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Gekommen, um zu bleiben
Langsamer, als es eigentlich meinem Fahrstil entsprach, fuhr ich Rufus’ Wagen auf das Grundstück der Levanders und stellte ihn vor dem Garagentor ab. Den Schlüssel im Zündschloss herumzudrehen, fiel mir ausgesprochen schwer. Kaum dass der Motor erstarb, hätte ich ihn fast auch schon wieder gestartet, um mit Highspeed zurück auf die Straße zu setzen und mich aus dem Staub zu machen.
Es dämmerte bereits. Die ersten Laternen in St. Martin gingen an. Mittlerweile mussten Reza und Daniel von ihrem Hollandtrip zurückgekehrt sein, das verriet allein schon die veränderte Ausstrahlung des Hauses: Es war wieder ein Zuhause und kein Unterschlupf für Besucher aus anderen Welten. Da blieb mir nur zu hoffen, dass Kastor und Shirin sich rechtzeitig abgesetzt hatten. Andererseits würde ich neben den beiden markanten Schattenschwingen und einer klitschnassen, restlos erschöpften Mila abseits der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen, was diese Vorstellung ganz angenehm machte. Doch ich nahm nichts wahr, was auf die Anwesenheit von Kastor und Shirin hingewiesen hätte. Um mehr herauszufinden, hätte ich meine Aura benutzen müssen. Was ich auf keinen Fall vorhatte. Also musste ich mich mit dem zufriedengeben, was ich mit dem bloßen Auge erkannte.
Ich zwang meine Hände weg vom Zündschloss und umklammerte stattdessen das Lenkrad. Noch ein paar tiefe Atemzüge, dann würde ich mir Mila schnappen und mit ihr reingehen. Den Wechsel durch die Meeresoberfläche hatte sie glücklicherweise verschlafen. Nach dem, was sie erlebt hatte, würde sie vermutlich nie wieder auch nur den großen Zeh ins Meer tauchen. Musste sie ja auch nicht. Mit dieser Sache war ich durch.
Augenblicklich wollte ein Teil von mir protestieren, aber ich ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
Kritisch musterte ich Milas Gesicht: Unter ihrem dunklen Wimpernkranz schimmerten violette Schatten und auf ihrer aufgebissenen Unterlippe hatte sich Schorf gebildet. Sie sah erschöpft aus, aber dafür, dass sie fast ertrunken wäre, überraschend frisch. Ich hatte sie in die Decken eingehüllt, die noch von unserem Ausflug ans Meer im Kofferraum gelegen hatten, sodass sie trotz der nassen Unterwäsche, die ich ihr angelassen hatte, einigermaßen warm war. Gott sei Dank war es allem Anschein nach die richtige Entscheidung gewesen, sie nicht ins Krankenhaus zu bringen.
Nun musste ich eine weitere Entscheidung treffen: Trug ich sie klammheimlich ins Haus und ließ sie schlafend auf dem Sofa zurück, oder benutzte ich die Eingangstür?
Ich streckte die Hand aus, um Milas fein pulsierende Schläfe zu streicheln, hielt aber im letzten Augenblick inne. Hatte ich überhaupt das Recht dazu, sie zu berühren? Nicht nur wegen der Auszeit, die sie sich erbeten hatte, sondern auch nach dem, was gerade in der Sphäre geschehen war? Meine Welt hatte sie erneut beinahe das Leben gekostet. Ich konnte mir also keineswegs sicher sein, dass es ihr für einen Neuanfang ausreichen würde, wenn ich meinem Schattenschwingen-Dasein abschwor.
Davon darf ich es nicht abhängig machen, beschloss ich. Ich muss von mir aus auf sie zugehen. Ob sie mir entgegenkommen möchte, das werde ich ihr überlassen.
Schnell stieg ich aus, ging um den Ford herum und hob Mila vorsichtig heraus. Als sie sich mit einem Seufzer an mich schmiegte, überkam mich eine seltsame Mischung aus Glück und Panik. Alles, was ich liebte, das, was mir von meinem für einen kurzen Augenblick perfekt erscheinenden Leben geblieben war, hielt ich in den Armen, und gleich würde ich auch das aufgeben müssen.
Entschlossen schob ich die Empfindung fort und ging los. Ich bog gerade um die Hausecke, als ich fast in Frau Levander hineinrannte.
»Dachte ich mir doch, dass ich deinen Wagen gehört habe. Das ist ja echt eine miserable Begrüßung, mein Sohn: nur eine Ladung Staub und sonst niemand da«, sprudelte es aus Frau Levander heraus. Sie unterbrach sich auch dann nicht, als sie längst begriffen hatte, dass es nicht Rufus war, der vor ihr stand. Ihr Blick blieb an meinem Gesicht hängen. Die schlafende Mila hatte sie vor lauter Verblüffung noch gar nicht bemerkt.
»Hallo, Frau Levander. Lange nicht gesehen.«
»Ja, aber das ist keine Ausrede dafür, mich plötzlich wieder zu siezen, Herr Bristol.« Sie blinzelte hektisch, als ein Déjà-vu an ihre mentale Pforte klopfte, dort aber nicht auf die vermutete Erinnerung, sondern nur auf ein paar schemenhafte Bilder traf. Meine Änderungsaktion bei unserem letzten Treffen war wirklich gründlich gewesen. Schließlich entschied sie wohl, dass sie es geträumt haben musste, schon einmal ein ähnliches Gespräch mit mir geführt zu haben. Aber bevor sie ihrer Verwunderung, dass ich quicklebendig vor ihr stand, Ausdruck verlieh, sah sie das schmale Bündel Mensch in meinen Armen.
»Oh nein, Mila, mein Engel! Was ist denn passiert?«
Frau Levander umfasste etwas grob das Kinn ihrer Tochter, um ihr ins Gesicht zu sehen, woraufhin der schlafende Engel ein äußerst verstimmtes Knurren ausstieß. »Mensch, Mama. Lass mich schlafen, ich bin k. o.«, nuschelte sie mit ihrer vom Salzwasser rauen Stimme.
»Immer so muffelig, wenn’s ums Wachwerden geht.« Zu meiner Belustigung flüsterte Frau Levander. Offenbar hatte Milas Kommentar sie auf eine Weise beruhigt, wie es keine von mir hervorgebrachte Erklärung vermocht hätte. »Würdest du dann bitte die Freundlichkeit haben, mich aufzuklären, Sam?«
»Wir sind ins Wasser gefallen«, berichtete ich wahrheitsgetreu.
»Wie fällt man denn um diese Jahreszeit bitte schön ins Wasser?« Ich konnte Frau Levander ihre Überforderung ansehen. Das war wirklich alles etwas viel auf einen Schlag. »Ach, Sam. Deine Kleidung ist ja auch ganz nass. Dir muss elend kalt sein. Na los, komm ins Haus. Sonst brichst du unter der Last unserer Schlafmütze noch zusammen.«
»Mila ist nicht zu schwer für mich.«
»Das glaub ich dir unbenommen. Sollte keine Kritik an deiner Männlichkeit sein. Ganz bestimmt nicht. Sag mal, bist du in den letzten Monaten gewachsen? Du siehst so groß aus.«
»Tatsächlich?« Fast wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert, als wir in Richtung Eingang gingen. Denn ich hatte ernsthafte Probleme, Frau Levanders Gedankensprüngen zu folgen. Seit unserem letzten Treffen hatte ihr Redetempo jedenfalls keinen Deut eingebüßt. Auch jetzt plauderte sie fröhlich, wie schön es wäre, mich mal wieder zu sehen und so weiter und so fort. Kurz bevor ich vom Dauerbeschuss ihrer Freundlichkeit eingelullt wurde, traf mich beim Durchschreiten der Haustür eine mentale Nachricht von Kastor, bei der ich Mila so fest an mich drückte, dass sie aufstöhnte. Es war, als wäre ich in ein Netz gelaufen. So etwas bekam bestimmt nur Kastor hin.
Ich habe Shirin an einen sicheren Ort gebracht, sie wird es vermutlich überstehen. Hoffentlich. Lass mich wissen, was mit Nikolai und dem Schatten passiert ist, selbst wenn es das Letzte ist, was du als Schattenschwinge tust. Das schuldest du uns, Samuel.
Ja, das stimmte. Meine Freunde hatten es verdient, Bescheid zu wissen. Es brauchte nur noch dieses letzte Zeichen von mir, dann konnte die Sphäre getrost wieder in jene Starre verfallen, nach der sich viele ihrer Bewohner sosehr sehnten. Der Schatten, der sie bedroht hatte, war zusammen mit Nikolais Körper verglüht, es ging keine Gefahr mehr von ihm aus. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, holte ich die Erinnerung an den in Licht gehüllten Leib hervor und sendete dieses Bild aus. Dann verschloss ich mich. Falls eine Antwort kam, würde ich sie nicht hören.
Als ich wieder aufblickte, fand ich mich im Wohnzimmer wieder, wo Herr Levander mit einem Besen in der Hand stand. Offenbar hatte er der Ascheschicht den Kampf angesagt. Er begrüßte mich mit einem schlichten »Samuel«. Dabei klang er vollkommen tonlos, was jedoch nichts daran änderte, dass es wie ein besonders schlimmer Fluch rüberkam. Nun ja, besser als nichts.
»Daniel, nun leg endlich den Besen aus der Hand. Mila braucht ein warmes Bad. Ob du es glaubst oder nicht, unser Mädchen ist ins Wasser gefallen. Nimm sie Sam ab, bevor er sie nicht mehr halten kann. Nein, für Fragen ist jetzt keine Zeit, ansonsten holt sie sich noch eine Lungenentzündung.« Frau Levander hatte das Kommando übernommen, bevor ihr Mann auch nur mit der Wimper zucken konnte. Ich hatte ganz vergessen, wie sehr ich diese Frau mochte.
Nachdem ich die allmählich zu sich kommende Mila ihrem Vater übergeben hatte, der mit ihr in die obere Etage eilte, blieb Frau Levander am Treppenabsatz stehen. »Na los, komm schon mit. An unser Schlafzimmer grenzt ebenfalls ein Badezimmer an, das kannst du benutzen. Du brauchst doch auch dringend eine Ladung heißes Wasser, so geschlaucht, wie du aussiehst.«
»Das ist nicht nötig. Mir geht es gut«, bremste ich ihre Fürsorge aus. Dachte ich zumindest.
»Keine Diskussion, du tust, was ich dir sage. Mit Unterkühlung ist nicht zu scherzen.« Dass jemand so Freundliches einen solchen Durchsetzungswillen an den Tag legen konnte! Ich stand original stramm. »Daniel wird dir ein paar trockene Sachen bereitlegen, die ziehst du an und dann sehen wir weiter.«
Allein bei dieser Vorstellung lief es mir kalt den Rücken runter. Schließlich gehörten die nassen Klamotten, in denen ich drinsteckte, schon ihm. Was er hoffentlich nicht bemerken würde … Ich überlegte, ob ich mich mit einer weiteren Weigerung würde durchsetzen können, gestand mir dann aber ein, dass meine Chancen schlecht standen. Vermutlich würde diese Frau mich ohne große Diskussionen packen und eigenhändig unter den warmen Wasserstrahl verfrachten. »Gut, einverstanden«, lenkte ich ein.
Frau Levander wartete ab, bis ich zu ihr aufschloss. »Wo steckt eigentlich Rufus? Nie ist er da, wenn man seine Hilfe braucht. Dafür wird er dieses Staubfiasko im Wohnzimmer eigenhändig aufräumen, das schwöre ich.«

Ich hatte die Dusche bereits vor gut fünf Minuten abgestellt und mich längst abgetrocknet. Nun stand ich im Wasserdampf und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Auf der anderen Seite der Tür konnte ich Herrn Levander rumoren hören. Als er plötzlich an der Tür klopfte, fuhr ich mit einem unterdrückten Fluch zusammen.
»Samuel, brauchst du noch lange? Ich habe ein paar Sachen für dich rausgelegt.«
Ja, toll. Dann tu sie doch einfach aufs Bett und geh raus, dachte ich gereizt.
»Ist alles okay bei dir?«
Klar doch – einmal davon abgesehen, dass ich vor nichts auf der Welt einen solchen Heidenrespekt hatte wie vor Milas Vater! Ich konnte es gar nicht erwarten, ihm unter die Augen zu treten. So von Mann zu Mann, damit er mir endlich klarmachen konnte, dass ich definitiv niemals wieder näher als auf hundert Meter an Mila herantreten würde. Und dann auch nur, wenn ich keinen großen Wert auf mein Leben legte. Wie leicht wäre es jetzt, ihm in guter, alter Schattenschwingen-Manier eine Erklärung für meine Wiederkehr einzuflüstern und hinterherzuschieben, dass er mich darüber hinaus unglaublich nett fand und sich keinen besseren Freund für seine Tochter vorstellen konnte als mich. Den Unruhestifter, der monatelang verschollen war und damit seine beiden Kinder unglücklich gemacht hatte. Den Kerl, der nicht einmal eine Idee hatte, womit er sich fortan über Wasser halten sollte, in einer Stadt, deren Bewohner ihn von morgens bis abends anstieren würden wie ein exotisches Tier.
»Und wenn schon«, erklärte ich meinem Spiegelbild. Dann schlang ich das Handtuch fest um meine Hüften und öffnete die Tür.
»Alles bestens bei mir«, sagte ich, als ich ins Zimmer trat. Zu meiner Überraschung fand ich mich auf Augenhöhe mit Daniel Levander wieder. Und zwar wortwörtlich. Ich musste in den letzten Monaten tatsächlich noch ein Stück gewachsen sein. »Wie sieht es bei Mila aus? Geht es ihr gut?«
Herr Levander nickte. »Zuerst hat sie sich furchtbar aufgeregt, als sie zu sich gekommen ist und du nicht da warst. Aber nachdem wir ihr versichert haben, dass du gerade ebenfalls ein Aufwärmprogramm absolvierst, hat sie sich beruhigt. Sie ist sehr erschöpft und wäre eben im warmen Wasser fast wieder eingenickt. Sobald Mila trocken ist, wird Reza sie bestimmt ins Bett stecken, ob sie will oder nicht. Was habt ihr nur angestellt? Du siehst nämlich keinen Deut besser aus als sie. Vollkommen mitgenommen und ausgelaugt. Nur mit dem Unterschied, dass du noch einige üble Blutergüsse abbekommen hast«, fügte er gnadenlos hinzu.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wir hätten wohl beide gut auf dieses Bad im Meer verzichten können.«
Zuerst sah es so aus, als würde Herr Levander sich mit meiner ausweichenden Antwort nicht zufrieden geben, aber dann siegte wohl sein Mitleid. Mit der Hand deutete er auf die Kleidung, die er auf dem Bett bereitgelegt hatte. Nicht ohne mich zuvor noch einmal gründlich zu mustern.
»Vermutlich sind die Hosen zu weit, also nimm die Trainingshose, bei der ist es egal. Die Oberteile dürften kein Problem sein, wenn ich dich so ansehe. Deine roten Turnschuhe habe ich übrigens in den Trockner gesteckt. Könnte sein, dass sie endgültig auseinanderfallen, die sind ja bereits ordentlich zerfleddert. Aber ich dachte mir, das Risiko gehen wir ein, schließlich willst du ja wohl kaum barfuß herumlaufen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Meine Barfuß-Zeiten sind endgültig vorbei.«
»Gut das zu hören.«
Während ich nach den Hosen griff, ging Herr Levander zum Fenster hinüber und blickte hinaus. Offenbar war er nicht gewillt, mich allein zu lassen, während ich mich anzog. Dabei hatte ich überhaupt nicht vor, mich klammheimlich aus dem Staub zu machen. Ich war gekommen, um zu bleiben. Bei Mila, falls sie es wollte. Und zu Mila gehörten auch ihre Eltern, ob mir das nun schmeckte oder nicht.
Hastig schlüpfte ich in die Anziehsachen. Als ich fertig war, stellte ich mich neben Herrn Levander. Dabei untersagte ich es mir, auf den Informationsfluss zu achten, den mir meine Schattenschwingen-Sinne zuspielten. Ich würde künftig lernen müssen, ohne sie durchs Leben zu kommen. Je eher ich damit anfing, umso besser.
Zu meiner Überraschung hatte Herr Levander die Arme zwar vor der Brust verschränkt, aber seine Miene sah alles andere als wütend aus. Eher nachdenklich und einen Tick überfordert.
»Ich bin sehr froh darüber, dass du nicht tot bist.«
Das kam so unerwartet, dass ich mich erst einmal kerzengerade aufrichtete, als habe mich einer gepiekst. »Es tut mir leid, dass Mila und Rufus unter meinem Verschwinden gelitten haben. Und Sie mit ihnen. Aber Sie müssen mir glauben, dass es nicht anders ging. Ich hatte keine Wahl.«
»Der Sturz von der Klippe … Es ist ein Wunder, dass du ihn überlebt hast, Samuel. Du wärst ein Narr gewesen, wenn du die Chance auf ein neues Leben nicht genutzt hättest, nach alldem, was dein Vater dir angetan hat. Reza und mir – ich denke, ich kann ruhig für uns beide sprechen – ist es gleichgültig, was seitdem geschehen ist. Dass du mit dem Leben davongekommen bist, darauf kommt es an. Nun ja, als Milas Vater muss ich wohl anhängen: Ich bin auch froh darüber, dass du zurückgekehrt bist. Zu ihr. Lass mich raten. Es war an ihrem sechzehnten Geburtstag, richtig?«
Vor Verblüffung fuhren meine Augenbrauen in die Höhe. »Woher wissen Sie das?«
Der Blick, mit dem Herr Levander mich maß, ging so tief, dass ich mich fast abgewendet hätte. »Weil sie seit diesem Tag wieder zu leben begonnen hat. Der letzte Sommer war mit Abstand der schrecklichste, den ich als Vater durchlebt habe. Mein Kind trauern zu sehen … Du weißt nicht, wie sehr Mila gelitten hat. Und die ganze Zeit konnten ihre Mutter und ich nichts für sie tun, ihr keine Linderung verschaffen. Du darfst mich nicht falsch verstehen, Samuel. Aber wenn ich einen Wunsch freihätte, dann würde ich mir wünschen, dass Mila dich niemals kennengelernt hat. Leider wird das nicht passieren, also bin dir dankbar dafür, dass du uns unser Kind zurückgegeben hast. Auch wenn wir dich allem Anschein nach obendrauf dazubekommen haben.« Obwohl seine Nussaugen, die Milas so verwirrend ähnlich sahen, weiterhin ernst blieben, breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. »Damit fällst du jetzt in meinen Verantwortungsbereich, mein Junge. Wie gefällt dir diese Vorstellung? «
Ich musste schlucken, so kräftig, dass mein Kehlkopf vermutlich aussah, als stecke ein Golfball darin fest. »Ich weiß Ihre Reaktion mehr zu schätzen, als Sie es für möglich halten. Aber sehen Sie, ich bin erwachsen und kann für mich selbst sorgen.«
Das Lächeln verschwand nicht, weshalb mich langsam der Verdacht beschlich, dass die wirklich wichtigen Entscheidungen in diesem Raum unabhängig von meinem Einverständnis getroffen wurden. »Bestimmt kannst du das. Da du jedoch meiner Tochter nahestehst, werde ich ein Auge darauf haben, dass du es auch halbwegs richtig machst. Als Erstes wirst du deine Schwester anrufen … Oder weiß sie schon Bescheid?«
Ich deutete ein Nein mit dem Kopf an.
»Gut, dann rufst du sie am besten gleich an. Danach werden wir zusammen der Polizeistation einen Besuch abstatten und erklären, dass es Jonas Bristol nicht gelungen ist, dich umzubringen. Morgen früh sollten wir mit dem Schuldirektor sprechen, wie es mit deinem verpassten Schulabschluss aussieht. Bis dahin habe ich mir auch schon genauer überlegt, welche anderen Schritte unternommen werden müssen. Ach ja, du kannst in der Zwischenzeit übrigens in unserem Gästezimmer wohnen.«
Das ging zu weit. Gleich würde Herr Levander ein paar Ketten zücken und mich festschmieden, damit ich ja bloß niemals wieder einen Fuß aus seinem Einflussbereich setze. »Das ist wirklich nett von Ihnen, aber ich habe bereits eine Bleibe. Ein Wohnwagen am Strand.«
»Aha, und wo genau da?«
»Bei der Surfschule«, gestand ich widerwillig ein. Anstatt der Ketten würde es nun wohl ein Sender werden. Ich würde das radioaktive gelbe Blinken auf Herrn Levanders Radar sein.
»Wie du meinst, aber jetzt lass uns aufbrechen. Wir haben heute Abend noch einiges zu erledigen. Du kannst mein Handy während der Autofahrt benutzen, um deiner Schwester die freudige Nachricht zu überbringen.«
»Klar, Sina wird sich ein Loch in den Bauch freuen, wenn sie meine Stimme hört.«
»Was hast du gesagt?«
»Ich würde Mila gern noch auf Wiedersehen sagen.«
Nun hielt Herr Levander zum ersten Mal in seiner Geschäftigkeit inne. Zögernd kratzte er sich hinter dem Ohr. »Mila war wirklich sehr erschöpft, wahrscheinlich ist sie kurz davor, wieder einzuschlafen.«
»Ich weiß. Deshalb werde ich sie auch nur kurz stören. Wenn ich jetzt einfach ohne ein Wort aufbreche, regt sie sich bestimmt auf. Und genau das wollen Sie doch bestimmt vermeiden.«
Ich formulierte es bewusst als Feststellung und nicht als Frage. Dann schob ich Herrn Levander sogar ein Stück beiseite, um nach der Türklinke zu greifen. Falls ihm weitere Einwände durch den Kopf gingen, so sprach er sie wenigstens nicht aus, sondern ließ mich gehen.

Als ich vor Milas Tür angekommen war, legte ich die Hand auf das Holz und betrachtete den Bernsteinring. Eigentlich müsste ich dich abnehmen und ins Meer werfen, dachte ich. Eine letzte Trennung von der Sphäre vollziehen. Aber ich konnte es nicht. Genau wie die Schwingen auf meinem Rücken oder die Zeichen unter meiner Haut war der Ring zu einem Teil von mir geworden. Er war weit mehr als ein Symbol meiner Verbundenheit mit Mila. Er machte uns zu einem. Als würde er auf sein Gegenstück auf der anderen Seite der Tür reagieren, leuchtete er in seinem warmen Goldschimmer auf und mir kam es vor, als spürte ich Milas Atem an meinem Ohr.
Mit Mühe konnte ich mich beherrschen, nicht ins Zimmer zu stürmen und sie an mich zu reißen, weil ich die Distanz zwischen uns nicht länger aushielt. Wenn ich eine Sache begriffen hatte, dann die, dass der Ring mir zwar verriet, dass Mila mich liebte. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie deshalb auch mit mir zusammen sein wollte.
Zu einer Kugel zusammengerollt, lag sie mit geschlossenen Augen unter ihrer Decke. Pingpong hockte am Fußende, von oben bis unten purer Katzenstolz. Ihrer Musterung standzuhalten, war noch schwieriger, als ein Unter-vier-Augen-Gespräch mit Herrn Levander zu überstehen. Mein Frauchen braucht jetzt kein Spielzeug in ihrem Bett, teilte mir ihre Katzenmiene mit. Ich blinzelte Pingpong zu, dann setzte ich mich behutsam auf den Rand und streichelte Mila über das Haar an den Schläfen, wo es sich besonders fein anfühlte. Nur ein paar Zentimeter dunkle Seide und trotzdem bekam ich nie genug davon, sie zu berühren.
Mit einem trägen Blinzeln hob Mila die Lider. »Na, du«, sagte sie, ohne sich zu rühren. Allein ihrer Stimme war schon anzuhören, wie viel Kraft sie überhaupt eine Reaktion kostete. »Hat Papa dir etwas angetan? Wenn ja, kann er sich auf was gefasst machen.«
Ich musste grinsen. So eine Kampfansage, obwohl sie kaum den Kopf anheben konnte. »Ganz im Gegenteil. Es hat nicht viel gefehlt, und er hätte mich zum Einzug in euer Haus überredet.«
Als Mila hochzuckte, bereute ich meine Antwort bereits wieder. »Du hast doch wohl nicht etwa Nein gesagt? Du gehst nicht wieder weg, versprich mir das!«
»Psst.« Ich legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. »Kein Grund zur Aufregung. Ich habe nicht im Geringsten vor wegzugehen. Das heißt: höchstens bis zum Wohnwagen, wo ich heute Nacht und – wenn Toni es erlaubt – auch die nächsten Nächte verbringen werde. Jetzt will dein Dad mich zum Polizeirevier begleiten. Das wird meine offizielle Wiedereintrittskarte nach St. Martin.«
»Ich komme mit«, sagte Mila entschlossen. Allerdings war sie so matt, dass ich sie leicht zurück in die Kissen drücken konnte.
»Du schläfst dich jetzt aus und keine Widerrede. Ansonsten streiche ich den Polizeibesuch und bleibe stattdessen bei dir am Bett sitzen. Was ist dir lieber?«
Das Schnauben sollte vermutlich aufgebracht klingen, dafür fehlte es ihm aber eindeutig an Energie. Ein paar Herzschläge lang funkelte sie mich noch an, dann schlossen sich ihre Lider. Ich beugte mich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Anstatt mich aufzurichten, verharrte ich in dieser Haltung. Zwischen uns baute sich eine Energie auf, die mich jeden klaren Gedanken verlieren ließ. Nur hier und jetzt wollte ich sein. In diesem Moment war alles richtig. Doch damit es so blieb, würde ich mich losreißen und mir einen Platz in der Menschenwelt schaffen müssen, während ich gleichzeitig meinen Platz in der Sphäre aufgab. Ich spürte mit absoluter Bestimmtheit, dass ein Leben mit Mila es wert war.
Erneut berührten meine Lippen ihre erwärmte Haut, dann stand ich auf und ging.