastor samt der Hülle des Schattens und der Figur an mir hing, ließen die hell schillernde Oberfläche in weiter Ferne bleiben. Ich öffnete meinen Mund und stieß einen lautlosen Schrei aus, während der Druck hinter meiner Stirn unerträglich wurde.
Dann hörten die Erschütterungen vollkommen unvermittelt auf.
Kastors Blick traf auf meinen.
Ein Geräusch durchdrang das Wasser. Es klang wie eine mächtige Sturmwelle, die an Land schlägt. Aber es war etwas anderes, es war eine Antwort auf die Erschütterungen, die ich mit der Zerschlagung der Glocke ausgelöst hatte. Der Ruf von etwas unfassbar Großem, das sich irgendwo in der Schwärze unter uns verbarg.
Lass die Figur los, forderte ich Kastor über die Verbindung unserer Auren auf, wobei ich nichtsdestotrotz meine Lippen bewegte. Diese Art der Kommunikation war mir nach wie vor fremd.
Ich kann nicht, erwiderte Kastor mit einer Eindringlichkeit, die mir klarmachte, dass diese Figur nicht zur Debatte stand. Stattdessen gab er den bandagierten Rest des Schattens frei.
Einfach so.
Sein Handeln war derart absurd, dass ich es einige Sekunden lang schlicht nicht fassen konnte. Der ganze Grund für diese Wahnsinnsaktion … aufgegeben wie ein unnützes Stück Treibgut. Ich wollte noch nach dem Schatten greifen, streckte mich, bis es schmerzte, aber da wurde er auch schon von einer Strömung erfasst und ins aufgewühlte Meer gerissen. Für uns war er verloren.
Bist du verrückt geworden?, schnauzte ich Kastor an, der ohne meine Unterstützung sofort wieder zu sinken begann. Selbst wenn ich noch etwas vom Schatten in den tobenden Wasserfluten hätte ausmachen können, wäre ich ihm nicht gefolgt, weil ansonsten mein Freund in die Tiefe verschwunden wäre.
Der Leib des Schattens steckt in seiner Hülle, genauso, wie es sein sollte. Das ist alles, was wir wissen müssen. Und jetzt hilf mir bitte. Dabei sah er mich so flehend an, dass ich meine Wut umgehend vergaß.
Neugierig betrachtete ich die mit Algen zugewucherte Statue. Scheinbar ein Schlafender. Dann packte ich sie am unteren Ende und zwang meine jetzt schon überanstrengten Muskeln dazu, Auftrieb zu schaffen.
Wir hatten noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht, als ich es bemerkte: eiskaltes, aus den Tiefen des Meeres verdrängtes Wasser. Zuerst umspülte es nur meine Beine, dann meinen ganzen Körper. Es umhüllte mich wie ein kühler Gruß und trieb ein Schaudern über meine ansonsten so warme Haut.
Etwas stieg auf. Und zwar direkt unter uns. Und dabei verdrängte es beunruhigend viel Wasser.
Erneut umflutete uns ein Schwall aus der Tiefe und drückte uns empor. Doch noch bevor ich mich darüber freuen konnte, wurden wir von einer anderen Wasserschicht ergriffen, die uns seitlich mitriss. Gegen diesen Sog gab es kein Ankommen. Ich konnte die Panik spüren, die von Kastor Besitz ergriff, dem das nasse Element ohnehin gegen seine Natur ging. Trotzdem machte er nicht einmal Anstalten, die Figur loszulassen.
Der Strudel wird uns mitreißen, wenn wir uns nicht beeilen. Lass los!, forderte ich Kastor auf. Doch der schüttelte nur den Kopf, sein Gesicht von Entsetzen gezeichnet.
Während das Wasser um uns herum plötzlich eine trügerische Ruhe annahm, riskierte ich einen Blick in die Tiefe. Alles, was ich sah, war Schwärze, von einer Bodenlosigkeit, die mir vorgaukelte, blind geworden zu sein. Dann bemerkte ich die Bewegung, als würden Wassermassen sich geschmeidig ineinanderschieben und dabei ein verschlungenes Muster ergeben. Als wäre das Schwarz an einigen Stellen dichter als an anderen. Ein Knäuel. Ungläubig blinzelte ich in den Abgrund, während eine andere aufsteigende Wasserschicht an mir zu reißen begann. Dieses Mal ging es hinab, auf das schwarze, sich windende Knäuel zu. In diesem Moment begriff ich, was sich dort unten in Bewegung gesetzt hatte: ein riesiger glatter Leib, dessen Ausmaße imstande waren, einen Mahlstrom auszulösen. Und zwar mit uns im Zentrum des Sogs, wobei der sekündlich zunehmende Sog noch unser kleinstes Problem war.
Wenn du jetzt nicht sofort diese verfluchte Figur loslässt, werden wir beide im Maul einer riesigen Meeresschlange landen, du sturer Grieche, schleuderte ich Kastor entgegen.
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. Vermutlich hatte sich meine Nachricht auch genauso angefühlt. Sichtlich verzweifelt presste er die Lippen aufeinander, während er ohne meine Hilfe immer weiter sank.
Ich muss ihn retten, bitte!
Ich riskierte noch einen Blick hinab, wo sich gerade der schwarz glänzende Schlangenleib zu einem Bogen aufbäumte, dessen höchster Punkt bereits das Wasser, das vom durch die Oberfläche brechenden Licht grün gefärbt war, erreichte. Die Ausmaße dieses Bogens hielten zu meinem Entsetzen mühelos mit einer Brücke mit. Und damit meine ich nicht die zierlichen Dinger im Park, sondern über breite Flüsse gebaute Brücken. Wie der dazugehörige Rest aussah, der sich gerade noch aus der Tiefe emporarbeitete, wollte ich lieber nicht wissen. Ich schluckte, dann verschwendete ich keine weitere Sekunde, sondern kämpfte gegen den Wasserwiderstand an, als ginge es um mein Leben. Und das tat es auch.
Von dem erstarrten Meer, in das ich eingedrungen war, war keine Spur mehr zu entdecken. Stattdessen tobte das Wasser um uns herum, als wären wir vor den Klippen von St. Martin ins Meer getaucht. Immer wieder befürchtete ich, die Orientierung zu verlieren, denn das Funkeln des Wasserspiegels ging in dem Durcheinander, das die aufsteigende Schlange hervorrief, verloren.
Neben mir büßte Kastors rotes Leuchten verdächtig an Kraft ein und noch ehe ich meine düstere Ahnung formulieren konnte, verloren seine Finger den Halt um die Figur, die uns bislang wie ein Bindeglied zusammengehalten hatte. Augenblicklich ließ auch ich auf meiner Seite los, damit ich Kastors ausgestreckte Hand zu fassen bekam. Doch Kastor scherte sich nicht um meine Bemühungen, sondern machte Anstalten, der Figur hinterherzutauchen. Obwohl das Wasser vor meinen Lippen kein Geräusch zuließ, fluchte ich aufgebracht und tauchte nun ebenfalls, um die Figur wieder zu fassen zu bekommen. Mit der einen Hand packte ich sie schließlich und mit der anderen griff ich Kastor beim Nacken, der bereits an der Figur hing, ohne noch genug Kraft zu haben, sie auch nur einen Deut emporzuhieven.
Auch meine Glieder wollten den Kraftakt nicht länger meistern, sie schmerzten, als wären sie in Brand gesetzt, und wurden gleichzeitig taub für meine Befehle. In meiner Verzweiflung gab ich nach. Dann musste ich eben eine andere Kraftquelle finden. Zwar hatte ich kein Schwert an meiner Seite, das mir den Zugang zu der gebündelten Macht in meinem Inneren erleichterte. Aber der feste Wille, nicht als Schlangenfutter zu enden, erwies sich auch als passabler Wegweiser. Die Quelle in mir öffnete sich und ihre Energie strömte durch mich hindurch, erst angenehm weich, dann rasch an Schärfe zulegend. Plötzlich bereute ich es, mich für diesen Weg entschieden zu haben, denn die Energie fand außer meinem Körper nichts, um sich zu manifestieren. Die vollkommen aufgezehrte Klinge meines Schwertes kam mir in Erinnerung, dann war da nur noch Platz für Schmerz, der dröhnend durch mich hindurchfuhr und nach einer Möglichkeit suchte, Form anzunehmen.
Unter uns ertönte der Schrei der Meeresschlange, dieses Mal jedoch aus verstörender Nähe.
Obwohl jede Regung den Schmerz in meinem Körper verschlimmerte, sah ich hinab. Zuerst konnte ich nur ein goldenes Strahlen wahrnehmen. Ich brannte so hell wie eine Fackel. Ich hatte mich zum best-sichtbaren Ziel für dieses Monstrum verwandelt. Dann entdeckte ich den schwarzen Pfeil, der aus der Tiefe auf mich zuschoss, mit einer atemberaubenden Schnelligkeit.
Es war der Kopf der Schlange, mit einer vollkommen glatten Oberfläche, der nur wenig Ähnlichkeit mit den irdischen Vertretern ihrer Spezies aufwies. Dieser Schlangenkopf hatte eher etwas von einer Waffe. Lediglich der sich teilende Spalt erinnerte an ein aufschnappendes Maul. In diesem Fall ein Maul von der Größe eines Kraters, in den man stürzen konnte, ohne irgendwo anzustoßen.
Unter Qualen versuchte ich die Energie, die mich aufzufressen drohte, unter Kontrolle zu bekommen, doch es gelang mir nicht. Ich spürte, wie jemand über meine Aura Kontakt zu mir aufzunehmen versuchte, was ich jedoch kaum ertrug. Blind schlug ich zur Seite, in der Hoffnung, Kastor zu treffen, damit er endlich von mir abließ. Ich bekam auch etwas zu fassen, aber es fühlte sich weder nach Mensch noch nach Stein an, sondern nach dem Griff eines Schwertes.
Wie eine Feuerschneise drang Asamis Stimme zu mir durch: Nimm!
Meine Hände legten sich um den Griff, mit dem ich die Klinge sogleich in weitem Bogen aus der Scheide riss. Doch die Energie in meinem Körper war noch schneller: Sie drang in das Schwert und ließ es aufglühen wie frisch geschmiedeten Stahl.
Dann fand die Klinge ihr Ziel.
Ein weißer Blitz blendete mich, der Gegenprall drohte die Knochen in meinen Armen zu pulverisieren. Aber das bekam ich kaum noch mit, denn mit der Energie verließen auch die letzten Reste meiner Kraft meinen Körper und ich glitt in das schwarz-weiße Reich der Träume.