23
Niemals endend
Ich wusste nicht, wie es hatte Nachmittag werden können. Schließlich hatte ich nicht einmal mitbekommen, dass ich eingeschlafen war. Überrascht war ich trotzdem nicht, denn Verzweiflung und Trauer konnten anstrengender sein als jeder Marathonlauf.
Nur allzu bereitwillig überließ ich meinem Körper die Führung, der mich ins Badezimmer leitete, wo ich mechanisch den täglichen Anforderungen nachkam. Genauso ferngesteuert zog ich mich um und schüttelte das Bett auf. Als es jedoch in Richtung Küche gehen sollte, blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich konnte mein Nest nicht verlassen, vollkommen unmöglich. Mein Zimmer erschien mir plötzlich als der einzig sichere Ort auf der Welt. Klar, das war vollkommen irrational, aber ich brachte schlicht nicht die Kraft auf, um mich dagegen zu wehren. Stattdessen stand ich mitten im Raum und spürte das ganze Elend wieder in mir aufsteigen.
Panisch schaute ich mich nach etwas um, an dem ich mich festhalten konnte. Mein Blick fiel auf den Zeichenblock. Das beste Hilfsmittel von allen! Kaum saß ich auf dem Stuhl, hatte ich auch schon eine leere Seite aufgeschlagen … und starrte sie an. Weiß war nicht gut, da musste dringend was drauf, etwas Schönes und Schlichtes. In diesem Moment fiel das getrocknete Ginkgoblatt heraus. Wenn das mal kein Zeichen war.
Vorsichtig lehnte ich das aus zwei Fächern bestehende Blatt gegen ein Buch und legte den Zeichenblock auf meine gegen die Schreibtischkante gestemmten Beine. Das Zeichnen fiel mir überraschend leicht, es war regelrecht erlösend, den Bleistift über das weiße Papier zu führen und es mit einem Abbild des Ginkgoblattes auszufüllen. Eigentlich neigte ich nicht zur Akribie, aber in diesem Fall tat sie mir gut. Jede Vertiefung, jede noch so kleine Verzweigung wollte ich einfangen. Als ich zu der Stelle kam, an der die beiden Fächer des Blattes miteinander verschmolzen, musste ich an das Gedicht denken, das meine Mutter aufgesagt hatte. Das über die Frage, ob zwei Liebende eins sind oder zu einem werden können.
Unwillkürlich wanderte mein Blick zu dem Ring an meinem Finger.
In diesem Moment hörte ich, wie die drei Segler von ihrem Ausflug mit der Wilden Vaart zurückkehrten. Rufus rief meinen Namen, aber ich brachte nicht die Energie auf, ihm zu antworten. Vielleicht auch, weil ich nicht wollte, dass er zu mir kam. Er war schon halb die Treppe hoch, da klingelte das Telefon. Kurz stockte mir der Atem. War das Lena, die mir sagen wollte, dass ihr Herz nun wieder gleichmäßig schlug? Dass sie den Weltenumsturz, den sie dem der Asche entstiegenen Nikolai verdankte, verkraftet hatte? Dass sie mittlerweile ganz gut damit klarkam, dass es tatsächlich geflügelte Wesen aus anderen Sphären gab?
Im nächsten Moment machte Rufus meine Hoffnungen schon wieder zunichte. »Hey, Dad, altes Haus! Rat mal, was ich heute in Bewegung gesetzt habe?« Darauf folgte die detaillierte Beschreibung eines Segeltörns, gefolgt von ein paar Verabschiedungsfloskeln und der Versicherung »Na klar grüß ich Mila von euch. Nur die Küsserei lass ich bleiben.«
Als ein vorsichtiges Klopfen an meiner Tür erklang, schwieg ich. Die Tür ging trotzdem auf und zu meiner Überraschung trat Shirin ein. Ihr Gesicht war angespannt. Sie musterte mich eingehend.
»Ist Mila in ihrem Zimmer?« Rufus tauchte hinter ihr auf, konnte aber nicht hinein, weil ihm Shirins Arm, der mehr denn je an ein aus Ebenholz geschnitztes Kunstwerk erinnerte, den Weg versperrte. »He, was soll denn das?«
»Möchtest du allein sein?«, fragte Shirin mich.
Ich hegte keinen Zweifel, dass sie, wenn ich bejaht hätte, meinem Bruder den Eintritt verweigert hätte, egal, was er dazu sagen mochte. Doch jetzt, da ich Rufus’ aufgebracht funkelnde Augen sah, wollte ich ihn bei mir haben. Also schüttelte ich den Kopf und brach in Tränen aus, als mein Bruder mich fragte, was zur Hölle denn passiert sei. Ich krallte mich an ihm fest und brachte nicht mehr als die Worte »Sam« und »Auszeit« hervor. Erst als der Druck ein wenig nachließ, konnte ich vom merklich verstörten Rufus ablassen. Sogleich zog Shirin mich an sich und flüsterte mir beruhigende Worte zu. Offenbar machte es ihr weniger aus, aufgelöste Teenagermädchen zu trösten.
»Mensch, Mila. Ich begreife nicht ganz, warum es dir so elend geht, wenn du doch diejenige bist, die Sam aufs Abstellgleis gestellt hat.« Rufus rutschte umher, als hocke er auf heißen Kohlen.
»Begreifst du das wirklich nicht, du dummer Junge?« Es gelang Shirin, die Frage mit einer gewissen Milde rüberzubringen. Offenbar tat ihr mein Bruder in dieser Situation fast ein wenig leid.
»Es ist … na ja, ziemlich widersprüchlich, oder? Wenn sie mit Sam zusammen sein will, hätte sie ihn doch nicht wegschicken müssen. Dass es dem jetzt schlecht geht, kapiere ich. Aber ihr?« Rufus zuckte mit den Achseln, dann blinzelte er. Offensichtlich war ihm eine Idee gekommen. »Jemand sollte unbedingt nach Sam sehen. Wie es ihm geht. Wo steckt er denn eigentlich?«
Die Erkenntnis, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wo Sam sich gerade aufhielt, dass ich nicht einmal mehr ein Recht darauf hatte, es zu wissen, trieb mir erneut die Tränen in die Augen.
»Scheiße, Mila. Hör auf damit. Ich werde noch ganz verrückt, wenn du so rumheulst.« Egal, wie derb Rufus es auch formulierte, ich wusste, es war reiner Ausdruck von Bruderliebe. Es machte ihn tatsächlich verrückt, mich in diesem Zustand zu sehen, aber ich konnte mich einfach nicht beherrschen.
Zu meiner Erleichterung übernahm Shirin das Ruder. »Samuel hält sich irgendwo in dieser Gegend auf. Ich kann seine Gegenwart spüren, aber er verweigert mir jegliche Antwort. Ich komme mental nicht einmal in seine Nähe. Bestimmt hält er sich am Meer auf, hat sich zurückgezogen, um seine Wunden zu lecken. Geh und sieh du nach ihm, ich bleibe bei Mila. Und sag Ranuken, er soll den Kühlschrank in Ruhe lassen und Kastor holen gehen. Nur für den Fall, dass Samuel mehr als einen Freund braucht.«
Rufus nuschelte aufgebracht vor sich hin, dann berührte er zaghaft meinen Oberarm. Ich schniefte wenig damenhaft, nickte ihm aber aufmunternd zu. »Geh du zu Sam, er braucht jetzt bestimmt einen Freund. Wenn Shirin bei mir bleibt, ist das vollkommen in Ordnung. Dann kann ich mich wenigstens hemmungslos ausweinen.«
»Das kannst du auch bei mir«, sagte Rufus so treuherzig, dass ich sofort wieder zu schluchzen anfing.
»Hau schon ab«, brachte ich gerade noch hervor, dann vergrub ich mich in Shirins Armen.

Der Abend war bereits angebrochen, als ich mich wieder leidlich im Griff hatte. Shirin hatte mir eine Decke um die Schultern gelegt und mich für höchstens eine Minute allein gelassen, um ein Glas Milch und eine Tafel Schokolade aus der Küche zu organisieren. Zuerst wurde mir allein bei dem Gedanken schlecht, etwas herunterbekommen zu müssen, aber nach dem ersten Bissen merkte ich, wie ausgehungert ich war. Ganz gleich, wie wund sich mein Inneres anfühlte, ich musste essen. Meine Nerven flatterten eh schon schlimm.
Während ich voll Widerwillen auf der Schokolade herumkaute, nahm Shirin meinen Zeichenblock auf und sah sich das unvollendete Ginkgoblatt an.
»Du hast das Blatt noch nicht ganz fertig gemalt. Warum? «
»Weil ich nicht weiß, wie ich es zu Ende bringen soll. Dort unten, wo die beiden Hälften des Blattes zusammengehen … soll ich sie so malen, als wären sie eins oder als wären sie zwei zusammengefügte Hälften?«
Anstatt zu antworten, saß Shirin wie erstarrt da. Ich hatte diesen Zustand bereits bei anderer Gelegenheit an ihr beobachtet. Von hundert runter auf null. Wenn sie über etwas Wichtiges nachdachte, stellte sie innerhalb einer Sekunde sämtliche Lebenszeichen ein. Einmal Fingerschnipsen, und weg war sie. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie sich jahrelang nicht gerührt und sich anschließend gewundert hätte, dass mir in der Zwischenzeit graue Haare gewachsen waren. Was mir erneut vor Augen führte, wie groß der Graben zwischen einer Schattenschwinge und einem Menschen war: Während Zeit für uns Menschen nicht nur eine Abfolge von Ereignissen, sondern auch das Verrinnen unseres Lebens bedeutet, konnten Schattenschwingen sich den Luxus leisten, sie zu ignorieren. Auf sie wartete nicht das Ende, sondern die Ewigkeit.
»Eigentlich hast du deine Entscheidung doch schon getroffen«, riss Shirin mich aus meinen trüben Grübeleien. »Wenn du ehrlich bist: Für dich fügen sich zwei Hälften zu einem zusammen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Durch das Schmuckstück, das du an deiner Hand trägst. Dieser schmale Bernsteinreif gehört zu einem anderen, gemeinsam haben sie einen Ring ergeben. Ihr habt ihn in zwei Hälften geteilt und damit hast du Samuel zu einem Teil von dir gemacht. Ihr seid jetzt in gewisser Weise eins, durch eure eigene Entscheidung.«
Ich runzelte die Stirn. »Deshalb lässt er sich also nicht wieder abziehen.«
»Das hast du versucht?« Shirin klang ernsthaft überrascht. »Der Ring wird an deinem Finger stecken, solange du Samuel liebst. Er ist zu einem Teil von dir geworden, er braucht die Berührung von dir. Ein Paar kann sich seiner Liebe gewiss sein, solange sie beide den Ring tragen. Du magst Samuel fortschicken, aber den Ring ablegen kannst du deshalb noch lange nicht. Das ist eine der besonderen Eigenschaften dieser kleinen Kunstwerke.«
»Das hat Sam mir gar nicht erzählt.«
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Dann hatte sich an seinen Gefühlen also genauso wenig geändert wie an meinen. Es waren die Umstände, die sich gegen uns richteten, das Leben in zwei so vollkommen verschiedenen Welten.
»Vermutlich weiß er selbst nichts darüber. Anders kann ich mir auch nicht erklären, warum er ihn dir geschenkt hat, anstatt ihn schleunigst im Meer zu versenken. Mit dieser Art von Ringen geht eine große Verantwortung einher. Ihre Wirkung ist auf den ersten Blick nicht leicht auszumachen, schwerer als etwa bei meinen Sklavenringen, aber das ändert nichts daran, dass die Bindung unendlich viel stärker ist. Zum Sklaven wird man, weil man keinen eigenen Willen hat, aber sich in Liebe zu jemandem zu bekennen … In der Sphäre ist ein solcher Liebesbeweis nichts Leichtfertiges wie in deiner Welt, Mila. Dieser Ring wird Samuel verändern und er wird dich verändern. Ich wüsste zu gern, woher er ihn hat. Hat er es dir verraten?«
Ich schüttelte den Kopf.
Shirin blätterte nachdenklich in meinem Block herum und sah sich die Zeichnungen an. Normalweise mochte ich es nicht, wenn jemand das tat. Es kam mir so vor, als würde man in meinem Tagebuch herumstöbern. Es waren zwar viele Übungsskizzen darin, aber auch sehr intime Eindrücke. Wenn ich malte, erkannte ich einiges, und nicht alles wollte ich meiner Umwelt mitteilen. Bei Shirin war es jedoch etwas anders, vor ihr brauchte ich mich nicht zu verstecken. Davon abgesehen, dass sie als Schattenschwinge ohnehin wie in einem Buch in mir las, machte sie selbst aus ihren eigenen Schwächen und Verwundungen kein Geheimnis.
Gerade betrachtete sie die Zeichnung, die ich von ihr gemacht hatte. Oder auch nicht, denn ihr Blick ging ins Leere, während ihre Fingerspitzen die Brandzeichen in ihrer von mir gemalten Aura abtasteten. Dabei verwischte die Kohle leicht. Ich wollte sie darauf hinweisen, dass es mir später sonst unmöglich sein würde, die Zeichen zu lesen – und das wollte ich eines Tages, wenn ich den Mut dazu aufbrachte. Doch Shirin kam mir zuvor.
»Ich habe mir einen solchen Ring, wie er jetzt an deinem Finger steckt, immer gewünscht. Trotz der Zeichen, die ich bereits trage.« Ihre Stimme klang noch dunkler als sonst, als käme sie von weit her, ein Echo aus einer anderen Zeit. »Als ich damals in die Sphäre geleitet worden bin – damals wurde man noch von den anderen Schattenschwingen gesucht und gleich einem schmerzlich vermissten Kind nach Hause gebracht – war sie nicht der verwilderte Ort, den du kennengelernt hast, sondern viel mehr das komplette Gegenteil. Wenn du sämtliche großen Städte, die ihr Menschen mittlerweile hervorgebracht habt, zusammenlegen würdest, bekämst du trotzdem nur eine ungefähre Ahnung von der Welt, die wir Schattenschwingen geschaffen hatten. Wir können Paläste entstehen lassen, die an keine irdischen Gesetze gebunden sind, denn wir erschaffen im Gegensatz zu euch nicht mit unseren Händen, sondern mit unserem Willen.«
»Ich weiß«, sagte ich leise. »Davon habe ich bereits einen Eindruck bekommen, als Sam Erinnerungen manipuliert hat.«
Shirin senkte kurz den Blick, als offenbarte sich ihr eine beschämende Erinnerung. »Es gibt immer zwei Seiten der Medaille. Allerdings besteht ein wesentlicher Unterschied zu dem, was Samuel getan hat: Die von uns geschaffene Stadt existierte in uns Schattenschwingen und nicht in den Köpfen der Menschen. Sie war keine Illusion, sie war real. Und sie war perfekt. Wenn du einen Blick auf sie hättest werfen können, dann hättest du sie nie wieder verlassen wollen.« Shirin machte eine Pause und ihr Ausdruck verfinsterte sich. »Aber das war alles nur schmückendes Beiwerk. Unsere wahren Fähigkeiten liegen ganz woanders. Als wir sie auszuspielen anfingen, konnten auch die bezauberndsten Teile der Sphäre nicht länger darüber hinwegtäuschen, wozu wir wirklich imstande waren. Wir können Welten in Paradiese verwandeln, aber wir können sie auch in die Hölle hinabschmettern. «
»Auch unsere Welt?« Ich traute mich kaum, die Frage auszusprechen.
»Unsere Welten sind durch Pforten miteinander verbunden – und nicht nur dadurch. Du glaubst die Vergangenheit der Menschen zu kennen, aber du darfst nicht vergessen, Mila: Erinnerung ist umformbar.«
Heimgesucht von einer plötzlichen Furcht, wich ich vor Shirin zurück. Vor mir saß keine Frau, die sich nur durch ihre Schwingen und ihre leuchtende Aura von mir unterschied. In dieser menschlichen Hülle steckte ein Wesen, dessen Macht ich nicht einmal ansatzweise kannte. Im Augenblick mochten die Schattenschwingen dazu entschlossen sein, ihre Fähigkeiten zu unterdrücken. Ja, die Jüngeren unter ihnen hatten nicht einmal eine Ahnung davon, wozu sie eigentlich imstande waren. Das änderte sich dank Sam und seiner Dickköpfigkeit nicht nur gerade, ich konnte außerdem nicht sagen, wie lange dieser Stillstand überhaupt angedauert hatte. Wenn ich Shirin richtig verstand, hatte es einen Krieg unter den Schattenschwingen gegeben, der auch unsere Welt in Mitleidenschaft gezogen hatte – nur dass wir uns daran nicht mehr erinnerten. Wann hatte dieser Krieg stattgefunden, der einen Großteil der Sphäre verwüstet hatte? Welchen Schaden hatte er in unserer Welt angerichtet? »Erinnerung ist umformbar« – Was verbarg sich bloß hinter dieser Losung?
Unterdessen bekam Shirin nichts von meiner Reaktion mit, sie war zu sehr auf ihr Inneres konzentriert. »Nach meinem Eintritt in die Sphäre habe ich lange nichts von den Vorgängen verstanden, denn ich habe noch am Abend meiner offiziellen Einführung ihn kennengelernt. Danach hatte ich einfach keinen Sinn dafür, ich war vollends mit meinen Gefühlen beschäftigt. Vielleicht kannst du es ansatzweise nachempfinden, wenn ich dir sage, dass ich außer ihm nichts gesehen habe.«
Ich brauchte nicht einmal zu nicken, um Shirins Vermutung zu bestätigen. Ja, ich wusste, wie es war, nichts außer dem einen Stern am Himmel zu sehen, weil man von ihm geblendet war.
»Dabei hat er meine Liebe nicht einmal erwidert. Ich gehörte ihm, ich war sein Eigentum, aber im Kopf hatte er stets nur seine Machtpläne. Alles drehte sich um die Erfüllung seiner Wünsche. Ich war kein Wunsch, der ihm erfüllt worden war, sondern lediglich eine unterhaltsame Begleiterscheinung. Weißt du, was wahre Sklaverei bedeutet? An jemanden gebunden zu sein, weil man nicht anders kann. Darum trage nur ich diese Armreife, während er nie etwas Bindendes auch nur in seiner Nähe geduldet hat.«
Erneut verfiel Shirin in ihre Starre und ich nutzte die Gelegenheit, um tief Luft zu holen. Wollte ich das alles wirklich wissen? Doch ehe ich eine Entscheidung treffen konnte, sah Shirin mich mit ihren Wüstensandaugen an, die von einer Oase kündeten, die es schon lange nicht mehr gab. Bei unserer ersten Begegnung hatte ich geglaubt, die Oase sei wie so vieles dem Wandel der Zeit zum Opfer gefallen. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Durften Sklaven über eigene Pforten verfügen? Mein Instinkt sagte mir nein.
»Ich war ein wenig älter als du, wenn auch bedeutend ahnungsloser in Liebesdingen, als ich ihm auf einem Ball vorgestellt worden bin. Solche Bälle wurden in der Sphäre zu jedem Jahreszeitenwechsel veranstaltet – oder vielmehr läuteten sie den Jahreswechsel ein.«
Shirin schenkte mir ein Lächeln, das mir wohl klarmachen sollte, dass es gut möglich war, dass nicht einmal die Jahreszeiten etwas Naturgegebenes waren, sondern ein Relikt der Schattenschwingen-Künste. Ich erwiderte das Lächeln nicht.
»Er war ein imposanter Mann, mit einer beeindruckenden Ausstrahlung. Man konnte sich ihm nicht entziehen, selbst wenn er einem keinerlei Beachtung schenkte. Genau das war es, was mich reizte: die vielfältigen und stets intensiven Reaktionen, die er in mir wachrief. Erst wenn man einmal in seinem Lichtschein gestanden hatte, wusste man, was Helligkeit bedeutet. Ab da fürchtete ich mich davor, wieder in der Dunkelheit zu stehen. Möchtest du wissen, wie es war, an seiner Seite und doch nur eine Sklavin zu sein, Mila?«
»Ja«, sagte ich, obwohl sämtliche Alarmglocken gleichzeitig in mir losschrillten. Ich kam mir vor wie in einem dieser Träume, in denen man auf schwarzes Wasser blickt und weiß, dass es nichts Gutes birgt und dass es einen beflecken wird. Trotzdem springt man hinein, angezogen von dem Reiz, der allem Verbotenen innewohnt. Ich wollte wissen, welche dunklen Seiten Shirin mir offenbaren konnte – sowohl was die Liebe, als auch was die Schattenschwingen betraf. Ich musste es wissen, auch wenn ich mich davor fürchtete.
»Die Brandzeichen in meiner Aura«, erklärte Shirin mir. »Zeichne nur sie, lass dich ganz und gar auf sie ein. Sie werden es dir erzählen.«
Bevor ich mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen ließ, griff ich nach dem Block und nahm einen der Stifte, die auf der Fensterbank herumlagen. Die Zeichen in Shirins hell aufleuchtender Aura brannten sich auf meiner Netzhaut ein, bis ich kaum noch hinschauen musste, um sie abzubilden. Schon als ich die Mine ansetzte, begriff ich, was Shirin mit »erzählen« meinte: Es brauchte nicht lange und die Zeichen sogen mich in sich hinein. Mit jedem Strich setzte sich vor meinem inneren Auge eine Welt zusammen, die es schon lange nicht mehr gab.