25

Weißes Papier

Sam

Es ist eine interessante Erfahrung, dass Zeit dazu imstande ist, rasend schnell vorbeizugehen und sich zugleich wie Kaugummi in die Länge zu ziehen.

Nachdem ich den Garten der Levanders verlassen hatte, ging der Tag dahin, ohne dass ich etwas davon mitbekam. Irgendwie war ich ans Meer gelangt, wo ich stehen blieb, während mein im diesigen Licht verhangen wirkender Schatten mich umkreiste. Dann war plötzlich der ganze Strand in Schatten gehüllt. Eben noch war es ein typischer Septembertag gewesen und im nächsten Moment bereits Nacht. Ich registrierte es, doch es kümmerte mich nicht. Denn dieser Ablauf von Zeit fand in der Welt da draußen statt, jener Welt, die mich seit dem Morgen nicht mehr interessierte. Dasselbe galt für die Welt in meinem Inneren, die sich in ein Gefängnis verwandelt hatte, in dem sich die Sekunden unendlich ausdehnten und mir die Gewissheit vermittelten, dass dieser Zustand niemals wieder vorbeigehen würde. Ich steckte fest, nichts bewegte sich mehr in mir. Da war nur ein dumpfer, betäubender Schmerz.

Seit ich Mila im Garten besucht und sie mich fortgeschickt hatte, gab es mich nicht mehr. Mir war das Existenzrecht in der Menschenwelt entzogen worden. Viel schlimmer noch, ich gehörte nirgendwo mehr hin. Ohne Mila gab es keinen Grund, in St. Martin zu bleiben. Zugleich machte es allerdings auch keinen Sinn, in die Sphäre zu wechseln. Egal, wo ich hinging, ich wäre nicht wirklich da.

Es grenzte an ein Wunder, dass es mir überhaupt gelungen war, den Garten zu verlassen. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, denn ob ich nun leblos dort saß oder woanders, lief auf dasselbe hinaus. Trotzdem war ein Motor in mir angesprungen und hatte meine Füße davon überzeugt, meinen Körper in Bewegung zu setzen, bis ich mich am Meer wiedergefunden hatte. Es hatte nicht viel gefehlt und ich wäre ins Wasser hineingelaufen und in der Sphäre wiederaufgetaucht. Nur war die Sphäre nun nicht länger meine Heimat, sondern der Ort, dem ich mein ganzes Elend zu verdanken hatte. Das Paradies hatte sich in einen Hort voller Albträume verwandelt. Darüber hätte ich hinwegsehen können, aber ich konnte nicht abtun, dass Mila mich fortgeschickt hatte, weil ich ein Teil dieser Welt war. So, wie sie mich nicht länger wollte, wollte ich die Sphäre mit einem Schlag nicht mehr. Ich entschied mich nicht nur dagegen, sie zu betreten, sondern beschloss außerdem, die Schwingen auf meinem Rücken zu vergessen. Ich würde in St. Martin bleiben, obwohl diese Stadt ohne Mila an meiner Seite ihre Bedeutung verloren hatte.

Dass mein Weg zu Lucas Wohnwagen geführt hatte, wurde mir erst klar, als Rufus vor mir auftauchte.

Ich bekam gerade so viel mit, dass er nicht recht wusste, wie er mit mir umgehen sollte, also machte ich es ihm einfach und ignorierte ihn. Zu mehr fehlte mir ohnehin die Kraft. Eine Weile redete er auf mich ein, was bei mir jedoch bloß als Rauschen ankam, und gelegentlich spürte ich seine Hand auf meiner Schulter, denn eine Umarmung traute er sich dann doch nicht zu. Mir war das mehr als recht. Wie ein Zombie folgte ich ihm ins Innere des Wohnwagens, froh über die halb aufgebaute Kronkorkenpyramide auf dem Tisch. Genau das Richtige, um für die nächsten Jahrhunderte etwas zum Anstieren zu haben. Unterdessen fuhrwerkte Rufus herum, gelegentlich sein Rauschen von sich gebend, lauter Worte, die mich nicht erreichten. Als ich das nächste Mal ausreichend Aufmerksamkeit aufbrachte, hing Rufus schlafend mit dem Oberkörper auf dem Tisch, die Kronkorken musste er irgendwann beiseite gewischt haben. Ich beobachtete ihn, ohne eine Regung zu verspüren. Zumindest klappte das eine Zeit lang, dann ertappte ich mich dabei, wie ich einen Vergleich von Rufus’ Lockenmähne zu Milas kurzem Schopf zog. Die gleiche Farbe: Schokoladenbraun.

Augenblicklich lief ich Gefahr, den Schockzustand zu überwinden. Das durfte auf keinen Fall passieren! Denn was folgen würde, wäre reiner Schmerz, ich spürte sein Echo bereits in mir. Eins wusste ich ganz genau: Ich würde den Schmerz nicht aushalten, nicht, solange am Ende keine Hoffnung bestand. Sie hatte »eine Weile« gesagt. Nur würde diese Weile so lange andauern, wie ich eine Schattenschwinge und Teil der Sphäre war – also für immer, selbst wenn ich es leugnete. Es gab keine Lösung für unser Problem, sobald sie mit mir zusammen war, bestand stets die Gefahr, dass die Sphäre Einfluss auf sie nahm. Schließlich war ein Teil der Sphäre in meinem Inneren. Vielleicht gelang es mir, diesen Teil zu verdecken, aber ich konnte ihn nicht auslöschen.

Wie ein Betrunkener stolperte ich vom schlafenden Rufus weg, schaffte es irgendwie auf das Bett und schaltete die Musikanlage an. Es war meine letzte Chance, alles zu verdrängen und zu vergessen. Leise Musik drang aus den Boxen, die ich rasch lauter stellte. Die Beschwerdegeräusche, die Rufus von sich gab, waren mir gleichgültig. Ich zog die Knie unters Kinn, eine Hand ausgesteckt, um auf Wiederholung zu drücken, sobald das Stück zu Ende ging. Ich hörte nicht, was für ein Lied es war, Hauptsache, die Endlosschlaufe riss nicht ab.

Immer und immer wieder. Gefangen in meiner persönlichen Hölle.

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»Kann ich nicht sagen, ob es was bringt, dass ihr zwei hier heute Morgen aufgeschlagen seid. Auf mich reagiert Sam jedenfalls nicht, der stellt sich einfach tot. Ist ja eigentlich auch nicht verkehrt, jedenfalls besser, als wenn er ein heulendes Nervenbündel wäre. Nach Milas tränenverschmiertem Gesicht bin ich nämlich erst einmal bedient. Liebeskummer, das ist nichts für mich. Für Sam offenbar auch nicht. Vermutlich igelt er sich einige Tage ein, um dann … tja, ich weiß auch nicht.« Ein frustriertes Schnaufen von Rufus erklang. »Mann, der macht einfach gar nix. Seit gestern Abend stellt der sich scheintot. Wachkoma. Ich glaub, der atmet nicht einmal ordentlich. Hockt bloß da und spielt in einer Endlosschleife diesen gottverdammten Song, von dem ich mittlerweile Pickel kriege. Scheiß Element of Crime. Ich habe sogar schon mit dem Gedanken gespielt, kurzerhand das Stromkabel zum Wohnwagen zu kappen. Aber dann hätte er vielleicht doch noch mit der Heulerei angefangen, und das ist so ziemlich das Letzte, worauf ich jetzt kann.«

Ich hörte Rufus draußen vor der Wohnwagentür nach Luft schnappen, um seine Litanei fortzusetzen, aber jemand fuhr ihm in die Parade.

»Also echt, darauf kann ich auch nicht«, erklärte Ranuken mit gequältem Unterton. »Ich mein: Das ist Sam, der heult doch nicht. Das hast du doch nur so dahergesagt, oder? Sonst ist das hier nichts für mich. Ich flenn nämlich immer gleich mit. Wenn es um kaputte Liebe geht, bin ich dicht am Wasser gebaut. Dieses Lied, das er da hört, ist übrigens total schön. Und so passend … Ich werde nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier

Aus reinem Selbstschutz wollte ich erneut alle Sinneseindrücke aussperren, aber dann erreichte mich eine andere vertraute Stimme, die mich sogar das Drücken der ReturnTaste vergessen ließ.

»Unterlass gefälligst das Singen, Ranuken. Die ganze Situation ist schon elend genug.«

Asami war in die Menschenwelt gewechselt.

»Wie nett.« Ranukens Stimme war pure Ironie. »Solltest du mir nicht wenigstens ein Stückchen dankbar dafür sein, dass ich dich hierher gebracht habe?«

»Die Bemerkung war freundlich gemeint. Möchtest du meine ehrliche Reaktion auf deine Gesangskünste erfahren? «

»Ho ho ho, immer schön locker bleiben. Diese Kiste könnt ihr beiden ja miteinander ausmachen, sobald ich die Kurve gekratzt habe.« Rufus klang leicht verunsichert. Vermutlich fühlte er sich in Asamis Gegenwart alles andere als wohl. Ähnlich erging es sicherlich kleinen Krabbelwesen, die ständig befürchten mussten, dass jemand Großes mal eben auf sie drauftrat … schon deshalb, weil er für Krabbeltiere nur Verachtung übrig hatte. Asami eben. Angesichts der Tatsache, dass Rufus Asami zuletzt beim Duell mit mir gesehen hatte, wunderte es mich allerdings, dass er nicht noch viel nervöser war. Respekt. »Sagt Sam, wenn er wieder ansprechbar ist, er soll sich das Ganze nicht so zu Herzen nehmen. Mila hat schlicht überreagiert. Jetzt gibt sie zwar die tragische Heldin, die bereit ist, ihre Liebe dem Wohl der Menschheit zu opfern, aber wahrscheinlich muss er ihr nur gegenüberstehen, damit sie sich ihm wieder an den Hals wirft. Dann ist die Auszeit, von der sie geredet hat, garantiert ruckzuck vorbei.«

Nun horchte ich endgültig auf, obwohl ich mir nicht allzu viele Hoffnungen machte.

»Ich weiß nicht«, bestätigte Ranuken auch sogleich mein Misstrauen. »Mila ist zwar völlig von der Rolle, aber sie hat sich bestimmt ziemlich genau überlegt, was sie da tut. Einfach bloß so ’ne Überreaktion auf Sams Kosten wäre grausam – und grausam ist Mila nicht. Außerdem war das, was Lena zugestoßen ist, ja auch ganz schön krass. Egal, ob Sam was dafürkann oder nicht. Shirin und ich werden bestimmt auch bald in Sippenhaft genommen und bekommen Hausverbot. Ist doch klar: keine Schattenschwingen, kein Ärger. Und das Schlimme daran ist, dass Mila damit recht hat. So was wie mit Nikolai darf nicht passieren.«

Ich presste meine Stirn gegen die Knie, bis der Druck in meinem Inneren einem physischen Schmerz wich. Nur ganz kurz, aber zumindest brachte es etwas Erleichterung. Ich war nicht gut darin, mir selbst Verletzungen zuzufügen, nur war ich noch schlechter darin, die Trennung von Mila zu akzeptieren. Die leere Stelle in mir schmerzte eindeutig mehr als alles andere.

Als ich wieder aufsah, streckte Ranuken gerade die Hand nach mir aus. Er hatte sich mit verquollenen Augen und Schniefnase aufs Bett gehockt und streichelte mir unbeholfen über den Kopf. Allein diese Geste sorgte dafür, dass ich nicht sogleich wieder abblockte. Fast überkam mich das Bedürfnis, ihn zu trösten. Der arme Kerl. Offenbar ging ihm all das sehr zu Herzen.

Asami hingegen stand neben dem Bett. Zu seinem Hakama trug er ein schwarzes Shirt mit einem Glitzerkometen auf der Brust. Das musste Ranuken von irgendeiner Wäscheleine geklaut haben. Humor hatte der kleine Bursche, das musste man ihm lassen. Mit dem Teil wäre Asami bestimmt sofort zur Discoqueen gekrönt worden. Fehlte nur noch eine Prise Glamour-Make-up.

Asamis Gesichtzüge verhärteten sich. »Sieht ganz so aus, als hätte dieser Junge eben übertrieben, was deinen Zustand betrifft. Er sagte, du wärst nicht ansprechbar. Stattdessen amüsierst du dich allem Anschein ganz gut, wenn ich dein Grinsen richtig interpretiere.«

»Es ist nur …« Ich brach ab. Denn ganz gleich, was ich hervorbringen würde, ich konnte nur verlieren. »Ich bin, ehrlich gesagt, ziemlich erstaunt, dich in der Menschenwelt zu sehen, Asami.«

Nach wie vor blickte er auf mich nieder. »Ich bin gezwungenermaßen hier. Zum zweiten Mal … und wieder deinetwegen.«

»Da habe ich wohl irgendwas verpasst. Warum denn meinetwegen? «

Ranuken, dem die Erleichterung darüber, mich in einem einigermaßen gefestigten Zustand anstatt kurz vor der Auflösung anzutreffen, ins Gesicht geschrieben stand, machte eine beschwichtigende Geste. »Nachdem Mila erzählt hat, was zwischen euch vorgefallen ist, hielten wir es für das Beste, dass Shirin bei Mila bleibt und ich Kastor hole, damit wir uns um dich kümmern. Leider bin ich in der Sphäre sofort Asami in die Arme gelaufen, der wie eine Klette an mir kleben geblieben ist. Kann ja nicht allein wechseln, unser Erster Wächter, wollte aber unbedingt zu dir. Wird langsam Zeit, dass er hinter das Geheimnis seiner schwarzen Augen kommt.« Ranuken zog eine Schnute.

»Seine Birke mag mich«, erklärte Asami achselzuckend.

»Tut meine Birke nicht! Und wenn du das noch einmal behauptest, dann kannst du allein zusehen, wie du wieder in die Sphäre gelangst. Ich werde dir nämlich ganz bestimmt nicht helfen, du Baumverführer.«

Das war eindeutig besser, als denselben Song immer wieder im Kreis zu hören. Meinetwegen konnten die beiden sich bis ans Ende der Zeit gegenseitig das Wasser abgraben. Zwar setzte mir nach wie vor ein dumpfes Ziehen in meiner Brust zu, aber dieser unverhoffte Besuch war wie das Auftauchen aus einem dunklen Traum. Auch wenn es nur für eine kurze Weile sein mochte, so genoss ich es doch, diese zwei grundverschiedenen Schattenschwingen bei mir zu haben. Als Ranuken ein Paket roter Lakritze hervorholte, hätte ich sogar fast einen Streifen genommen.

Offenbar hatte Ranuken sich unterdessen noch lange nicht ausreichend an Asami dafür gerächt, dass seine heiß geliebte Birke beim gemeinsamen Wechseln fremdgeflirtet hatte. »Wusstest du eigentlich, dass Asami ein Mädchenname ist?«, fragte er mich spitzbübisch.

»Du kennst dich mit japanischen Vornamen aus?« Ich war ernsthaft beeindruckt. Mit meinem Eintreten in die Sphäre hatten die Schattenschwingen alles über den Jetztzustand der Menschenwelt erfahren, soweit ich ihn denn kannte. Japanische Vornamen gehörten allerdings nicht zu meinem Wissensschatz.

»Klar kenn ich mich aus.« Ranukens Grinsen war so breit, wie seine Brust vor Stolz geschwollen war. »Ich habe mir Milas Manga-Sammlung angeschaut, und zwar auch die Hefte, die sie bei ihrer Unterwäsche versteckt. Da kann man echt was lernen und zwar nicht nur, dass Asami ein Mädchen ist.«

Weil Milas Name mein Auftauchen aus der Dunkelheit rasch wieder zu beenden drohte, hielt ich mich verzweifelt an der Flachserei fest. »Und, Asami: Bist du ein Mädchen? «

Asami seufzte mit der unnachahmlichen Mischung aus Resignation und Verachtung, die mir mehr als vertraut war. »Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich auf diesen Unfug antworte?«

Ranuken steckte sich eine rote Lakritzstange in den Mund. »Nun tu mal nicht so überheblich, meine Beste. Schließlich habe ich Beweise, schwarz auf weiß. Also, diese Mangas … Ihr Japaner seid echt ein Völkchen, Mannomann. « Seit Ranuken sicher sein konnte, dass Asami ihm nichts antat, solange er unter meinem Schutz stand, war er ganz schön übermütig geworden. Nichts an ihm verriet mehr, dass ihm vor ein paar Tagen noch allein der Gedanken an den Ersten Wächter den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte.

Immer noch würdigte Asami ihn keines Blickes, sondern sah mich abwartend an. Mittlerweile konnte ich seine Körperhaltung lesen, selbst wenn er sich nicht bewegte. Und wie er gerade dastand, verriet, dass er kurz vor der Explosion stand. Man brauchte kein Genie sein, um zu wissen, dass Asami es hasste, auf seinen irdischen Ursprung angesprochen zu werden. Noch mehr, als er es hasste, Ranukens Unsinn ertragen zu müssen.

»Ach, Namen. Wen kümmert schon dieser Kram? Ich durfte mir früher auch ständig dumme Sprüche anhören, weil Samuel alles andere als hip klingt«, wiegelte ich ab, damit Asami nicht zu guter Letzt seine Verpflichtung mir gegenüber vergaß und Ranuken fachmännisch in seine Bestandteile zerlegte.

Asami sah mich mit einem maskenhaften Gesicht an, das nichts Gutes verhieß. Dann kehrte zu meiner Erleichterung Leben in seine Züge zurück. »Ranukens Gerede beweist nur, wie wenig Ahnung er von diesen Dingen hat. Asami ist nämlich nicht mein Vor-, sondern mein Nachname. Und als solcher klingt er ausgesprochen männlich. Anders als Ranuken, das an etwas denken lässt, nach dem Wildschweine im Erdreich buddeln.«

Das Stück rote Lakritze, das gerade Ranukens Kehle hinunterhoppelte, hinderte ihn an einer umgehenden Gegenattacke. Meine Chance!

»Ich dachte, wir nennen uns in der Sphäre alle beim Vornamen. Quasi wie in einer großen Familie. Warum bildest du da die Ausnahme?«

»Weil es sehr intim ist, beim Vornamen genannt zu werden«, sagte Asami in einem Ton, als müsste er mir erklären, dass Wasser nass ist. »Das Recht, ihn zu erfahren oder ihn gar zu benutzen, muss verdient werden. Außerdem kommt auf diese Weise wenigstens niemand auf die Idee, dass ich mit diesem rothaarigen Bauernlümmel etwas zu tun habe. Wir Schattenschwingen, eine große Familie … also wirklich, Samuel. Man könnte fast glauben, dass du immer noch nicht in der Sphäre angekommen bist.«

»Das bin ich auch nicht«, erwiderte ich, während mein Kummer mit einem Schlag zurückkehrte.

Ich versank wieder in meinem dunklen Traum. Selbst der Ring an meiner Hand reflektierte meinen Kummer, er pochte wie ein wund geschlagenes Herz. Wie zwei Herzen. Oder täuschte ich mich? Mir war, als würde ich Milas Gefühle wie ein fernes Widerhallen ausmachen. Zuerst überkam mich Erleichterung, denn wenn sie genauso litt wie ich, bestand zwischen uns nach wie vor eine Bindung. Dann aber verstärkte sich mein Schmerz. Der Ring war die einzige Form von Nähe, die uns geblieben war. Wenn ich ihren Kummer spürte, dann entging ihr der meine bestimmt auch nicht. Noch mehr Leid für sie, dank eines Artefakts aus der Sphäre. Ich durfte mir also nicht einmal meinen Liebeskummer erlauben, wenn ich sie nicht weiterhin verletzen wollte. Also versuchte ich ihn unter einer dicken Schicht aus weißem Papier zu verbergen.

Leere statt Verlust, Auslöschung statt Verlassensein. Doch ganz gleich, wie sehr ich mich auch bemühte, der Schutzwall brach auf. Immer wieder. Ich rollte mich zusammen, so fest ich konnte, und versuchte es zu überstehen.

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Irgendwann ließ meine Verzweiflung nach. Langsam und unmerklich stahl sie sich davon, weshalb es mir beinahe entging, dass ich erschöpft in die Dunkelheit starrte. Ich war ausgebrannt, die eindringlichen Gefühle hatten all meine Kraftreserven aufgebraucht. Es kam mir vor, als wäre ich gerade so mit dem Leben davongekommen.

Mit Mühe stemmte ich mich auf meinen Unterarm, sein Zittern ignorierend. Ich lag immer noch auf dem Bett, das die hintere Hälfte des Wohnwagens ausfüllte. Asami saß, auf den Fersen hockend, vor mir. Die gleiche Pose, mit der er sein Katana begrüßte. Er hatte das Glitzershirt ausgezogen und seine schwarzen Schwingen hervortreten lassen. Da die Schlafnische zu eng war, um sie auszubreiten, wie er es eigentlich gern tat, ragten sie zu beiden Seiten, eingeschlagen wie Adlerflügel, hinter seinen Schultern auf, während ihre Spitzen über die Bettkante hingen.

»Ich habe Ranuken in die Sphäre geschickt, um Kastor um Unterstützung zu bitten. Vermutlich reine Zeitverschwendung, weil Kastor alle Hände voll damit zu tun hat, Nikolai unter Kontrolle zu halten. Eigentlich hoffe ich, dich allein zur Rückkehr zu bewegen. Dich hält hier jetzt nichts mehr, Samuel. Das Menschenmädchen hat die richtige Entscheidung getroffen, denn sie hat erkannt, dass es falsch ist, wenn unsere beiden Welten ineinander übergreifen. Die Menschenwelt hat uns nichts zu bieten und wir bedeuten für die Sterblichen nur Unheil. Was auch immer du für sie empfinden magst, es wird mit der Zeit verblassen. In deiner wahren Heimat jedoch erwarten dich Aufgaben und die Chance, eine neue Sphäre aufzubauen. Nimm die Lektion an, die du dank des Mädchens erfahren hast: Unsere Welten gehören getrennt, ansonsten entsteht Leid – auf beiden Seiten. Die Menschen haben ihre Welt seit dem Krieg weiterentwickelt. Nun ist es an der Zeit, dass wir das Gleiche mit der Sphäre machen. Das ist es, was mir durch dich bewusst geworden ist. Wir werden die Sphäre wieder aufbauen, rein nach unseren Gesetzen, vollkommen losgelöst von der Menschenwelt. An dieser Idee musst du dich festhalten und ich werde dir dabei helfen … wenn du mich lässt.«

Zu meinem Erstaunen überkam mich nicht das Bedürfnis, Asami brüsk zurückzuweisen, weil er nicht einmal ansatzweise begriff, was Mila für mich bedeutete. Stattdessen verspürte ich Dankbarkeit, was jedoch nichts daran änderte, dass ich den von ihm angebotenen Weg nicht einschlagen konnte.

»Ich erkenne dein Angebot wirklich hoch an.« Meine Kehle zog sich beim Sprechen schmerzhaft zusammen, doch ich ignorierte es. »Außerdem weiß ich auch, was es dich kostet, in die Menschenwelt einzukehren, um nach mir zu sehen. Ich bin dir dankbar. Trotzdem kann ich Mila nicht aufgeben, selbst wenn sie mich niemals wieder in ihrer Nähe dulden sollte. Ich werde bleiben und warten.«

Vollkommen unerwartet schlug Asami sich die Hand vors Gesicht, allerdings nicht schnell genug. Mir entging sein kummervoller Ausdruck nämlich nicht. Dann fasste er nach meinem Arm, und ich glaubte schon, er wolle mich erneut an sich reißen. Doch er begnügte sich damit, mich festzuhalten.

»Du musst zurückkommen.«

»Nein«, sagte ich behutsam. »Ich kann nicht. Die Sphäre existiert nicht mehr für mich.«

»Sag so etwas nicht!« Asami wurde zwar lauter, es war jedoch keine Wut, die seinen Ton beherrschte, sondern Verzweiflung. »Samuel, versteh doch… komm zurück in die Sphäre … wir brauchen dich dort, das weißt du. Es gibt so viel zu tun. Ein Neuanfang, das ist die Herausforderung, der wir beide uns zusammen stellen müssen. Du bist so begabt, da ist es einfach deine Pflicht …« Asami stockte, als tobe ein innerer Kampf in ihm. Sein Gesicht war reines Weiß vor Anspannung. »Komm zu mir«, flüsterte er schließlich.

Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich darauf erwidern sollte. Er hatte eine Grenze überschritten und ich konnte ihm unmöglich folgen. »Bitte. Ich will dich nicht verletzen, Asami.«

»Miyamoto.« Er hatte den Blick niedergeschlagen und gab auch den Griff um meinen Arm wieder auf. »Mein Name lautet Miyamoto.« Er erhob sich und ging auf die Wohnwagentür zu. »Ich gehe jetzt zu Ranukens Birke. Wenn du deine Meinung änderst, kannst du dir sicher sein, dass ich dich in der Sphäre erwarte. An dem Ort, zu dem wir beide gehören.«

Ich wollte ihm hinterherhechten, wollte retten, was in den letzten Tagen an Freundschaft zwischen uns entstanden war. Aber damit hätte ich ihn nicht ernst genommen, hätte geleugnet, was er mir mit klaren Worten gesagt hatte. Ihm meinen Respekt zu bekunden, erschien mir jetzt wichtiger als alles andere. Gerade wenn es um Miyamoto Asami ging.