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Eingenistet

Das Ganze kam mir vor wie ein Déjà-vu: Kurz vor Anbruch der Morgendämmerung stand ich übernächtigt am Strand der Sphäre, mit den Gedanken noch ganz bei Mila, während ich auf Asami wartete.

War das nicht eben erst so gewesen?

Für einen verstörenden Moment hatte ich das Gefühl, die Übersicht über mein Leben zu verlieren. Wer war ich noch einmal, und was wollte ich hier? Mutlos ließ ich mich in den klammen Sand sinken und vergrub mein Gesicht zwischen den verschränkten Armen, die auf meinen Knien lagen. Ich musste dringend dieses Gefühl von Machtlosigkeit abschütteln und mir stattdessen vor Augen halten, dass ich es war, der die Entscheidungen traf. Es stürmte im Augenblick zwar sehr viel auf mich ein, aber solange ich mich zusammenriss und mich darauf konzentrierte, einen Schritt nach dem nächsten zu nehmen, würde das alles schon werden. Nach dem gestrigen Abend im Wohnwagen sollte ich das eigentlich ohne Probleme hinbekommen. Immer noch konnte ich Milas Maiglöckchenduft auf meiner Haut wahrnehmen, immer noch klangen mir ihre geflüsterten Worte in den Ohren – und nicht nur ihre Worte, sondern auch die Seufzer, die sie ausgestoßen hatte, als ich die Einbuchtung neben ihrem Nacken gestreift hatte und meine Lippen ihr Dekolleté hinabgewandert waren …

Meine Wangen begannen verräterisch zu brennen, und ich vergrub mein Gesicht ein Stück tiefer zwischen den Armen. Asamis wissenden Blick wollte ich mir gern ersparen. An Mila zu denken, war definitiv nicht der richtige Weg, um zu der Konzentration zu finden, die er mir abverlangte. Zumal jeder Gedanke an sie mich sofort spüren ließ, dass ich einfach nicht genug von ihr bekam. Da mochte es Probleme geben, wo ich nur hinblickte, Angelegenheiten, für die ich dringend eine Lösung finden musste – aber ich verlor mich in Phantasien über das Gefühl, das Milas Finger auf meinem Rücken erzeugten.

»Gott, Bristol! Denk doch mal an was anderes«, forderte ich mich auf.

Wie kam es, dass ich Mila jedes Mal, sobald wir alleine waren, auf meinen Schoß ziehen wollte? Zwar hatte sie sich bislang nicht darüber beschwert, aber das war sicherlich nur eine Frage der Zeit. Vor allem heute, wenn wir dank der Abwesenheit ihrer Eltern endlich einmal ganz in Ruhe zusammen sein konnten, erwartete Mila sich bestimmt mehr von mir als eine Kusseinlage im Garten, hektisches Klamottenabstreifen im Flur und die lang ersehnte Fortsetzung unserer bislang recht zahmen Knutschereien auf ihrem Zimmer. Sollte ich nach dem Training überhaupt noch aufrecht stehen können, schuldete ich ihr wenigstens einen Hauch von Romantik. Am besten in Verbindung mit ganz normalen Aktionen, die Paare eben taten, wenn der eine Part nicht ständig in einer anderen Sphäre rumhing. Dafür musste ich ordentlich den Kopf freibekommen.

Die Iaido-Lektion mit Asami, die gleich anstehen würde, war da zweifelsohne genau das Richtige. Ein strenger Lehrer, jede Menge Bewegung mit dem Katana in den Händen, und das erneute Entfachen dieser Lichtquelle in mir. Der klare und gleichzeitig berauschende Augenblick, in dem die Quelle sich aufgetan hatte, wirkte ungebrochen nach. Ich war ganz bei mir selbst gewesen, und genau dorthin wollte ich mit Asamis Hilfe wieder. Mit einem wohligen Schauer erinnerte ich mich daran, wie es sich angefühlt hatte, das Schwert auf diese vollkommene Weise zu ziehen, und wie sich eine Kraft in mir geformt hatte, die mir realer erschien als mein pochendes Herz. Was mochte diese Kraftquelle bedeuten?

Die technische Seite der Schwertkunst zu begreifen, fiel mir leicht – dank des Austauschs, den wir Schattenschwingen über unsere Aura vornehmen konnten. Nun war es nicht so, dass Asami mir sein Wissen über Iaido offenbarte und ich sämtliche Katas auch gleich beherrschte. Natürlich musste der Körper beim Kampfsport geschult werden, denn was der Geist verstand, galt noch lange nicht für die Glieder. Mein Körper schien allerdings wie geschaffen für den Schwertkampf. Das Ganze erinnerte mehr an einen anmutigen Tanz als an eine Angelegenheit, die darauf hinauslief, jemanden mit dem perfekten Streich den Brustkorb zweizuteilen. Obwohl es genau darum ging, wie Asamis Anweisungen ungeschönt deutlich machten. Tatsache war jedoch, dass ich nach einigen gemeinsamen Stunden mit meinem Lehrer bereits Bewegungsabläufe verstanden hatte, für die ein menschlicher Iaido-Schüler Jahre benötigte. Hätte ich auf diese Weise Thaiboxen gelernt, dann wäre ich darin bereits Champion.

Die Erkenntnis, dass Schattenschwingen mit nur wenig Mühe komplexe Dinge begriffen, fühlte sich so lange super an, bis mir klar wurde, dass diese Fähigkeit uns Vorteile über die Menschen brachte, die gefährlich werden konnten. Weil wir Schattenschwingen enorm schnell lernten, wenn wir auf eine Wissensquelle stießen, waren wir einem Menschen gegenüber in so ziemlich jeder Hinsicht überlegen. Bislang hatte ich meine Gedanken ausschließlich mit anderen Schattenschwingen geteilt, indem ich ihnen gestattete, sich durch mein Bewusstsein ein Bild von der Gegenwart in der Menschenwelt zu machen. Umgekehrt hatten einzelne von ihnen gezielt unsere mentale Verwobenheit genutzt, um mir etwas Bestimmtes zu vermitteln. Aber was würde passieren, wenn es mir gelang, diese Fähigkeiten auch bei Menschen anzuwenden? Schließlich offenbarten sie mir ihre Gefühle und Gedanken ohnehin schon eindeutiger, als ihnen lieb sein konnte.

Je länger ich darüber nachdachte, desto unheimlicher wurde mir zumute. Man musste kein Genie sein, um herauszufinden, dass wir Schattenschwingen über Macht verfügten. Macht, um zu begreifen und zu beeinflussen. Vermutlich war das der Grund gewesen, weshalb die alten Schattenschwingen sich nach dem Krieg dazu entschlossen hatten, ihre außerordentlichen Fähigkeiten künftig einzudämmen. Niemandem sollte mehr vor Augen geführt werden, welche verführerischen Fähigkeiten in ihm schlummerten. Keinesfalls wollten sie irgendeine Art von Größenwahn fördern – schließlich war all das bereits einmal missbraucht worden.

»Ob Asami wohl bereit wäre, mir mehr über die Entscheidungen, die nach dem Krieg getroffen wurden, zu erzählen?«, fragte ich mich halblaut, um mich am Einschlafen zu hindern. Während mein Geist auf Hochtouren arbeitete, drohte mein Körper nämlich wegzudämmern. Der Sand fühlte sich gemütlich an, und der kräftige Wind, der übers Meer kam, ähnelte zunehmend der Melodie eines Gutenachtlieds. Es brauchte nicht mehr viel, und ich würde in dieser zusammengekauerten Haltung wegdösen. Das Fest würde ich Asami, der jeden Moment eintreffen musste, auf keinen Fall gönnen.

Gerade als ich mich dazu aufraffte, wenigstens meinen bleiernen Kopf anzuheben, ließ sich jemand neben mich in den Sand plumpsen, der mit Sicherheit nichts von eleganten Enthauptungsmethoden verstand: Ranuken.

»Morgen!«, grüßte er mich fröhlich, ganz Ausbund an guter Laune. »Wer hat denn dir die Luft abgelassen?«

»Das Leben im Speziellen und Allgemeinen.« Ich streckte mich ausgiebig, was besser ging als erwartet. »Ich will dich ja nicht vergraulen, aber ich bin mit Asami verabredet. Der dürfte hier gleich ankommen.«

Ungerührt schenkte Ranuken mir ein Lächeln, bei dem ich jeden einzelnen seiner ungewöhnlich großen Zähne sehen konnte. »Ach, Asami. Jetzt, wo der dein untergebener Diener ist, sehe ich das locker. Der kann mir nix. Ich meine, du würdest es doch nicht zulassen, dass der mir krummkommt, oder?«

»Kommt drauf an«, erwiderte ich, verblüfft über die Rolle, die Ranuken mir zuschieben wollte. »Wenn du ihn nicht allzu sehr pestest, wird er dich schon in Ruhe lassen. Aber wenn du es darauf anlegst, ihn gegen dich aufzubringen …«

»Hey, ich bin nicht bescheuert, okay! Mir gefällt eben nur die Vorstellung, nicht jedes Mal einen halben Herzinfarkt zu erleiden, wenn der Erste Wächter mit Grabesmiene auftaucht. Es ist einfach schön, mit dir eine Versicherung gegen seine strengen Strafen zu haben.«

»Ranuken, falls irgendwo in deinem Kopf die Idee herumschwirrt, du hättest jetzt dank meiner Freundschaft den Freifahrtschein, die Grenzen bei Asami auszutesten, dann schmink dir das gleich wieder ab. Ich habe ihm nicht die Schwingen gebrochen, damit du dich jetzt an ihm austobst, weil nicht mit Gegenwehr zu rechnen ist.«

»Ich darf ihn also nicht ärgern? Nicht einmal ein bisschen? «

Ranuken guckte so flehend, dass ich seine Bitte nicht abweisen wollte. Immerhin war Asami ja auch nicht gerade ein Unschuldslamm. Also suchte ich nach der richtigen Formulierung, damit Ranuken seine neue Freiheit genießen konnte, ohne gleich über die Stränge zu schlagen. »Ein bisschen ärgern ist okay. Aber nur ein bisschen. Wenn es anfängt, sich ordentlich gut anzufühlen mit der Asami-Prickerei, dann hörst du auf. Sofort.«

Ranuken nickte mit ernster Miene. »Habe verstanden, Sir.«

»Da fällt mir übrigens etwas ein: Mila hat sturmfreie Bude, ihre Eltern sind für einige Tage verreist. Sobald Asami mich vom Wickel lässt, will ich rüber und sie besuchen. Ich werde heute Abend also nicht bei der Versammlung sein. Sag Kastor Bescheid und unterstütz ihn bitte, was Shirin anbelangt. Vermutlich verpasse ich ohnehin nichts. Über unseren Vorschlag, im Weißen Licht nach dem Schatten zu suchen, hat die Mehrheit ja nichts hören wollen. Da tauschen sie lieber noch ein paar Gemeinheiten aus. Das brauche ich heute echt nicht.« Die letzte Versammlung war die frustrierendste überhaupt gewesen, sodass mir die Entscheidung leichtfiel, einmal zu schwänzen. »Unsere Treffen werden immer mehr zur Farce. Anstatt endlich dem Problem auf den Grund zu gehen, veranstalten wir bloß ein Selbstzerfleischungsprogramm. Das ganze Misstrauen, mit dem sich die alten und auch viele der jüngeren Schattenschwingen begegnen, schlägt mir langsam auf den Magen.«

Ranuken sah mindestens so bedröppelt aus, wie ich mich fühlte. Entgegen seiner sonstigen Art saß er still da, bis auf ein paar Muscheln in seinen Händen, die er rhythmisch aufeinanderschlug. »Weißt du, man kann sich nicht jahrhundertelang meiden, weil man die gemeinsame Geschichte nicht erträgt, und dann plötzlich wieder Hand in Hand gehen. Die trauen sich alle gegenseitig nicht über den Weg, daran ändert auch diese Nummer an der Ruine so schnell nichts.«

»Auf der einen Seite sind wir Schattenschwingen vollkommen anders als die Menschen, aber auf der anderen Seite …« Ich zuckte mit den Schultern.

»Die menschliche Seite, die du ansprichst, ist der Auslöser für die ganzen Probleme, gegen die wir jetzt mehr denn je ankämpfen müssen«, erklärte eine eindringliche Stimme in meinem Rücken. »Machtgier und Feigheit sind typisch menschliche Eigenschaften.«

Asami war unbemerkt hinter uns getreten. Einer alten Gewohnheit gehorchend, fuhr ich beim Klang seiner Stimme zusammen. Dass er sich mir unbemerkt näherte, gefiel mir nicht. Genauso wenig wie mein sich sofort auftuendes schlechtes Gewissen, für das es gar keinen Grund gab. Es hatte ganz den Anschein, als ob seine Maßregelungen wegen meines unerlaubten Wechselns in die Menschenwelt sich stärker in mir eingebrannt hatten, als ich mir eingestand. Zu guter Letzt hatte ich mich zwar als der Stärkere von uns beiden erwiesen, aber bei irgendeinem dummen Teil meiner Persönlichkeit war diese Nachricht leider nicht angekommen.

»Ich fände es wirklich gut, wenn du diese Anschleicherei bleiben ließest. Was soll das denn, sich einfach hinter uns stellen und zu lauschen?« Mein Ton fiel schärfer aus als beabsichtigt, aber Asami konnte einen auch wirklich bis aufs Blut reizen. Nicht, dass ihm das etwas ausmachte.

»Es ist nicht meine Schuld, wenn ihr unaufmerksam seid.« Erst als er bemerkte, wie ich mein Gesicht verzog, nickte er einlenkend. »Wie du willst, das nächste Mal werde ich auf mich aufmerksam machen. Nur, Samuel: Du würdest gut daran tun, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Achte auf deine Umgebung. Jemand Unwichtiges wie Ranuken kann unbeschwert durch die Sphäre gehen, aber bei dir sieht das anders aus.« Mit einer Arroganz, die nur Asami an den Tag legen konnte, überging er Ranukens lautstarken Protest. Stattdessen sah er mich mit einer Ernsthaftigkeit an, der ich mich nicht entziehen konnte. Meine müden Glieder waren genauso vergessen wie das einlullende Rauschen des Meeres. Wenn Asami die Aufmerksamkeit von jemandem haben wollte, dann bekam er sie auch. Den Trick musste er mir bei Gelegenheit beibringen. »Allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz ist in unserem Kreis alte Magie ausgeübt worden. Niemand sollte die Gelegenheit bekommen, bei dir zu nisten, nur weil du unaufmerksam bist.«

»Zu nisten? Was meinst du damit?«

Mit der einen Hand strich Asami seine langen Haarsträhnen nach hinten, während die andere auf dem Griff seines Katanas aus Bernstein ruhte. Bei jedem anderen hätte ich darauf getippt, dass diese Gesten ein Gefühl von Sicherheit vermitteln sollten. Aber den Ersten Wächter konnte doch auch das ominöse »Nisten« – was auch immer das war – wohl kaum aus seinem inneren Gleichgewicht bringen, oder?

»Ich kenne nur einen Bruchteil der Techniken, derer sich die Schattenschwingen vor dem Krieg bedient haben«, setzte Asami abwägend an. »Allerdings braucht man auch nur ein paar zu kennen, um zu verstehen, dass das Nisten eine der wichtigsten war. Besonders der Schatten hat davon ausreichend Gebrauch gemacht. Ich glaube sogar, dass er es war, der diese Kunst entwickelt hat. Eine neben vielen anderen dunklen Künsten, durch die die Sphäre fast zerstört worden ist.« Als würde er ein besonders kompliziertes Muster analysieren, stierte Asami in die Luft, während seine Kieferknochen mahlten. »Wenn jemand herrschen will, ohne seine Macht offen zu demonstrieren, schleicht er sich ins Bewusstsein anderer Schattenschwingen und benutzt sie als Marionetten, die seinen Willen durchsetzen. Auf diese Weise ist der Schatten unbemerkt bis ganz an die Spitze aufgestiegen, weil niemand seine wahren Absichten durchschaute. Die Aufmerksamkeit lenkte er geschickt auf seine Marionetten. Der Schatten hat unser Volk in ein Geflecht aus Scheingefechten verstrickt, bei denen niemand wirklich wusste, wer gegen wen war.«

Ranuken wedelte lässig mit der Hand herum. »Gruselgeschichten, pah. Damit habt ihr Alten uns bislang klein gehalten. Und wenn ich mir unseren gutgläubigen Sam so anschaue, warst du bereits erfolgreich: Der traut sich demnächst ohne deine Hilfe keinen Fuß mehr vor den anderen zu setzen. Außerdem klingt diese Nummer mit dem Einnisten überhaupt nicht nach uns. Wir Schattenschwingen sind ein Trupp aus Eigenbrötlern, wir machen schon aus Prinzip nichts, was ein anderer von uns will. Nicht einmal, wenn es zu unseren Gunsten wäre.«

Anstelle einer Antwort glitt Asami mit seiner unheimlichen Schnelligkeit hinter Ranuken, packte dessen Handgelenke und brachte ihn dazu, zwei Mal laut in die Hände zu klatschen, ehe Ranuken sich schimpfend aus dem Griff befreite.

»Was soll denn der Mist? Sag ihm, dass er das nicht darf, Sam. Mich einfach so zu nötigen, Frechheit!«

Wenn Asami die kleine Spitze gegen Ranuken genoss, dann ließ er sich zumindest nichts anmerken. Stattdessen dozierte er kühl weiter. »Wie du siehst, lässt sich keiner von uns freiwillig seinen Willen nehmen. In diesem Punkt hat Ranuken recht. Man muss also schon raffinierter vorgehen, zum Beispiel, indem man sein Opfer heimlich mit einem Zeichen versieht, durch das man sich bei ihm einschleicht. Dann flüstert man ihm ein, was man sich wünscht, bis derjenige glaubt, dass es sein eigener Wille sei.«

Wie ein Leuchtfeuer aus der Vergangenheit tauchte vor meinem inneren Auge das Bild auf, wie mein Vater sich auf der anderen Seite des Zimmers monatelang gequält im Schlaf hin und her warf, bis er sich schließlich an meinem fünfzehnten Geburtstag auf mich gestürzt und mir die Zeichen ins Fleisch geschnitten hatte. Immer stärker verdichtete sich in mir die Ahnung von einer Schattenschwinge, die Jonas’ Schlaf dazu benutzt hatte, um mich zu zeichnen – auch wenn ich nach wie vor nicht wusste, wozu die Zeichen dienen sollten.

»Indem man durch Träume zu ihm spricht«, brachte ich atemlos hervor.

Asami musterte mich aufmerksam. »Menschen kann man möglicherweise über ihre Träume erreichen, aber der Schlaf von uns Schattenschwingen ist geschützt. Was siehst du, wenn du träumst, Samuel?«

»Schwarz und Weiß, in einem ewigen Tanz ineinander verschlungen.«

»Ja.« Asamis Stimme wurde leise, beinahe zärtlich. Langsam kniete er sich vor mich nieder, bis sich mein eigenes Gesicht in seinen glänzenden schwarzen Augen spiegelte.

Seine Nähe fühlte sich einerseits vollkommen richtig an, denn immer noch hallte die Empfindung meiner Traumwelt in mir nach. Wir waren beide Schattenschwingen, waren von der gleichen Art. Andererseits irritierte es mich nach wie vor, wenn er seine Distanziertheit aufgab. Das Kräftemessen zwischen uns hatte mehr verändert, als ich zu begreifen imstande war. Seitdem betrachtete er mich als seinen Herrn, seinen Schüler und als seinen … wie sollte ich es nennen? Freund traf es nicht. Es war auch nicht das, was ich für ihn empfand. Zu sehr trug ich ihm nach, dass er Mila zu töten versucht hatte. Dieser Bruch zwischen uns würde niemals zu kitten sein. Und doch baute sich eine Bindung zwischen uns auf, die mindestens ebenso stark wie Freundschaft war.

»Schwarz und Weiß«, wiederholte Asami. »Das ist es, was wir Schattenschwingen sind, das ist unser Ursprung, von dem wir jede Nacht träumen. Er ist uns allen gemeinsam. Im Gegensatz zu den Menschen haben wir nämlich eine klare Bestimmung, Samuel. Das ändert jedoch nichts daran, dass auch wir für Versuchungen anfällig sind. Unsere Aura ist eine starke Waffe und ein Schutzschild … solange sie uns gehört. Wenn wir nicht auf sie achtgeben, kann ein anderer in uns eindringen, und wenn er stark genug und in diesen Künsten bewandert ist, kann er uns die Kraft unserer Aura rauben. Du hast Juna auf der Versammlung gesehen, als sie die Zeichen auf ihrer Haut freigelegt hat: Sie hat am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, jene Kraft zu verlieren, die uns zu Schattenschwingen macht.«

Mit einem Anflug von Beklemmung dachte ich an Junas für eine Schattenschwinge ungewöhnlich gealterten Körper, der über und über mit Zeichen bedeckt war. Jemand hatte sich ihrer Aura bedient. Allein diese Vorstellung ließ mein Herz schneller schlagen. Das war grausamer, als eine Hand zu verlieren.

»Allerdings waren die Folgen des Nistens in der Regel nicht so offensichtlich wie bei Juna«, fuhr Asami mit seiner kühlen Art fort. »Die meisten Opfer glaubten lange Zeit, dass es ihr eigener Wille sei, dem sie folgten, weil sie den Eindringling fälschlicherweise für einen Teil ihrer Selbst hielten. Wenn sie dann feststellten, dass sie den Einflüsterungen eines anderen gefolgt waren, konnten sie kaum noch zwischen sich und dem Eindringling unterscheiden. Er hatte sie kurzerhand übernommen.«

Ich verlagerte mein Gleichgewicht und spürte dabei, wie klamm der Sand unter mir war. Am Himmel kreisten Möwen, auf der Suche nach einem Frühstückshappen. Ich machte mir klar, dass Asami die Vergangenheitsform benutzt hatte. Er erzählte Geschichten aus einer Sphäre, die es schon lange nicht mehr gab. Die Kunst des Nistens war mit ihrem Schöpfer, dem Schatten, untergegangen.

»Niemand, der an unserer Versammlung teilnimmt, ist ausreichend in diesen Künsten bewandert – so viel steht doch mittlerweile fest«, brachte ich meine Überlegungen auf den Punkt.

Asami nickte. »Wer sich in ihnen auskannte, ob nun, um sie selbst zu verwenden oder um sie abzuwehren, ist im Krieg gefallen oder hat sich später das Leben genommen. Die Schattenschwingen, die überlebt haben, waren vor dem Krieg nichts anderes als Randfiguren. Ihnen mangelt es an Wissen und Kraft.«

»Und von uns Jüngeren kann es auch keiner gewesen sein, denn schließlich habt ihr Wächter uns unablässig überwacht«, fuhr ich fort. »Da konnte keiner unbeachtet Fähigkeiten entwickeln.«

»Ja, genau. Da hat uns ein Haufen Ahnungsloser niedergehalten«, brachte Ranuken sich mit einem abfälligen Grunzen ein. Ich hatte ihn ganz vergessen, und auch Asami zuckte sichtlich zusammen. »Wie Juna, die große Reden schwingt, aber außer viel heißer Luft bisher nichts produziert hat. Nur im Giftigsein ist sie unschlagbar.«

Asami machte sich nicht einmal die Mühe, sich Ranuken zuzudrehen, als er ihm antwortete. Seine gesamte Aufmerksamkeit war weiterhin auf mich gerichtet. »Das alles mag auf die meisten alten Schattenschwingen zutreffen – nicht aber auf Shirin. Sie gehörte dem Schatten, sie hat diese Art der Magie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Und sie hat ihn letztendlich mit seinen eigenen Mitteln besiegt.«

Wut packte mich. Ruppig setzte ich ein Stück zurück, was Asami aus dem Gleichgewicht brachte. Kurz flackerte ein Anflug von Verletztheit in seinen Zügen auf, doch gleich darauf hatte er sich schon wieder unter Kontrolle.

»Shirin hat dem Schatten nicht gehört wie ein läppischer Gegenstand, sie hat ihn geliebt. Das ist ein ziemlich großer Unterschied«, stellte ich entschieden fest.

Natürlich ließ sich Asami nicht überzeugen. »Das hat er offensichtlich anders gesehen, ansonsten hätte er ihr wohl kaum die Bernsteinreifen angelegt, um sie seinem Willen zu unterwerfen.«

»Oder um sie an sich zu binden …«, dachte Ranuken laut nach, wobei mich sein ernster Tonfall aufhorchen ließ. Der kleine Kerl machte sich tatsächlich Gedanken. Ich musste ziemlich überrascht dreingeblickt haben, denn Ranuken lächelte verlegen. »Na, dazu sind Ringe doch da: um sich zu binden. So geht das doch, oder? Vielleicht hat er ja auch solche Ringe um die Handgelenke getragen, weil er auch ihr gehörte.«

»Was Shirin nur noch verdächtiger machen würde.« Die bösen Blicke, die Ranuken und ich Asami unisono zuwarfen, prallten wirkungslos an ihm ab. »Wenn er ihr mit der gleichen Hingabe gehörte, wie sie ihm, dann kann es nicht ohne Grund sein, dass sie nicht gemeinsam untergegangen sind. Dann stellt sich die Frage, ob sie nicht seit jeher eine Marionette ist, deren Einsatz erst jetzt zum Tragen kommt.«

»Was für eine Scheißtheorie!«, brüllte Ranuken, noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte. »Mann, wenn Shirin dir schon einmal den Marsch geblasen hätte, wüsstest du, dass so eine Frau nicht die Marionette von irgendeinem Kerl aus der Vergangenheit ist. Entweder sie tut etwas aus Überzeugung oder gar nicht. Punkt.«

Um seinen Standpunkt zu bekräftigen, verschränkte Ranuken die Arme vor der Brust. Vielleicht brachte er aber auch nur seine Hände in Sicherheit, damit Asami nicht noch einmal demonstrieren konnte, wie leicht es war, einem anderen seinen Willen aufzuzwingen.

Doch Asami beachtete ihn nicht weiter. Für ihn war es scheinbar ohne Bedeutung, was einer wie Ranuken dachte, der in der Welt der Schattenschwingen, wie Asami sie sah, keine Rolle spielte. Ich sah das allerdings anders, und zwar nicht bloß, weil der Rotschopf mein Freund war. Ranukens Charakter war unverfälscht, außerdem kannte er Shirin von uns allen am längsten. Aber auch ich, obwohl ich sie erst seit dem Sommer life und in Farbe erlebt hatte, konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Shirin eine Art Schläfer war, der jetzt plötzlich erwacht war, um einen alten, bösen Plan auszuführen. Was hätte denn der Auslöser dafür sein sollen?

»Lass dich von Asami nicht ärgern, Ranuken. Er glaubt selbst nicht, was er da sagt. Ansonsten hätte er Juna bei ihren Bemühungen, Shirin zu bestrafen, umgehend unterstützt. Stattdessen zögert er ihre Bestrafung immerzu hinaus. Er hält sie für unschuldig, genau wie wir.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwiderte Asami mit einem undeutbaren Lächeln. »Manche Gegner muss man ganz nah an sich herankommen lassen, bevor man sie schlagen kann. Womit wir beim eigentlichen Thema unserer heutigen Zusammenkunft wären: dem Schwertkampf. Samuel, kleide dich bitte um, damit wir das Schwert begrüßen können.«

»Und was ist mit mir, was soll ich tun?«, fragte Ranuken ungewohnt schüchtern.

»Am besten jemand anderem die Zeit stehlen.« Da war sie wieder: Asamis unvergleichliche Arroganz. »Wir haben zu tun.«

»Ja, klar! Mir steht eh nicht der Sinn danach, mit diesen albernen Schwertern herumzuwedeln. Die sind ja nicht einmal scharf.«

Mit einem Satz war Ranuken in der Luft.

»Ranuken, warte!«, rief ich ihm hinterher, doch er blickte nicht zurück. Aufgebracht wandte ich mich Asami zu. »Das ist so was von überflüssig gewesen. Warum führst du dich Ranuken gegenüber dermaßen herrisch auf?«

»Der braucht das. Wenn ich so sanft mit ihm umspringen würde wie du, wäre er bald vollkommen außer Rand und Band. Der Bursche hat nur Flausen im Kopf, da ist es nur gut, dass er etwas Respekt vor mir hat.«

»Respekt kann man sich auch auf andere Weise verdienen«, hielt ich entgegen. Ich war so aufgebracht, dass ich den Gürtel verhedderte, den ich um meine Hüften schlingen wollte. Asami streckte fordernd seine Hand aus. Obwohl ich zu gern seine Finger weggeschlagen hätte, überließ ich ihm das schwarze Stoffband, damit er es mir richtig umband.

»Ich kenne deine Techniken, dir Respekt zu verschaffen. Ich habe sie am eigenen Leib erfahren«, sagte Asami, während er mich umdrehte, um den Obi im Rücken schmerzhaft fest zuzuknoten. »Aber ich glaube nicht, dass es für Ranuken das Richtige wäre, ihm die Schwingen zu brechen, damit er sich unterwirft.«

Dabei berührten seine Fingerspitzen ganz leicht jene Stelle an meinen Schultern, durch die die Schwingen hervorbrachen. Mit einem Satz sprang ich vor und presste meinen Handrücken gegen meine Lippen, um einen Aufschrei zu unterdrücken.

»Tu das nie wieder«, forderte ich ihn auf, sobald ich mich wieder unter Kontrolle hatte.

Asami holte das Katana, das er für mich mitgebracht hatte, und reichte es mir. »Wie du willst.«

In dem Moment, da ich es nahm, verschwanden sämtliche verwirrenden Gedanken, und vor mir stand mein Iaido-Lehrer. Nicht der Erste Wächter, nicht die Schattenschwinge, die beinahe Mila getötet hätte, nicht Asami, der sich meinem Willen unterordnete, und auch nicht jemand, dessen Verbindung zu mir ich nicht in Worte fassen konnte. Die sich nicht in Worte fassen ließ, weil ich sie nicht begriff. Das Katana versprach Klarheit und Zielgerichtetheit, wenn auch nur für kurze Zeit.