33
Wahl der Waffen
Sam
Von allen schrecklichen Dingen, die mir je widerfahren waren, reichte nichts an den Moment heran, in dem ich Milas leblosen Körper hielt. Nicht einmal meine Aura vermochte ihrem Gesicht Farbe zu verleihen. Es blieb grau und starr. Ich zwang mich dazu, mich auf den Aufstieg aus dem reißenden Meer zu konzentrieren. Je schneller wir den Wasserspiegel durchbrachen, desto besser. Jede Sekunde zählte, und trotzdem blickte ich auf ihr Gesicht und überließ mich beinahe der Furcht, sie bereits verloren zu haben. Doch der Ring an meiner Hand erzählte etwas anderes. Das musste mir genügen, um die Kraft zum Aufstieg aufzubringen. Und so brachen meine Schwingen genau in dem Augenblick hervor, als ich endlich den Wasserspiegel erreichte.
Nach ein paar Schlägen landete ich auf dem Eiland, wo ich Mila vorsichtig ablegte. Sie wollte immer noch nicht von allein atmen, aber ihr Körper war überraschend warm und ihr Herz schlug, wenn auch nur schwach. Stumm betete ich darum, dass kein Wasser in ihre Lungen gedrungen war. Als ich Schritte in unserer unmittelbaren Nähe hörte, scherte ich mich nicht weiter darum. Ich würde mich so lange um Mila kümmern, bis ich sicher war, dass sie überlebt hatte. Alles andere konnte warten.
Gerade als Mila zu husten begann und damit verriet, dass ihre Lungen die Arbeit wieder aufnahmen, stand der Schatten vielleicht einen Meter von uns entfernt. Näher würde ich ihn nicht an uns herantreten lassen.
»Es war ausgesprochen mutig von dir, ins Meer einzutauchen, obwohl es rund um die Insel verrückt spielt, Samuel.«
»Auf jeden Fall mutiger als du es warst«, stellte ich trocken fest, während ich Mila hielt, die das Salzwasser ausspuckte, das ihr in Mund und Kehle eingesickert war. Erschöpft und schwer atmend blieb sie auf der Seite liegen.
»Für mich wäre es unmöglich gewesen, sie in diesem Aufruhr ausfindig zu machen. Das weißt du ganz genau.« Bildete ich mir das ein, oder hörte ich da tatsächlich Verlegenheit heraus?
Ich sparte mir eine Antwort. Hier gab es nichts zu bereden. Milas dunkellila verfärbte Lider begannen zu flattern, dann öffnete sie einen winzigen Spalt breit ihre Augen. »Hallo, du Nixe«, begrüßte ich sie und konnte nicht anders, als sie glückselig anzugrinsen.
Mila versuchte etwas zu sagen, brachte aber lediglich ein Husten hervor.
Mit Abstand das beste Geräusch, das ich je gehört hatte!
»Süße, du hast Sprechverbot. Das Einzige, was du in den nächsten Minuten tun darfst, ist brav und gleichmäßig atmen. Alles andere überlässt du mir.«
So leicht war Mila jedoch nicht beizukommen. Ihre Augen fuhren aufgeregt umher und sie quälte sich damit ab, trotz des Hustenreizes zu sprechen.
Ich beugte mich zu ihrem Ohr hinab und flüsterte: »Keine Sorge, ich weiß, was hier gespielt wird.«
Ihr Gesichtsausdruck besagte »Das weißt du nicht«, aber als ich sie mit meiner Wärme umflutete, gab sie auf und fiel in einen Schlaf. Sanft legte ich sie auf den Boden, wo sie sich wie ein Embryo zusammenrollte. Sie hatte genug mitgemacht und bei diesem Kampf konnte sie mir ohnehin nicht helfen. Dann stellte ich mich wie ein Bollwerk zwischen sie und den Schatten, von dessen Aura nicht mehr als ein schwacher Schein auszumachen war. Unwillkürlich musste ich an Asamis Warnung denken, dass der Schatten einst ein Meister der Täuschung gewesen sei. Ich würde nicht den Fehler begehen, ihn zu unterschätzen. Abwägend blickte er mich aus seinen grauen Augen an. Augen, die in der Menschenwelt zweifelsohne silbern waren. Doch dass ich dieses Geheimnis bereits gelüftet hatte, würde ich vorläufig für mich behalten. Schließlich hatte ich ansonsten keine weiteren Trümpfe in der Hand.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht, Nikolai?«, eröffnete ich das Spiel, die Hände herausfordernd in die Hüfte gestemmt. »Du wirst dich dafür verantworten müssen. Dieses Mal aber nicht vor mir, sondern vor dem Rat. Soll der gefälligst entscheiden, wie mit einem Irren wie dir zu verfahren ist!«
Eins musste man ihm lassen: Er beherrschte seine Mimik ausgezeichnet. Sein Gesicht war wie leer gewischt, ein echtes Pokerface, während er in Gedanken die verschiedenen Möglichkeiten durchging. Dabei spielten seine Finger mit einer frischen Schnittwunde über seinem Rippenbogen, die Mila ihm zweifelsohne beigebracht hatte. Sie weiß, wie man sich zur Wehr setzt, dachte ich stolz. Ehe er zu einem Entschluss gelangte, ging ich mit grimmiger Miene auf ihn zu und gab vor, ihn am Arm packen zu wollen.
»Du weißt es, nicht wahr, Samuel?«, brachte er mit Nikolais wunderbar volltönender Stimme hervor, während er meinen vorgestreckten Arm in letzter Sekunde abwehrte. Seine Bewegung war schnell und gezielt, nichts erinnerte mehr an die leicht zu überwältigende Schattenschwinge bei den Wellenbrechern. Sein Körper mochte zwar noch von der gleichen schmalen Statur sein, aber der Wille dahinter war ein anderer.
»Ich weiß was? Dass du ein Lügner bist? Ja, das habe ich mitbekommen.« Wir umkreisten uns aufmerksam und ich sehnte mich nach Asamis Katana, das sich so richtig in meiner Hand angefühlt hatte. Ich hätte keine Sekunde gezögert, es gegen ihn einzusetzen. »Vielleicht erzählst du mir ja trotzdem, was du Mila angetan hast, dass sie sich ertränken wollte.«
»Ich wollte ihr nichts antun, genauso wenig wie dir.«
»Wow, du bist wirklich ein miserabler Lügner.«
Unversehens hatte ich ihm eine Ohrfeige gegeben. Nicht etwa einen kräftigen Schlag, der ihn das Gleichgewicht gekostet hätte, sondern eine schlichte Ohrfeige, die ausschließlich darauf abzielte, meine Verachtung auszudrücken. Trotzdem flog sein Kopf zur Seite. Langsam hob er den Blick und tastete nach seiner Wange, auf der sich bereits die Abdrücke meiner Hand abzeichneten.
»Das hättest du besser nicht getan.«
»Nein?«
»Nein.«
Von einer Sekunde zur nächsten leuchtete die Aura des Schattens auf, ein Eiskranz, dessen überraschend kräftige Schärfe ich nur knapp abwehren konnte. Ich taumelte einige Schritte zurück und riskierte einen Blick auf Mila, die jedoch weiterhin in ihrem tiefen Schlaf lag.
»Sie träumt. Die Träume der Menschen gehören mir. Ich könnte sie mir jetzt nehmen. Was meinst du?«
Ich sparte mir eine Antwort, sondern griff an. Doch ich beging den Fehler, erneut meine Faust einzusetzen. Es fühlte sich an, als würde ich sie in einen Scherbenhaufen treiben, obwohl sich auf meiner Haut kein einziger Riss zeigte. Die Verletzungen gingen tiefer. Sie hinterließen tiefschürfende Spuren in meiner Aura, die ich im letzten Moment noch dazu einsetzen konnte, den Angriff des Schattens abzuwehren. Trotzdem hielt ich der Druckwelle seiner Aura kaum Stand. Ich hatte einen Fehler gemacht, indem ich menschlich gehandelt hatte, anstatt sofort auf Schattenschwingenart zu kämpfen.
»Ich gebe zu, ich hatte mir mehr von dir erwartet. Schließlich ist es dir gelungen, meinen neuen Körper aus dem Vernichteten Gebiet zu befreien.« Der Hohn stand im krassen Gegensatz zu seiner angenehmen Stimme.
Mühsam richtete ich mich auf und stellte panisch fest, dass ich ihn nicht richtig fixieren konnte. War er nun weit entfernt am anderen Ende des Eilands oder stand er vor mir? Seine Aura war wie ein Zerrspiegel.
»Schon komisch, dass du mit solchen Tricks arbeiten musst, wenn ich dir angeblich nicht gewachsen bin«, dachte ich laut nach.
»Welche Tricks?«
Der Schatten stand plötzlich so dicht vor mir, dass ich die feinen Grübchen neben seinen zum Lächeln hochgezogenen Mundwinkeln erkennen konnte. Und mehr als das: Ich konnte sehen, wie er seine Kraft sammelte. Dieses Mal sollte ich der Druckwelle nicht standhalten können, aber es war ein anderer Gedanke, der mich handeln ließ: Die schneidende Aura würde Mila erreichen.
Ohne zu zögern, ließ ich meine Aura aufstrahlen. Als würde die Schleuse in meinem Inneren pulverisiert, drang die Energie aus mir hervor. Jedoch setzte ich sie nicht dazu ein, um den Angriff des Schattens abzuwehren. Ich nahm sie und formte einen Strahl aus ihr, den ich auf ihn schleuderte. Kurz blitzte es überrascht in seinen Augen auf, dann wurde er mit einem Schrei auf den Lippen zurückgeworfen.
Die Quelle in mir wurde von einem regelrechten Erdbeben verschüttet, von einer Stärke, dass ich sie nicht einmal mehr ansatzweise spüren konnte. Mir war klar gewesen, dass man für diese Art Waffe einen hohen Preis zahlen musste, aber trotzdem überkam mich eine tiefe Trauer. Ich hatte die gerade erst in mir entdeckte Quelle verloren, indem ich ihr zu viel Kraft geraubt hatte, um eine andere Schattenschwinge zu richten.
Doch es war die richtige Entscheidung gewesen. In meinem künftigen Leben würde ich die Quelle nicht mehr brauchen.
Schwerfällig richtete ich mich auf und stellte mich über den am Boden liegenden Schatten. Der Strahl, in dem ein Großteil meiner Kraft steckte, ragte aus seiner Brust und drang langsam immer weiter in ihn ein. Ich musste mich beherrschen, damit ich nicht nach ihm griff und mir zurückholte, war mir gehörte. Der Schatten lag ausgestreckt auf dem Rücken, von einem Beben geschüttelt. Sein Gesicht war von Schmerzen verzerrt, sein Mund formte unablässig Worte, die unausgesprochen verhallten, während seine Aura um ihn herum zu Splittern zerfiel. Die schlanken Hände, die nicht ihm, sondern Nikolai gehörten, waren um den Strahl in seiner Brust gewickelt, obwohl sie an dessen Hitze verbrannten. Es gab nichts, was der Schatten gegen die Waffe ausrichten konnte, die immer tiefer in ihn eindrang.
»Du hättest dir besser überlegen sollen, ob deine eigenen Waffen nicht auch gegen dich verwendet werden könnten. Wenn du mir nicht so eindrucksvoll an Shirin vorgeführt hättest, wie man eine solche Waffe aus seiner Aura formt, dann wäre ich vielleicht nie dahintergekommen.« Huschte da etwa ein Lächeln über seine Züge oder bildete ich mir das ein? Ich wischte den Eindruck beiseite und sah mich um. »Ein guter Platz, um zu sterben. Oder sollte ich besser sagen: um ein echter Schatten zu werden, den die Sonne endgültig verbrennt?«
Ich erwartete keine Antwort. Der Strahl war bereits zu weit vorgedrungen. Nicht mehr lange, dann würde er sein Werk vollendet haben. Im Gegensatz zu Shirin würde zu ihm nämlich niemand kommen, um die Waffe zu ziehen, bevor sie ihn endgültig vernichtete. Nikolais Körper sah aus, als würde er von innen heraus brennen. Sogar die längliche Wunde über seinem Rippenbogen war mit goldenem Licht gefüllt, während sein schönes Gesicht mittlerweile in reglose Starre gefallen war.
Ohne eine Spur von Mitgefühl für den Sterbenden wendete ich mich ab und ging zu der schlafenden Mila hinüber.
»Sie träumt. Ich könnte sie mir jetzt nehmen«, hatte der Schatten gesagt. Auf diese Weise war er schon einmal seinem Schicksal entgangen. Indem er durch die Träume der Menschen entkommen war. Die Chance würde er jetzt nicht bekommen. Prüfend studierte ich Milas Gesicht, konnte aber keine Spur von Silber an ihr entdecken, nur sie selbst. Als besäße sie kein Gewicht, nahm ich sie in meine Arme und stieß mich vom Eiland ab. Ich warf einen letzten Blick zurück, doch dort war nur noch eine von goldenen Flammen umgebene Silhouette zu erkennen. Bald würde auch die ausgelöscht sein.