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Blutgruß

Unten bei den Klippen herrschte ein rauer Aufwind, der es mir schwer machte, meine Position zu halten. Ich konnte immer noch nicht richtig glauben, was Asami vorhatte. Ich verharrte, so gut es ging, vor ihm in der Luft, obwohl er bei jedem Schlag seiner Schwingen das Gesicht verzog, weil ihn die Bruchstellen anhaltend quälten.

»Jetzt mal im Klartext: in diesem unheimlichen Loch da wollen wir heute trainieren?« Mit dem Zeigefinger deutete ich auf den Höhleneingang, der nicht mehr als eine düstere Spalte im Gestein war. »Ich meine, einmal davon abgesehen, dass die Flut im Kommen ist und das Innere in einen wilden Wasserkessel verwandeln wird, ist es in einer Höhle auch dunkel und … wie soll ich sagen … ziemlich eng.«

Ich fing mir eins von Asamis arroganten Lächeln ein, die ich wirklich hasste. Er hielt sich ein Stück über mir in der Luft, sorgsam darauf bedacht, dass die hoch auffahrenden Wellenspitzen nicht seine nackten Füße erreichten. Unwillkürlich dachte ich daran, dass ich ihn nicht weit von hier durch den Meeresspiegel, der meine Pforte in die Menschenwelt war, gezwungen hatte. Wenn Asami beim Anblick des schwarzen aufgewühlten Wassers Unbehagen verspürte, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er war wirklich ein harter Hund.

»Es ist erstaunlich, über was du dir alles Sorgen machst, anstatt einfach in die Höhle hineinzufliegen. Du verschwendest zu viel Zeit mit Reden und Nachdenken, Samuel. Dabei liegt dir das Handeln um einiges mehr, besonders wenn du nicht deinem Kopf, sondern deinem Instinkt vertraust.«

»Vielen Dank für das Kompliment.«

Mit knirschenden Zähnen flog ich in den niedrigen Höhleneingang. So weit mein Blick reichte, war sie voll Wasser. Trotzdem setzte ich auf. Der Grund war mit grobem Kies bedeckt und das Wasser reichte mir bis an die Knie. Automatisch überprüfte ich den Sitz meiner Armschiene. Lorson hatte sie für mich repariert, nachdem Asami sie mit einem Dolch zerschnitten hatte – gemeinsam mit einem Stück meines Unterarms. Die Wunde war noch ganz frisch und die Stiche, mit denen Shirin sie genäht hatte, brannten. Trotzdem kam es mir so vor, als läge die Geschichte Jahre und nicht nur ein paar Tage zurück. Kein Wunder, dass ich mich manchmal fühlte, als sei ich im falschen Traum aufgewacht.

»Du bringst jetzt diese Iaido-Lektion hinter dich, und dann siehst du zu, dass du möglichst schnell bei Mila bist«, versuchte ich mich zu motivieren. Denn obwohl es auch mit Mila im Augenblick alles anderes als leicht war, gab sie mir doch Halt und die Gewissheit, genau zu wissen, wer ich war. Nur das Gefühl, wenn ich meine Schwingen öffnete, reichte da heran.

Eigentlich hatte ich gedacht, alle Höhlen hier in der Umgebung zu kennen. Wie die meisten Jugendlichen aus St. Martin war auch ich jeden Sommer durch das reißende Wasser, das sich an den Klippen brach und dadurch nur noch unberechenbarer wurde, in die Höhlen gelangt. Dabei war es stets um mehr als um eine Mutprobe gegangen. Diese dunklen Öffnungen im Fels, die immer nur für einige Stunden des Tages zugänglich waren (und selbst dann musste man aufpassen, dass einem das Wasser nicht plötzlich den Rückweg abschnitt), strahlten eine unheimliche Energie ab. In mir hatten sie stets das Verlangen geweckt, mich ihnen zu nähern. Dabei hatte mich ständig das Gefühl beschlichen, dass mich in der Tiefe der Höhle nichts Gutes erwarten würde. In St. Martin war diese Erwartung nicht erfüllt worden, dort war die Höhle bloß eine Höhle. Zweifelsohne ein gefährlicher Ort, den die Eltern gern zum Einsturz gebracht hätten, aber eben kein unheimlicher Ort.

Die Höhle, die in der Sphäre unterhalb der Klippe lag, war ein ganz anderes Kaliber.

Ihre düstere Energie speiste sich nicht nur aus unbewussten und ganz realen Ängsten. Nein, sämtliche Sinne verrieten mir, dass es hier einen echten Quell für die unheimliche Atmosphäre gab. War die Höhle in St. Martin nicht mehr als ein gut drei Meter tiefer Raum, geschaffen vom ständig am Fels nagenden Wellengang, tat sich nun ein in die Klippe hineinführender Gang auf.

»Super Übungsplatz. Wenn ich hier versuche, das Schwert über meinen Kopf zu führen, hole ich ein Stück der Decke runter.«

»Keine Sorge.« Asami schwebte neben mir, damit seine Beine und die Spitzen seiner Schwingen nicht nass wurden. Zielstrebig hielt er auf den Gang zu, der in der Dunkelheit verschwand. »Die Höhle wird weiter und höher. Sie wird dir gefallen. Und falls nicht, so ist es für dich zumindest eine interessante Lektion.«

Widerwillig rieb ich meine Oberarme, die sich ungewöhnlich kalt anfühlten. Als würde die Höhle mir Energie entziehen. Ja, genauso fühlte es sich an, als lauere etwas Böses in der Finsternis.

»Eine interessante Lektion also. Na, das klingt doch verlockend«, sagte ich in den Gang hinein, in dem Asami bereits nicht mehr zu sehen war.

»Handeln, nicht reden«, dröhnte es zurück.

Mit Mühe schluckte ich meinen Stolz hinunter und folgte meinem Lehrer.

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»Die Entwicklung, die du bei unserer letzten Übungseinheit an den Tag gelegt hast, war wirklich beeindruckend. Die Kraftquelle, die du in dir entdeckt hast, finden nur wenige von uns Schattenschwingen. Für die meisten bleibt sie für immer unerreichbar. Die Kunst des Schwertkampfs ist es, einen guten Weg zu finden, um diese Quelle weiter freizulegen und ihre Kraft bewusst zu nutzen. Doch es braucht ein Schlüsselerlebnis, um diese nächste Stufe zu erreichen. Darum sind wir heute hier. Hoffen wir, dass du dich der Sache gewachsen zeigst. Ein Scheitern wäre schmerzvoll.«

Ja, so war Asami, immer aufmunternd und einfühlsam.

Er war mitten im Gang stehen geblieben, der nach einer Steigung plötzlich bergab führte. Nun hörte man nur noch schwach das Lärmen des Meeres, das mit der kommenden Flut allerdings schon bald wieder zunehmen würde. Die unangenehme Kühle hingegen hatte kräftig zugenommen. Obwohl Asamis Aura schwärzlich gefärbt war, ließ sie ihn doch erleuchten. Wie er da trotz der ihm innewohnenden Finsternis glänzte, ähnelte er einem schwarzen Diamanten mit einem Lichtquell im Inneren. Davon abgesehen, dass er genau so unnachgiebig war wie ein Diamant.

»Du hast etwas von einem müden Glühwürmchen, dem die Farbe ausgegangen ist.« Die kleine Unhöflichkeit kam mir über die Lippen, bevor ich mich daran erinnerte, dass es mein Lehrer war, der vor mir stand, und dem ich Respekt schuldete.

Glücklicherweise fasste Asami meine Bemerkung nicht so streng auf. »Kunstvolle Beschreibung. Warum nutzt du deine hell strahlende Aura nicht, um uns den Weg zu leuchten?«

Weil ich dabei ein ungutes Gefühl habe, hätte ich gern erwidert. Da ich die Grenzen seiner Toleranz allerdings schon überstrapaziert hatte, ließ ich meine Aura aufleuchten – und meine Vorahnung verstärkte sich. Es war, als würden unsichtbare Krallen Stücke aus meinem Strahlenkranz reißen und die Ränder ausfransen.

Missmutig blickte ich den Gang hinab, der sich zu meiner Überraschung zu einer Halle ausweitete, die aussah, als habe sie ein Tornado erschaffen: Wände und Decke waren komplett unregelmäßig, als habe jemand mit Riesenpranken Felsbrocken aus der Wand gerissen und sie umhergeschleudert, wobei sie sich entweder schräg in den Boden gebohrt hatten oder in tausend Splitter zersprungen waren. Die Flut konnte dieses Chaos unmöglich allein angerichtet haben, ganz gleich, mit welchem Druck sie hineinschoss.

»Nun, das ist doch ein ordentlicher Übungsraum, wenn du mich fragst«, erklärte Asami mit unerklärlich guter Laune. »Groß genug, um die Klinge in jede beliebige Himmelsrichtung zu schwingen. Geh in die Mitte der Halle, wir haben schon genug Zeit vertrödelt.«

Voller Widerwillen folgte ich seiner Anweisung, bis ich bemerkte, dass Asami mir nicht folgte. »Und was machst du währenddessen?«

»Zusehen, wie du dich bewährst. Und dir notfalls zu Hilfe eilen. Leg die Hände an den Griff des Katanas, wie es sich gehört. Sonst bekommst du die Klinge am Ende nicht rechtzeitig heraus.«

Unterdessen hatte ich die Mitte der Halle erreicht, die es von der Größe her locker mit dem Bauch einer Kirche aufnehmen konnte. Nur dass aus dem Boden einer Kirche keine mannshohen Felsen ragen, abgesehen von jeder Menge anderer Stolperfallen wie Spalten und rutschigem Kies. Ich verdoppelte das Leuchten meiner Aura. Gleichzeitig nahm das Zerren und Ziehen an ihr zu. Etwas Unsichtbares hatte es auf mein Kraftfeld abgesehen, auch wenn es nur das miese Karma dieses Ortes sein mochte. Mittlerweile war es mir egal, ob ich mich wie ein guter Schüler benahm oder nicht. Ich erkannte keinen Sinn in der ganzen Aktion.

»Warum solltest du mir wohl zu Hilfe eilen müssen?«, rief ich Asami genervt zu. »Die einzige Bedrohung hier unten besteht in der bevorstehenden Flut. Nur ist das für mich im Gegensatz zu dir kein Problem. Ich mache mich nämlich einfach durch den Wasserspiegel aus dem Staub. Habe heute noch was in der Menschenwelt vor.«

In der Sekunde, in der die Worte draußen waren, begriff ich meine Dummheit: Diese Halle gab es in der Menschenwelt gar nicht. Wenn ich durch die Pforte schreiten würde, käme ich im Herzen einer Felswand heraus. Zeit für die Rückkehr, beschloss ich. Denn obwohl es kein Problem für mich darstellte, mich unter Wasser aufzuhalten, weil ich den Sauerstoff nicht länger im gleichen Ausmaß wie ein Mensch benötigte, gefiel mir die Vorstellung nicht im Geringsten, mich durch einströmendes Wasser zu kämpfen, das mich mitriss und mich herumwirbelte, bis es um meinen Orientierungssinn geschehen war. Falls ich mir nicht gleich den Schädel an der nächsten Felswand spaltete, der im Gegensatz zu den Schwingen nicht so schnell wieder in Ordnung kommen würde.

Ich wollte Asami gerade mitteilen, dass es besser war, unsere Lektion umgehend wieder an den Strand zu verlegen, als ich begriff, auf welche Weise er mich dazu bringen wollte, die Kraftquelle in meinem Inneren bewusst einzusetzen.

»Dreck«, keuchte ich.

Eine riesige, gebeugte Gestalt kroch zwischen den Felssplittern auf mich zu. Schwerfällig, was jedoch nichts daran änderte, dass sie nur noch einige Schritte von mir entfernt war. Die Gestalt war nicht mehr als eine dunkle Masse, gezwängt in einen menschlichen Umriss. Jedenfalls erinnerte sie entfernt an einen Menschen, wobei alles etwas zu grob und zu groß geraten schien. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, obwohl meine Aura jeden Riss im Felsen ausleuchtete. Einzig die Augenhöhlen stachen aus dem dunklen Einerlei hervor. Sie wirkten wie ausgebrannt, als habe jemand mit einem glühenden Schürhaken zwei Löcher in einen Schatten gebrannt, durch die ein blasses Geisterlicht leuchtete. Eine zerstörte Pforte, begriff ich instinktiv. Auch wenn nichts mehr daran erinnerte, so war ich mir sicher, es mit einer ehemaligen Schattenschwinge zu tun zu haben. Quasi das perfekte Gegenstück zu den anmutigen Lichtwandlern. Nun, zumindest wusste ich nun Bescheid, wer hier unten derart gewütet hatte.

»Samuel, zieh endlich das Schwert«, dirigierte Asami von seiner oberen Warte aus. »Der Lichtfresser hat sich schon randvollgestopft mit den Strahlen deiner Aura, während du mal wieder viel zu viel Zeit mit Nachdenken verschwendet hast. Achtung, er greift an!«

Ja, danke, das sah ich auch.

Wie eine dunkle Mauer richtete sich der Lichtfresser vor mir auf. Fluchend riss ich das Katana aus seiner Scheide, ohne einen einzigen Gedanken an die eingeübten Katas zu verschwenden. Alles, was ich wollte, war, die Klinge in diesem Ungetüm, das mich um gut und gern zwei Kopf überragte, zu versenken und mich dann schleunigst aus dem Staub zu machen.

Die Klinge fuhr heraus, beschrieb einen Bogen … und wurde von einem Arm des Ungetüms abgeblockt. Der Aufprall zog sich bis in meine Schulter, doch mir blieb keine Zeit, auf die einsetzenden Schmerzen zu achten. Schon schwang der Lichtfresser seinen stark an eine Keule erinnernden Arm nach mir, den ich im letzten Moment mit dem Schwert abblockte. Dabei ging ich unter der Kraft des Zusammenstoßes unfreiwillig in die Knie. Ich stieß ein lautes Stöhnen aus, da mir bei dem Aufprall beinahe das Handgelenk weggeknickt war. Es war das erste Mal gewesen, dass mein Schwert auf einen Widerstand gestoßen war. Wenn ich das hier lebend überstehen wollte, musste ich mich konzentrieren, verdammt! Im Arm des Lichtfressers war eine gut sichtbare Kerbe entstanden, der ein heller Strahl entwich. Dann hatte sich der Schnitt auch schon wieder geschlossen.

»Die Breitseite des Katanas ist nicht halb so effektiv wie die Schneide«, dozierte Asami ungerührt.

»Dies ist ein Übungsschwert, die verdammte Schneide ist nicht geschliffen! Wie kannst du mich damit in den Kampf schicken?«

»Was beschwerst du dich, du wolltest doch unbedingt kämpfen. Nur zu, der Lichtfresser ist ein unermüdlicher Gegner.«

»Gegner? Das ist ein Monster!«

Ich hätte noch viel mehr gebrüllt, wenn ich nicht schleunigst hätte zur Seite springen müssen, weil der Lichtfresser mit voller Wucht nach mir langte. Stolpernd fand ich mein Gleichgewicht wieder und brachte die Klinge gerade rechtzeitig in Position, um weitere Angriffe abzublocken. Die Kreatur vor mir war schwerfällig, aber erschreckend stark, und vor allem schien sie nicht die geringste Furcht vor den Verletzungen zu empfinden, die ich ihr bei jedem Kontakt zufügte. Immer wieder leuchteten helle Flammen auf, um sogleich wieder zu erlöschen. Mehr brachten meine Abwehrbemühungen nicht zustande.

Obwohl meine Arme erschreckend schnell schwer wurden, wehrte ich einen weiteren Angriff nicht nur ab, sondern nutzte meinen Schwung, um den Lichtfresser zurückzudrängen. Dabei geriet ich verdächtig ins Schlingern. Meine Kraft reichte gegen diese massige schwarze Gestalt einfach nicht aus, deren nicht erkennbarem Mund ein hohles Dröhnen entwich, das mehr an ein leeres Gefäß als an ein menschliches Geschöpf erinnerte. Es kostete mich meine ganze Konzentration, mich auf einem der Felsbrocken zumindest für einen kurzen Moment in Sicherheit zu bringen. Wenigstens verfügte die Kreatur nicht über Schwingen, denn meine Schultern fühlten sich nach den Rückstößen zu taub zum Fliegen an. Bei einem Kampf in der Luft hätte ich gewiss schlecht ausgesehen.

Mit Mühe widerstand ich dem Bedürfnis, meine Aura aufflackern zu lassen, um den Lichtfresser in der Finsternis zu meinen Füßen ausfindig zu machen. Der hatte sich für meinen Geschmack ausreichend an meinem Licht satt gefressen. Stattdessen versuchte ich sein rhythmisches Dröhnen auszumachen, doch meine eigene keuchend gehende Atmung machte mir einen Strich durch die Rechnung. Kurzerhand hielt ich die Luft an. Anstelle des Lichtfressers hörte ich nur Asamis Stimme durch die Höhle hallen.

»Wenn ich mir das so anschaue, könnte ich fast meinen, dass du rein gar nichts durch meine Lektionen gelernt hast. Der Weg des Schwertes besteht im Angriff. Dieses Weggerenne bringt nichts. Stell dich deinem Gegner. Noch besser: besieg ihn.«

»Das sind ja wirklich wertvolle Tipps, aber könntest du jetzt wohl still sein? Sonst höre ich nicht, von wo er sich nähert.«

»Dann setz deine Aura ein.«

Das war der endgültige Beweis, dass Asami nicht wusste, wovon er sprach. »Logisch, damit der Kerl sich weiter vollfressen kann.«

»Samuel, du hast genug Licht in dir. Setz es endlich bewusst als Waffe ein, die Flut kommt nämlich gleich.«

Und tatsächlich ertönte in diesem Moment ein tiefes Grollen, noch in einiger Entfernung, aber das Wasser würde gewiss nicht allzu lange brauchen, um die tief liegende Hölle zu erreichen. Doch ich kam nicht dazu, mir weitere Sorgen zu machen. Den Felsbrocken, auf dem ich stand, durchfuhr ein Beben. Ein helles Feuer brannte auf, als wäre der Lichtfresser in zwei Teile zerbrochen. Das Licht, das mich streifte, fühlte sich unangenehm leblos an. Ein widerliches Gefühl. Dort, wo es meine Aura berührte, starben die Strahlen ab, bevor sie sich wieder erholten. Dann erlosch das Licht sogleich wieder, während der Felsen umkippte.

»Du solltest dem Lichtfresser keine Chance geben, deine gestohlene Kraft gegen dich einzusetzen, Samuel.«

Mir blieb nicht einmal die Zeit für eine Verwünschung. Ich spannte meine Schwingen auf und schwang mich zur Decke der Halle. Dabei brachte mich mein schmerzender Rücken fast um. Lange würde ich mich nicht in der Luft halten können. Unter mir erhob sich der Lichtfresser und streckte seinen Arm aus, der am Ende wie eine Fackel zu leuchten begann. Totes, kaltes Licht, in dessen Schein ich endlich die Züge der Gestalt ausmachen konnte. Dann wünschte ich mir auch schon, sie nie zu Gesicht bekommen zu haben. Es war eine zerschlagene Totenmaske, voller Sprünge und Dellen, die sich mir zeigte. Ein erstarrtes, schwarz angelaufenes Gesicht, das kaum noch Gemeinsamkeiten mit seinem menschlichen Ursprung hatte. Aufgepumpt mit einer Kraft, die ihm nicht zustand. Und von der es unbedingt mehr wollte. Um jeden Preis.

Das leere Dröhnen des Lichtfressers vermischte sich mit dem Geräusch der einbrechenden Flut. Ein rascher Blick auf Asami zeigte mir, dass seine Knie bereits von hereinschwappendem Wasser umspült wurden. Doch der Gang war zu eng, um die Schwingen auszubreiten.

»Gut«, sagte ich leise. Wie ich es gelernt hatte, steckte ich das Katana zurück in seine Scheide und setzte zur Landung an, wobei ich registrierte, dass der Lichtfresser an Größe hinzugewonnen hatte. Doch das kümmerte mich jetzt nicht länger. Kaum berührten meine Füße den Boden, setzte er zu einem Angriff an, den leuchtenden Arm gleich einer Klinge ausholend.

Ich ließ ihn herankommen. Näher. Nah genug, um noch das Katana ziehen zu können.

Obwohl das alles in Wirklichkeit nicht länger als einige schnelle Herzschläge dauern mochte, verlangsamte sich in meinem Kopf die Zeit. Ein Teil von mir kehrte an den morgendlichen Strand zurück und ich sah Asami neben mir stehen.

»Die Kata Shato beinhaltet drei Schnitte und richtet sich gegen einen Gegner, der mit über dem Kopf erhobenem Schwert direkt auf dich zustürmt«, erscholl seine Stimme gleich einem fernen Echo.

Verstanden.

Während ich einen Schritt nach vorn machte, zog ich bereits das Schwert, zielte mit dem Ende des Griffs zwischen die leblos leuchtenden Augenhöhlen und traf die Schläfe des Lichtfressers, was ihn erst einmal stoppte.

Unvermittelt öffnete sich die Quelle in meinem Inneren und durchflutete mich mit einer sanften Welle. Schmerzen und Kraftlosigkeit waren vergessen, aber auch der Schock, der mich bislang gelähmt hatte. Ohne Zögern machte ich mir die Schwerfälligkeit meines Gegners zunutze, hob das Schwert über den Kopf und zog die Klinge schräg nach unten. Dieses Mal war ich auf den Widerstand vorbereitet, als ich dem Lichtfresser von der Schulter über die Brust einen Schnitt versetzte. Mein Hieb hinterließ eine Flammenspur, die in die Dunkelheit meines Gegners eindrang und sie daran hinderte, den Schnitt zu schließen. Blasses Licht schwappte hervor und zerfraß die dunkle Hülle, die eben noch unzerstörbar gewirkt hatte.

Gerade noch rechtzeitig begriff ich, dass der Koloss mir entgegenfiel. Rasch wich ich nach rechts aus und versetzte ihm noch einen Schnitt, wobei mir das Ganze mehr wie ein eleganter Tanz als wie eine tödliche Abfolge vorkam. Wieder schnitt die Klinge schräg, diesmal traf sie den Lichtfresser allerdings von der anderen Seite. Endlich brach er zusammen, den zur Waffe gewordenen Arm über dem Kopf erhoben. Doch nicht lange. Mit einem kräftigen Hieb schlug ich der Gestalt das Haupt ab. Mehr als der kurze, aber heftige Widerstand, den die Klinge erfuhr, schockte mich das aus dem Lichtfresser hervorbrechende Strahlen. Es dauerte nur einige Sekunden, dann war alles freigesetzt, was er mir gestohlen hatte. Sein Umriss zurrte zusammen, als würde er implodieren. Er wurde schwarz und schwärzer, bis er sich in der Finsternis der Halle verlor.

Erfüllt von einer Ruhe, die ich eben noch für unmöglich gehalten hatte, wollte ich das Schwert, auf dem ein lebloser Lichtschein blass schimmerte, zurückstecken.

»Nicht!«, sagte Asami, der auf mich zuhielt, während hinter ihm die Flut wie ein weiteres Monster grollte. »So ein beflecktes Schwert kann nicht einfach in die Scheide gesteckt werden.«

»Ich werde die Klinge später reinigen. Dafür ist jetzt keine Zeit.«

»Dafür ist immer Zeit.«

Mit seiner an Absolutheit grenzenden Überzeugungskraft nahm Asami neben mir Position. In einem seitlichen Bogen führte er das Katana wie zum Gruß an die Schläfe. Dann ließ er die Klinge niedersausen, wobei sie ihr Lied sang. Ich ahmte die Bewegung nach und sah zu, wie das leblose Licht einem Funkenregen gleich von meiner Klinge glitt und verlosch. Ein befriedigtes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht.

Asami sah nicht minder zufrieden aus. »Jetzt weißt du, warum die Klinge des Katanas eine Blutrinne besitzt. Das Zeugnis der Unterlegenheit unserer Gegner wird nicht einfach abgeschüttelt. Sie wird mittels des Großen Blutgrußes gereinigt. Jetzt steck sie weg, ansonsten badet sie gleich noch in Salzwasser.«

Mit einem mulmigen Gefühl blickte ich zu dem in der Dunkelheit liegenden Gang, in dem es bereits lautstark brodelte. Der Rückweg würde alles andere als ein Spaziergang werden. Aber der Gedanke verflüchtigte sich sogleich. Zu gut fühlten sich die neu gefundene Kraftquelle in mir und der soeben durch sie errungene Sieg an.