19
Nachspiel
Die Ruine lag verlassen da.
Noch vor Kurzem hatte ich sie ausgewählt, weil sie einst von Menschen in der Sphäre erbaut worden war und ich für Mila ein Zuhause schaffen wollte. Ich hatte mich außerdem für diesen Ort entschieden, weil ich mich ihm verbunden fühlte – sowohl in der Sphäre als auch in der Menschenwelt. Ein Platz auf den Klippen, die zum freien Flug einluden, und das Lied des Meeres stets um mich. So hatte ich die Ruine gesehen. Das hatte sich grundlegend geändert. In der Zwischenzeit war die Ruine zum Schauplatz verschiedenster Geschehnisse geworden. Sie gehörte nicht mehr mir und Mila, die vermutlich jedes Mal eine Gänsehaut bekam, wenn sie an den halb eingestürzten Turm dachte. Dabei hatte sie zu Beginn, als ihr die Sphäre noch als fremder, aber doch annehmbarer Ort erschienen war, sogar Kletterrosen neben seiner Eingangstür pflanzen wollen. Jetzt war es der Platz, an dem die Schattenschwingen ihre Versammlungen abhielten.
Das Gras auf dem Vorplatz war niedergedrückt von der letzten Versammlung, die ich wieder einmal verpasst hatte. Nicht dass ich befürchtete, mir könnte allzu viel entgangen sein. Während der Rat sich selbst zerfleischte, passierten die entscheidenden Dinge schließlich woanders. Als ich eben in die Sphäre eingetreten war, war ich sofort von der Aufforderung begrüßt worden, mich umgehend mit einem der Älteren in Kontakt zu setzen. Einen rumkommandieren, das war auch das Einzige, was sie hinbekamen. Genervt hatte ich die Aufforderung unbeantwortet verklingen lassen. Ich hatte wirklich andere Sorgen.
»Das war nicht angemessen«, teilte mir ein aufgebrachter Nikolai mit, als ich ihn unsanft vor der Ruine absetzte.
»Sehe ich genauso. Du hast dir und mir mit dieser Nummer eine Menge Ärger eingehandelt.« Ich musste mich zwingen, ihn loszulassen und sofort einen Schritt zurückzusetzen. Zu stark war das Verlangen, ihn durchzuschütteln oder gar zu schlagen. Daran änderte auch nichts, dass er unentwegt seine Unschuld beteuerte.
»Du musst mir glauben. Ich wollte diesem Mädchen helfen und dann hat es sich plötzlich verkehrt. Bitte, ich kann es nicht erklären.«
Das Nein lag mir bereits auf der Zunge. Dieser verlogene Mistkerl widerte mich an. Er hatte mein Vertrauen missbraucht und schlimmer noch: Er hatte Lenas Leben vor meinen Augen gefährdet und damit den Beweis erbracht, dass das Miteinander von Schattenschwingen und Menschen unabsehbare Gefahren barg. Diese Erkenntnis würde an Mila nicht spurlos vorbeigehen und auch ich konnte nicht ignorieren, dass mein Wechseln Konsequenzen mit sich brachte. Was bei den Wellenbrechern geschehen war, lag in meiner Verantwortung.
Ich sah mir Nikolai an. Ein Häufchen Elend. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass er gerade eben noch durch seine Gabe Lenas Schock in ein so unerträgliches Maß gesteigert hatte, dass sie fast gestorben wäre.
»Bitte, ich begreife es selbst doch nicht.« Nikolai zitterte am ganzen Körper und schlang die Arme um sich, als wollte er sich wärmen. »Ich habe ihre Angst genommen und sie verkehrt. Es ist mir ein Rätsel, warum das plötzlich gekippt ist. Geh in meine Erinnerung, ich lasse dich ein. Du wirst sehen, dass ich die Wahrheit sage.«
Das Angebot überraschte mich. »Gut, aber ich warne dich. Falls das wieder einer deiner dreckigen Tricks ist …«
Auf Nikolais aschfahlem Gesicht zeichneten sich hektische Flecken ab. »Dreckige Tricks … so bin ich nicht. Auch wenn ich nach dem, was sich gerade abgespielt hat, überhaupt nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin. Ich wünschte mir, Kastor hätte mich nicht aus dem Vernichteten Gebiet herausgeholt. Zuerst hat es sich schön angefühlt, wieder ein Ich zu haben. Wahrzunehmen, zu fühlen, zu erleben … Aber das ist es nicht. Es ist schrecklich.«
Obwohl ich mich dagegen wehrte, verspürte ich Mitleid mit ihm. Behutsamer, als ich es eben noch für möglich gehalten hätte, drang ich in Nikolais Erinnerung ein. Dabei beschämte es mich fast, welchen Spielraum er mir zugestand. Er hatte jeglichen Selbstschutz aufgegeben. Mit seinen Augen sah ich Feuer am nächtlichen Strand der Sphäre. Sie übten eine verführerische Wärme aus. Unter den Flammenzungen flirrten feinste Aschepartikel und gaben das Versprechen, dass dieses Feuer eine Pforte geöffnet hatte. Wann bist du das letzte Mal in der Menschenwelt gewesen?, fragte eine lockende Stimme in Nikolais Kopf. Dort waren Liebe und Wärme zu finden, wie die, die er in Samuels Aura gefunden hatte. Das Menschenmädchen, das Samuel so viel gab … genau das wünschte er sich doch auch. Dazu brauchte er nur die Pforte zu durchschreiten. Ja, dachte Nikolai, es ist so einfach. Nur war es dann doch nicht so einfach gewesen, wie die Stimme behauptet hatte. Es dauerte zwar, bis Nikolai vor lauter Faszination für Mila den angerichteten Schaden wirklich begriffen hatte, aber dann war er mit der festen Absicht an Lena herangetreten, alles wiedergutzumachen.
Dieser Part von Nikolais Erinnerung verstörte mich zutiefst. Ich spürte Lenas Furcht mit jeder Faser meines Körpers. Ihre Panik, den Verstand verloren zu haben. Die Überzeugung, in einem schrecklichen Traum festzustecken. Und am schlimmsten: das Aufleben alter Kindheitsängste, von einer Welt, in der alles möglich war. Einer Welt, die sie vollkommen überforderte. Nur waren all diese Schrecken nicht länger in Lena, sondern in Nikolai, der ihr stattdessen seine Wärme schenkte. Das machte er wirklich wunderbar, er half ihr, wie er es versprochen hatte, aber dann … Es kehrte sich einfach um, genau wie er gesagt hatte. Ohne dass er auch nur einen Moment etwas Böses gewollt hätte. Als hätte ein anderer sich seines Ichs bemächtigt.
Ratlos zog ich mich aus Nikolais Erinnerung zurück. »Da ist eine Leerstelle in deiner Erinnerung«, stellte ich mit belegter Stimme fest. Auch wenn er es mir leicht gemacht hatte, seine Erinnerung zu betrachten, war es mir unangenehm.
»Ein Teil von mir scheint immer noch im Weißen Licht zu stecken. Anders kann ich mir das Ganze nicht erklären. Es war ein Fehler …« Was genau ein Fehler war, sagte Nikolai allerdings nicht.
Als wäre ihm sämtlicher Lebenswille abhandengekommen, setzte er sich auf den Boden und begann, Grashalme auszureißen. Seine Schwingen lagen um ihn wie ein schützender Mantel. Sie waren fast weiß, aber eben auch nur fast. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Augen, obwohl da keine Tränen waren. »Geh ruhig zurück in die Menschenwelt, ich bleibe hier sitzen.«
»Das werde ich auch tun, sobald Kastor eingetroffen ist.«
»Du hast Kastor gerufen? Weiß er von dem Vorfall?« Nikolais Augen, die sowohl in der Menschenwelt als auch in der Sphäre aschefarben waren, weiteten sich vor Schrecken.
»Es wäre bestimmt keine gute Idee, dich allein zu lassen. Du brauchst jemanden an deiner Seite.« Nicht bloß, damit du keinen weiteren Schaden anrichten kannst, sondern auch, um dich vor dir selbst zu beschützen, dachte ich. Denn Nikolai stand die Schwermut überdeutlich auf die Stirn geschrieben. Sein Hoch war nur von kurzer Dauer gewesen. Dieser Junge brauchte Hilfe, so viel stand fest. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob Kastor oder eine andere Schattenschwinge diese Art von Hilfe geben konnten. In diesem Moment wirkte Nikolai ebenso zerbrechlich, wie er schön war.
Während wir auf Kastor warteten, versuchte ich vergeblich, so etwas wie einen Schlachtplan zu entwickeln. Zu viele Gedanken blockierten sich gegenseitig bei ihrem Versuch, zu mir vorzudringen. Nur ein Gedanke war da, der alle anderen verdrängte: Wie würde Mila reagieren? Mir war klar, dass vieles von Lenas Zustand abhing. Ausgerechnet Lena. Körperlich war sie gerade noch einmal so davongekommen, aber wie würde sie mit dem Erlebten umgehen? Ranuken würde die Situation nicht heilen können, er war auf mentalem Gebiet ein Versager. Ich wollte so schnell wie möglich zurück und zusehen, wie ich das Ganze zum Guten wenden konnte. Falls sie mit dem Erlebnis gar nicht umzugehen wusste, musste sie den Abend notfalls vergessen. Aber dazu musste ich rasch zu ihr, denn je länger das Geschehen her war, desto mehr würde ich ihr von ihrer Erinnerung rauben müssen.
Gerade als ich vor Ungeduld mit den Zähnen zu knirschen begann, landete Kastor auf dem Vorplatz. Tadelnd blickte er Nikolai an, der nicht einmal den Kopf hob. Dann wandte Kastor sich mir zu und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Er war unter seiner dunklen Haut ganz blass. In seinen Augen lag eine Unruhe, die mich verunsicherte.
»Entspann dich, mein Freund. Nikolai hat zwar ordentlich Unheil angerichtet, aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht, wenn ich mich sofort auf den Rückweg mache und Lena helfe«, beruhigte ich ihn.
»Es geht nicht um Nikolai, obwohl ich kaum glauben kann, was er angestellt hat. Nach einer so langen Zeit des Schlafes im Weißen Licht einfach in die Menschenwelt zu wechseln und dann auch noch seine Gabe an einem verstörten Mädchen anzuwenden! Wenn ich ihn nicht gut genug kennen würde, um zu wissen, dass er nur das Beste wollte, würde ich an seinem Verstand zweifeln, und an seinem Herzen noch dazu. Einmal davon abgesehen, dass er mir versprochen hatte, draußen auf dem Eiland zu bleiben, bis ich seine Wiederkehr auf der nächsten Versammlung bekannt gemacht habe.«
Kastor nahm sich einen Moment, um Nikolai einen Blick zuzuwerfen, der ihn eigentlich hätte in Flammen aufgehen lassen müssen. Doch der Junge reagierte nicht, was meine Sorge um seinen Zustand noch vergrößerte. Wenn es nicht einmal Kastor gelang, zu ihm durchzudringen, was oder wer konnte Nikolai dann den Halt bieten, nach dem er sich sehnte?
»Du hörst einfach nicht auf mich«, sagte Kastor leise, offenbar verletzt durch die Teilnahmslosigkeit seines Schützlings. »Es ist dir gleichgültig, was ich sage, aber so war es ja schon immer.«
Ich hakte nach. »Wenn es nicht wegen Nikolai ist, warum bist du dann so aufgebracht?«
Die Hände zu Fäusten geballt, drehte Kastor sich mir zu. »Du hast den Ruf der Versammlung doch gehört, oder?«
Oh, da kam jemand wirklich in Fahrt. Nikolai mochte gegen das Feuer, das Kastor versprühte, resistent sein, aber wer konnte schon sagen, ob das auch für mich galt? Vorsichtshalber setzte ich einen Schritt zurück. »Gehört ja, aber nicht wirklich hingehört. Was ist denn los?«
»Das siehst du dir besser selber an.«
»Hallo? Die Bilder, die ich dir von Nikolais schief gegangener Hilfsaktion gesendet habe, sind schon angekommen, oder? Ich muss zu Mila, und zwar sofort.«
Kastors kräftige Finger zuckten. Er kämpfte sichtlich gegen das Verlangen an, mich für meine Sturheit durchzuschütteln. So aufgeputscht kannte ich ihn überhaupt nicht. »Samuel, es gibt Wichtigeres als ein paar verschreckte Menschen. Die Küste runter, wo die Wellen besonders heftig ans Ufer schlagen, ist etwas an Land gespült worden. Etwas, das wir eigentlich im Vernichteten Gebiet zurückgelassen haben. Allem Anschein nach hatte der Wächter keine Lust darauf, eine leblose Hülle zu verschlucken. Eine Menge Schattenschwingen sind dort bereits versammelt und es werden immer mehr. Du kannst jetzt nicht fortgehen! «
Mein Herz sprang mir an die Kehle.
»Schau, ich muss mich jetzt um Nikolai kümmern. Geh und sieh zu, dass du ihnen beweist, dass die Hülle nicht den vom Weißen Licht ausgelöschten Schatten enthält, der jeden Moment wieder zu sich kommen kann, sondern einen Leichnam. Wir müssen sie überzeugen, bevor sie panisch werden und nach einem Sündenbock suchen, ansonsten werden wir beide schwer dafür büßen müssen. Asami ist bereits vor Ort, du kannst ihn als Orientierungspunkt für deinen Flug benutzen«, schlug Kastor vor.
»Nicht nötig.« Meine Stimme dröhnte heiser. »Ich weiß, wo die Hülle angeschwemmt worden ist. Gib auf Nikolai Acht, er sollte nicht alleine sein. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob jemand etwas gegen seine Verzweiflung tun kann. Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück, Kastor.«
»Ich dir auch.« Doch Kastor beachtete mich schon gar nicht mehr. Er legte seine Hand auf Nikolais Scheitel, der in die Betrachtung seiner grasbefleckten Hände versunken war.