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Der Weg des Schwertes
Sam
Vorsichtig legte ich das Iaido, das Übungsschwert, das mir Asami zur Verfügung gestellt hatte, auf das ausgebreitete Tuch. Die Klinge war aus gewöhnlichem Stahl, und nicht aus Bernstein wie die von Asamis Shinken, einem Wahren Schwert. Das schwarze Schwertband breitete ich einer Schlaufe gleich um die Scheide aus blutrot lackiertem Holz aus. Der Sand war noch kühl von der Nacht und schmiegte sich angenehm an meine untergeschlagenen Beine, als ich mich zur Begrüßung des Schwertes vorbeugte.
»Tiefer«, forderte die Stimme unmittelbar neben mir.
»Dann lande ich mit meinem Gesicht im Sand.«
Anstelle einer Antwort legte sich eine Hand auf meinen Nacken und übte sanften Druck aus. Ergeben senkte ich den Kopf und versank mit der Stirn im nassen Sand.
Als ich mich wieder aufrichtete, konnte ich es mir nicht verkneifen, Asami einen genervten Blick zuzuwerfen, was ihn jedoch wenig zu kratzen schien. Wie die Selbstzufriedenheit in Person hockte er auf seinen Fersen neben mir, die Fäuste auf die Oberschenkel gestemmt, die helle Haut schimmernd im Zwielicht. Nach den Regengüssen der gerade erst schwindenden Nacht hatte sich der Wind immer noch nicht beruhigt und zog einzelne Strähnen aus seinem hochgesteckten Haar. Unablässig wehten sie mir gegen den Oberarm, der ohnehin schon von einer Gänsehaut überzogen war. Nach wie vor beunruhigte mich Asamis Nähe, fast spürte ich noch, wie er brutal meinen Unterarm auf den Boden zwang und die Messerspitze in mein Fleisch rammte. Das ist ein anderer Asami gewesen als der, der dich jetzt im Iaido unterweist, sagte ich mir und unterdrückte den Impuls, von ihm abzurücken.
Ich war übermüdet und entsprechend dünnhäutig. Es war mir alles andere als leicht gefallen, die sichtlich verstörte Mila zu verlassen. Gerade noch hatte ich die Erinnerung ihrer Mutter umgestaltet, damit es keine Bilder mehr von mir und ihrer Tochter in einer ausgesprochen intimen Situation gab, um im nächsten Moment auf das aufgewühlte schwarze Meer zu blicken, mit einem putzmunteren Asami an meiner Seite. Das alles ging mir einen Tick zu schnell. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie Reza mit einem Schreckensschrei auf den Lippen neben ihrer Tochter aufwachte, weil ich eben doch nicht so gut in der Kunst war, die Erinnerung der Menschen umzuformen, wie ich behauptet hatte, um Mila zu beruhigen. Und dann würde sich meine Freundin allein mit den Auswirkungen herumplagen müssen, genau wie sie es schon zuvor bei Rufus getan hatte. So war das eben zurzeit mit mir als Freund: Entweder war ich vor Erschöpfung zu nichts zu gebrauchen oder ich glänzte durch Abwesenheit.
Unterdessen machte Asami den Eindruck, als könnte es nichts Besseres geben, als noch vor Sonnenaufgang sein Schwert zu begrüßen. Der Anbruch des Tages war eindeutig seine Zeit – anders als bei mir, da ich doch meine brennenden Augen kaum offen halten konnte. Missmutig wischte ich mir die Sandspuren von Stirn und Nase.
»Und, ist deine sadistische Ader mit dieser Demütigung befriedigt oder soll ich mich noch einmal verbeugen, bis ich ein Ladung Sand in den Mund bekomme?«
Asami blickte mich geradeheraus an und obwohl er nicht lächelte, wusste ich, dass er sich bestens über meine bockige Art amüsierte. Vermutlich war es einer der Höhepunkte seines Lebens gewesen, als ich ihn gebeten hatte, mich im Iaido, dem Weg des Schwertes, zu unterrichten. Im Nachhinein betrachtet, war das keine meiner besten Ideen gewesen, denn während des Unterrichts galt das Kräfteverhältnis zwischen Asami und mir, das ich auf die harte Tour zu meinen Gunsten entschieden hatte, ungefähr einen feuchten Dreck.
Beim Iaido war Asami der Lehrer und ich sein Schüler – sprich: Ich war ein nichtsnutziger Schwachkopf und einfach nicht in der Lage, irgendwas von dem richtig zu machen, was sein großer Meister ihn lehrte. Und das Schlimmste daran war, dass ein Teil von mir dieses Verhältnis akzeptierte. Demut war eigentlich noch nie meine Sache gewesen, aber nachdem ich gesehen hatte, wie Asami mit seinem Katana verwuchs und es mit einer unbeschreiblichen Eleganz und Zielgerichtetheit führte, wusste ich, dass ich diese Schwertkunst unbedingt auch beherrschen wollte. Selbst wenn das bedeutete, von Asami während unserer Übungsstunden bevormundet zu werden. Zu meiner Erleichterung hatte ich jedoch schon bald festgestellt, dass er seine Aufgabe als Lehrer sehr ernst nahm und sein Vergnügen daran, mich meine Wertlosigkeit spüren zu lassen, im Zaum hielt. Meistens jedenfalls.
»Samuel, bei der Begrüßung des Schwertes geht es um Respekt. Das ist es, was du der Klinge schuldest. Verstehst du?«
»Ja«, sagte ich ergeben.
Asami reichte mir ein Tuch, das nach Kamelienöl duftete und mit dem ich die Klinge einrieb. Zuerst hatte ich komisch dreingeschaut, als ich das Schwert ölen sollte. Ich meine: ölen? Damit es besser in den Gegner flutscht? Nachdem ich gelernt hatte, dass man die Klinge über seinen Handrücken gleiten lässt, um sie wieder in die Scheide zu stecken, habe ich nie wieder eine alberne Bemerkung darüber fallen lassen.
Nachdem Asami das Tuch verwahrt hatte, richtete er sich auf. »Und jetzt lass uns mit deinem Training beginnen.«
Ergeben stand ich auf und steckte das Schwert in meinen Obi, einen breiten Gürtel, den ich auf Asamis Geheiß hin so eng um meine Hüften gebunden hatte, dass ich jedes Mal Druckstellen befürchtete. Der Saum meiner langen Hosen berührte den Strand, während meine Füße im Sand verschwanden. Mit meinem von der viel zu kurzen Nacht wirr abstehenden Haar, den Schwingen auf meinem nackten Rücken und dem Schwert an meiner Seite kam ich mir wie ein Rachedämon vor, der fußlos über dem Grund schwebt. Fehlte nur noch der schwarze Nebel, der unter dem Hosensaum hervorwaberte.
Neben mir seufzte Asami ungeduldig, woraufhin ich in die Ausgangsstellung ging.
Wenn mir jemand zuvor erzählt hätte, dass es eine Kunst für sich ist, ein Schwert zu ziehen, hätte ich ihn ausgelacht. Raus aus der Scheide, und dann geht’s los. Stimmt auch, nur ist beim Iaido das Ziehen der Klinge schon der halbe Kampf. Wer hier schneller und konzentrierter ist, hat in der Regel bereits gewonnen. Im Idealfall braucht es nicht mehr als eine Bewegung, um seine Überlegenheit zu beweisen. Mit dem Katana gibt es kein großes Aufeinandereingeprügel, wie man es von Kämpfen mit dem Breitschwert aus Fantasyfilmen kennt. Stattdessen wird dem Gegner eine Schnittwunde beigebracht, elegant und tödlich. Das plumpe Gehaue haben die Samurais lieber den Barbaren überlassen. Zu denen ich zweifelsohne zählte, wenn man Asamis gepresst hervorgebrachten Korrekturen lauschte.
»Mit dem linken Arm die Scheide weiter zurückziehen. Weiter. Weiter, sage ich. Nein, die Klinge darf nicht absacken, sobald sie aus der Scheide ist. Du musst in einem sauberen Bogen … Was machst du da mit deiner Hüfte? Natürlich drehst du sie ein, elender Barbar.«
Sagte ich doch.
Mittlerweile war die Sonne aufgegangen. Zu meiner Überraschung kündigte sich ein blasser friedlicher Morgen an, und ich stand immer noch in der Ausgangsstellung da und machte alles, aber auch alles falsch.
Obwohl es mir durchaus einleuchtete, was diese ewigen Wiederholungen sollten, machte sich allmählich Ungeduld in mir breit. Perfektionismus hin oder her, letztendlich mussten die Übungen doch zu etwas gut sein. »Solltest du mir nicht eher beibringen, wie ich jemanden attackiere?«
»Das wäre reine Zeitverschwendung.« Asami warf mir einen Blick zu, der herablassend und belustigt zugleich ausfiel. »So langsam, wie du ziehst, brauchst du dir um eine feindliche Attacke keine Gedanken zu machen, weil du nämlich schon tot bist, bevor es richtig losgeht. Kopf ab«, fügte er unnötigerweise hinzu, was wohl seiner Vorstellung von Humor entsprach.
»Kopf ab, klar«, wiederholte ich zwischen aufeinandergebissenen Zähnen. »Weil in der Sphäre ja auch so viele Leute mit einem Katana herumlaufen.«
Während Asami mein Standbein mit seinem Fuß in den richtigen Winkel schob – das übrigens hundertpro im richtigen Winkel stand! –, sagte er gelassen: »Willst du diskutieren oder etwas lernen?«
»Etwas lernen natürlich. Lernen, wie ich einen Gegner mit dem Schwert angreife und wie ich mich damit verteidige. Außerdem: Ich stand bereits richtig.«
»Halt den Mund.« Asami stupste gegen meine Ferse, damit sie ungefähr einen Millimeter mehr nach rechts zeigte.
Ich hätte schreien könne, richtig brüllen wie ein Wahnsinniger und dabei mit dem Schwert auf etwas einschlagen, ohne vorher die Scheide abzuziehen. Stattdessen hörte ich brav zu, wie Asami mir vorbetete, was ich dieses Mal richtig machen sollte, und versuchte dann, es umzusetzen. Und dann noch einmal, und dann noch einmal …
Gefühlte fünf Millionen Mal später zog ich das Schwert immer noch nicht annähernd schnell genug, wenn es nach Asamis Maßstäben ging. Dafür kannte ich jetzt Muskeln in meinem Körper, von deren Existenz ich zuvor keine Ahnung gehabt hatte. Jahrelanges Thaiboxen hin oder her, die Muskeln in meinen Unterarmen zitterten und ich glaubte, meinen Nacken nie wieder bewegen zu können. Besonders in meiner linken Hand pochte es schmerzhaft, weil mein fehlender kleiner Finger mir Probleme bereitete. Es gelang mir zwar ganz passabel, den fehlenden Druck auf dem Griff durch Technik auszugleichen, trotzdem blieb es anstrengend. Dennoch ging ich gehorsam in die Ausgangsstellung, als Asami mich erneut aufforderte, mein Schwert zu ziehen. Für Rachegedanken war einfach kein Platz mehr hinter meiner Stirn.
Als ich diesmal meine Finger um den Griff legte, der Daumen meiner linken Hand das Metall der Tsuba suchend, vergaß ich meine schmerzenden Glieder und meinen Widerwillen. Ruhe und Gelassenheit breiteten sich in mir aus, während ich die einstudierten Bewegungen ausführte. Alles erschien mir sehr langsam vonstatten zu gehen, fast als würde ich ein Gebet aufsagen und als wären die einzelnen Schritte nicht mehr als ein Teil des Ganzen. Meine Augen folgten dem weiten Bogen, den das Katana beschrieb, und ich hörte sein Singen, als würde es auf mein Gebet antworten. Als meine Klinge geschmeidig in ihre Scheide zurückgeglitten war, stand ich noch einige Atemzüge lang da.
In mir bündelte sich eine Kraft, doch sie verlangte nicht danach, umgesetzt zu werden. Sie war einfach da, ein warmes Zentrum in mir. Staunend umkreiste ich die Quelle in meinem Inneren, die sich so unvermittelt durch das Iaido aufgetan hatte. War mir zuvor niemals aufgefallen, dass sie in mir fehlte, so konnte ich mir nun unmöglich vorstellen, sie wieder zu verlieren. Ähnlich wie meine Schwingen war die Quelle in der Sekunde, in der ich sie kennengelernt hatte, zu einem bedeutenden Teil meiner selbst geworden. Anders als bei den Schwingen jedoch wusste ich nicht, wozu ich diese Kraftquelle verwenden sollte. Allerdings drängte es mich im Augenblick auch nicht. Ich war viel zu trunken von ihrer Existenz.
Ohne meine Hände vom Schwert zu nehmen, blickte ich Asami an. Er stand ganz ruhig da, die Beine leicht auseinander gestellt. Mit dem Kinn deutete er ein Nicken an. »Das war gut«, sagte er gelassen.
»Danke«, erwiderte ich, bevor ich mich vor ihm verbeugte.
Mit einem Schlag fühlte sich alles richtig an: der prüfende Blick meines Lehrers, das Schwert an meiner Seite und die zum ersten Mal aufkeimende Erkenntnis, dass Iaido mehr für mich bedeuten konnte als die Kunst, einen Gegner zu besiegen. Dass es mir den Weg zeigen konnte, eine Kraft in meinem Inneren zu sammeln und zu formen, die jede Waffe überflüssig machte.

Nachdem wir die Schwerter sorgfältig gereinigt und beiseite gelegt hatten, nahm Asami ein Bad im Meer. Obwohl ich derjenige von uns beiden war, dem der Schweiß den Rücken hinablief, begnügte ich mich damit, mich mit ein paar Handvoll Wasser zu waschen. So, wie ich mich nach dem Training fühlte, würde ich bei einem Schwimmversuch wie ein Stein untergehen. Jedes einzelne Gelenk in meinen Körper tat weh und meine Muskeln hatten sich in Zittergras verwandelt. Wäre die heutige Trainingseinheit nicht so außergewöhnlich befriedigend verlaufen, hätte ich mir in den Dünen kurzerhand eine Mulde zum Schlafen gesucht.
Froh darüber, einfach nur dazustehen und nicht den kleinsten Finger zu rühren, beobachtete ich Asami, der nach einigen kräftigen Schwimmzügen unter Wasser auftauchte und sich in der Brandung aufstellte. Obwohl der Seegang kräftig seine Hüften umspülte, verzichtete er darauf, mithilfe seiner Schwingen das Gleichgewicht zu halten. Sie blieben schwarze Tuschezeichnungen auf seinem Rücken, die größtenteils von seinem offenen Haar verdeckt wurden. Es glich nass glänzendem Seetang, wie ich fasziniert feststellte. Die Spitzen wurden immer wieder von Wellenkämmen erfasst, mitgerissen und glitten dann zurück, um an den Hüften hängen zu bleiben. Sein Haar sah aus, als würde es ein Eigenleben führen. Asamis weiß schimmernder Körper hingegen war vollkommen reglos, mehr Marmorstatue als ein Krieger, der sich nach einem anstrengenden Schwerttraining entspannte.
Neben Shirin war Asami von den mir nahestehenden Schattenschwingen diejenige, die sich am weitesten von ihren menschlichen Ursprüngen entfernt hatte. Während das bei Shirin allerdings mit der Dauer zusammenhing, die sie bereits in der Sphäre lebte, kam es mir bei Asami wie eine ehrgeizige Anstrengung vor. Offenbar wollte er alles hinter sich lassen, was an seine menschliche Seite erinnerte. Je besser ich ihn allerdings kennenlernte, desto mehr überkam mich der Verdacht, dass es ihm in Wirklichkeit nicht sonderlich gut gelang.
Zu gern hätte ich in diesem Moment einen Blick auf sein Gesicht geworfen. Waren seine Augen geschlossen und die Züge entspannt? Oder sah er konzentriert zum Horizont, wo nach der stürmischen Nacht das grau schäumende Meer übergangslos mit dem blassen Morgenhimmel zu verschmelzen schien?
Nachdenklich streckte ich die Arme über den Kopf und dehnte meine Rückenmuskeln, die vor Erschöpfung immer noch kribbelten, wenn auch auf eine angenehme Art. Dabei verdichtete sich das Energiefeld um mich herum, als würde es von der Zufriedenheit, die ich in diesem Augenblick empfand, befeuert. Unwillkürlich leuchtete meine Aura auf.
Das Zusammenspiel von meinen Empfindungen und meiner Aura wurde mir zunehmend bewusster, seit ich es zum ersten Mal gezielt eingesetzt hatte, um Asami im Kampf zu besiegen. Ausgerechnet Asami, der seither jede freie Minute damit zubrachte, einen noch besseren Kämpfer aus mir zu machen. Das Geheimnis, wie wir unsere Aura dabei einsetzen konnten, hatte er bislang allerdings unerwähnt gelassen. Heute hatte ich zum ersten Mal eine Ahnung davon bekommen, worin es bestand. Im Nachhinein merkte ich, dass Asami richtig entschieden hatte, diese Lektion nicht in Worte zu fassen, sondern sie mich erleben zu lassen.
In diesem Moment streckte Asami seinen Arm aus und ließ die Finger über die Wellen tanzen. Es war eine selbstversunkene Geste voller Anmut, bei der seine schwärzliche Aura, die einem Schatten gleich alles Licht schluckte, sich um seinen Arm wand wie eine Schlange. Zwar waren Asamis Augen offen, aber offensichtlich war er jetzt gerade vollkommen gelöst. Ausgerechnet Asami, der Kontrollfreak, ließ sich einfach treiben! Zuerst konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, doch dann griff die Wirkung seiner zentrierten Aura auch auf mich über. Nie zuvor hatte ich eine solche innere Gelassenheit wahrgenommen. Asami stand da wie ein Fels, unbeeinflusst vom Auf und Ab der ewigen Bewegung des Meeres um ihn herum. Mir wurde schmerzlich klar, dass ich zu solch einer Haltung nicht imstande war. Bereits jetzt breitete sich ein Kribbeln in mir aus, begleitet von dem Wunsch, etwas zu tun, in Bewegung zu bleiben, als würde mir die Zeit davonlaufen. Dabei hatte ich als Schattenschwinge ja Zeit bis in alle Ewigkeit.
»Wie viele Seiten gibt es wohl an dir, die ich nicht kenne – die niemand kennt, Asami?«, fragte ich mich leise. Ich hatte den Ersten Wächter, der in dieser Funktion so berechenbar schien, völlig falsch eingeschätzt. Dass es auch einen anderen Asami geben könnte, war mir gar nicht in den Sinn gekommen. Und selbst wenn, so hätte ich bestimmt niemals darauf getippt, dass er ein Meister im Hier und Jetzt wäre.
Während ich meine Hände an der weiten Leinenhose trocken rieb, die Asami mir für das Training überlassen hatte, gestand ich mir ein, dass meine Zeit in der Menschenwelt mich ganz schön verzogen hatte. Dort war es mir ein Leichtes gewesen, Menschen einzuschätzen, weil sie für mich wie ein Buch zu lesen waren. Die Schattenschwingen hingegen musste ich ganz klassisch kennenlernen. Dabei hatte ich den Fehler gemacht zu glauben, dass sich mir superlebenserfahrenem Typen jemand wie der jahrhundertealte Asami auf den ersten Blick offenbaren könnte. Was in der Mathematik Gesetz war – eine Eins ist eine Eins, also ist ein Erster Wächter ein Erster Wächter – galt noch lange nicht für lebende Wesen. Und schon gar nicht für eine Schattenschwinge mit japanischen Wurzeln.
In diese Überlegungen versunken, war ich den Strand entlanggelaufen, bis ich schließlich auf die ersten Felsen vor den Klippen stieß. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie weit ich gegangen war. Mit der Hand hielt ich mir das Haar aus den Augen, in das der Wind unablässig hineinfuhr, damit ich zur höchsten Klippe hinaufblicken konnte. An diesem Ort – sowohl hier in der Sphäre als auch drüben in der Menschenwelt – war in den letzten fünf Monaten mehrmals mein Leben auf den Kopf gestellt worden: angefangen mit der Nacht, als ich mich vor meinem Vater durch einen Sprung von den Klippen gerettet hatte, über den Moment, in dem ich zu Mila zurückgekehrt und sie mit in die Sphäre genommen hatte, bis hin zu meinem Kampf gegen Asami um das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben.
Die Klippen, seit meiner Kindheit der wundersamste Platz für mich, waren zu einem Symbol für mein Schicksal geworden. Als ich sie mir ansah, wie sie sich dem Meer entgegenstellten, fragte ich mich, was mich wohl noch alles erwarten mochte. Auch wenn ich es mir sehr wünschte, wurde ich den Verdacht nicht los, noch lange nicht alle Klippen genommen zu haben. Ein Leben zwischen den Welten zu meistern, damit ich mit Mila zusammen sein konnte, war alles andere als ein Segeltörn bei Sonnenschein. Doch die Frage, ob ein Biologiestudium wirklich die richtige Sache für eine Schattenschwinge war, die es laut den Regeln der modernen Wissenschaft gar nicht geben durfte, schien mir relativ harmlos im Vergleich zu den wesentlich steileren Klippen, die mich in Zukunft sicherlich noch erwarten würden.
»Mal davon abgesehen, dass man zum Studieren das Abitur braucht. Ich habe ja nicht einmal einen festen Wohnsitz in der Menschenwelt«, murmelte ich vor mich hin, während ich meinen schmerzenden Nacken massierte. Bei Asami konnte man sich einer Sache sicher sein: Was er machte, machte er zu hundert Prozent. Heute hatte zweifelsohne »Sam an die Grenzen seiner Belastbarkeit zwingen« auf dem Programm gestanden. Falsch. »Samuel« natürlich, wie er mich beharrlich nannte.
Als ich zu unserem Trainingsplatz zurückkehrte, saß er im Schneidersitz dort, wo unsere Füße den vom Regen fest gewordenen Sand durchpflügt hatten. Sein Bernsteinschwert balancierte er auf den Knien und die Finger lagen so leicht auf der Scheide auf, als wäre die Ehrfurcht vor einer richtigen Berührung zu groß. Als er mich bemerkte, nickte er mir knapp zu. Dabei ließ er sich selbstverständlich nicht zu einem Lächeln herab, aber in seinen kohlrabenschwarzen Augen glaubte ich etwas wie Anerkennung zu erkennen.
»Sprich ruhig aus, was dir gerade durch den Kopf geht: Du bist mehr als überrascht, mich nach deiner Schwertlektion auf den Beinen zu sehen«, forderte ich ihn auf, während ich mich mit steifen Bewegungen neben ihn in den Sand setzte. Mit einem Ächzen lehnte ich mich auf meine Unterarme zurück, die Beine ausgestreckt, obwohl sie augenblicklich zu zittern begannen.
»Du bist lange weg gewesen. Hast du dich vor Überanstrengung drüben bei den Klippen übergeben?« Dabei verzog Asami nicht einmal einen Mundwinkel.
»Ach, darum ist es dir also bei der ganzen Aktion gegangen? Versuch’s das nächste Mal doch einfach mit einer Portion Sushi. Bei rohem Fisch dreht sich mir der Magen automatisch um.« Der Sand schmiegte sich angenehm an meine geschundene Rückenmuskulatur und mein Kopf wurde so schwer, dass ich ihn auf den Boden sinken ließ. Ausgestreckt lag ich neben Asami, dem das Training offensichtlich keinerlei Anstrengung abverlangt hatte. »Und ich dachte schon, hinter der Quälerei verbirgt sich der perfide Plan, mich so weit zu rocken, dass ich nicht mehr die Kraft aufbringe, um Mila zu besuchen.«
Asami sah mich ungerührt an. »Das nächste Mal werden wir die Übungseinheit weiter ausdehnen. Solange du über ausreichend Energie verfügst, um unverschämt zu werden, haben wir dein Limit noch lange nicht erreicht.«
»Von wegen«, nuschelte ich. Dann war ich eingeschlafen.

Seit Samuel ihm eine Nachricht hatte zukommen lassen, um ihn zu der Versammlung einzuladen, und damit eine Verbindung zwischen ihnen geschaffen hatte, gelang es ihm, den Jungen immer wieder aufzusuchen und sich an seinem inneren Feuer zu wärmen. Dazu brauchte er nur dem grauen Pfad zu folgen, dann konnte er bei ihm sein. Zu mehr war er allerdings nicht imstande. Im Augenblick konnte er ihn nur beobachten, zuschauen, wie er sich entwickelte und stärker wurde. Nutzen ziehen konnte er daraus allerdings nicht. Noch nicht.
Sanft umtanzte der Schatten den schlafenden Jungen, angezogen wie eine Motte vom Licht. Vom Licht, vom wundervollen Licht, das wie ein Funken in der Finsternis leuchtete und an dem er sich entzünden wollte. Lichterloh brennen, wieder da sein!
Obwohl er seit einer Ewigkeit von seinem Körper getrennt und durch die Träume der schlafenden Menschen gewandert war, um nicht endgültig vom Weißen Licht besiegt zu werden, erinnerte er sich daran, wie es gewesen war zu lächeln. Ein zufriedenes Lächeln, genau das hätte sich jetzt auf seinem Gesicht ausgebreitet. Dieser Asami, der neben dem schlafenden Jungen kauerte und ihn mit derselben Inbrunst betrachtete wie er, hatte sich als ausgesprochen nützlich erwiesen. Von allein wäre Samuel nicht annähernd so rasch auf seine innere Quelle gestoßen, die ihn nun in einen einzigartigen Stern am Firmament verwandeln würde. Die Dinge entwickelten sich schneller als erwartet. Sosehr ihn Samuels wachsende Kraft auch beeindruckte, sosehr führte sie ihm vor Augen, dass er schon bald würde handeln müssen. Egal, wie hoch das Risiko für ihn war. Die Schattengestalt, die er im Augenblick noch war, würde er aufgeben müssen, wenn er sich künftig nicht bloß an Samuels Licht wärmen, sondern es in sich aufsaugen wollte.
Ja, er wollte dieses Licht besitzen. Es sollte ihm gehören, gleichgültig, welcher Gefahr er sich dafür aussetzen musste.