24
Shirins Geschichte
Ein Saal aus Glas inmitten des nachtblauen Himmels. Der Ballsaal, endlich. Der Anfang eines neuen Lebens.
Ein Hochgefühl breitete sich gleich Sonnenstrahlen in ihrer Brust aus, als Shirin den ersten Schritt auf den spiegelglatten Boden setzte, aus dem goldenes Licht emporstieg und die Gäste anstrahlte. Nicht, dass die Gäste es nötig gehabt hätten, leuchteten die meisten von ihnen doch selbst wie unzählige Kerzen und tauchten auch ihre menschlichen Begleitungen, die nicht über eine solche innere Kraftquelle verfügten, in einen sanften Schein.
Es war der Ball, der das Frühjahr einläutete – und zugleich das offizielle Eintreten der neu Angekommenen in die Gemeinschaft der Schattenschwingen.
Obwohl es Shirin danach drängte, sich unter die Tanzenden zu mischen, blieb sie neben Samir stehen und zog lediglich eine Spur zu ungeduldig das smaragdfarbene Seidentuch zurecht, in das sie sich so gewickelt hatte, dass ihre Schwingen ausreichend Bewegungsfreiheit hatten. Dann griff sie sich auch noch ins Haar, das sie kunstvoll mit unzähligen goldenen Nadeln hochgesteckt hatte. Vermutlich sah sie aus wie eine Schmuckschatulle.
Samir, der vor einigen Wochen bei der Karawane ihrer menschlichen Familie erschienen war, um ihren ersten Wechsel in die Sphäre zu begleiten, erriet ihre Unruhe trotzdem und blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Glaub mir, erstens siehst du wunderbar aus. Du ziehst die Blicke auf dich wie ein Schwarm Fische. Zweitens wird heute noch die ganze Nacht lang getanzt, dir entgeht also nichts. Außerdem verspreche ich dir, dass es für dich ein Vergnügen sein wird, in unsere Gesellschaft eingeführt zu werden. Es geschieht ganz ungezwungen. Wir spazieren umher und ich stelle dich den führenden Köpfen unter den Schattenschwingen vor. Und damit du mir auch glaubst, fangen wir bei dem interessantesten von ihnen an: Ask. Er ist unser ungekrönter König. Seine Fähigkeiten sind beispiellos. Wenn du dich in seiner Nähe überfordert fühlst, dann mach dir nichts daraus. Das geht uns nämlich allen so.«
»Na, dann hoffe ich einmal, dass dein Ask genauso beeindruckend ist, wie du behauptest, Samir. Ich weiß nämlich nicht, was für eine Art von Musik das ist, die hier gespielt wird, aber sie bringt Leben in meine Füße. Es ist eine Schande, auf diesen Tanz zu verzichten.«
Samir lachte und führte sie geschickt durch die Reihen der plaudernden Ballgäste, unter denen die Debütanten allesamt an ihrem glasigen Blick und ihren angespannten Schultern – wegen der ungewohnten Last der Schwingen und ihrer Aufregung – zu erkennen waren.
Für Shirin war alles ein großes Fest, genau wie sie es sich ihr ganzes Leben lang erträumt hatte. Ihre Familie hatte sie gehütet wie einen kostbaren Edelstein, ab dem Moment, wo sie als Neugeborenes die Augen aufgeschlagen hatte und ihre Iris nicht veilchenblau, sondern vom gleichen Ton wie der Wüstensand gewesen war. Für ihre Familie war sie ein Kleinod gewesen, das zu hüten ihnen nur kurze Zeit vergönnt war, bevor sie in die Sphäre eintrat. Für Shirin war es jedoch kein echtes Leben gewesen, sie hatte sich fremd gefühlt im engen Kreis des Beduinenvolkes, und nur das Wissen, dass man sie holen würde, sobald sie bereit dafür war, hatte sie nicht an der Einsamkeit zerbrechen lassen. Mit der heutigen Nacht würde endlich das echte Leben beginnen, sie würde frei sein, ein himmlisches Wesen, dazu geschaffen, ein höheres Werk zu erfüllen. Die strengen Regeln ihres Volkes hatte sie in der Menschenwelt zurückgelassen, die sie nicht so schnell wieder besuchen würde.
Oder vielleicht doch?
Tief in ihr hatte sich bereits nach ihrem ersten, verwirrend aufregenden Wechsel durch ihre Oase eine Sehnsucht in ihr aufgetan. Vor allem sehnte sie sich nach den Sandhügeln und der sengenden Hitze, aber auch nach der Stimme ihrer Mutter und dem strengen, aber liebenden Blick ihres Vaters. Vielleicht würde jetzt ja alles anders sein, wo sie endlich eine Schattenschwinge war? Warum sollte es ausgerechnet ihr nicht gelingen, in zwei Welten zu leben? Alle anderen meisterten diesen Spagat doch allem Anschein nach mit Leichtigkeit.
Shirin wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Samir unvermittelt stehen blieb. »Übrigens, eine Sache noch vorab, weil sie dir seltsam erscheinen wird: Wir alle lieben es, kleine Insignien zu tragen, die auf unsere Pforte verweisen. « Mit unverhohlenem Stolz deutete Samir auf die ovale Brosche, die an seiner Brust steckte. Zuerst dachte man, es handele sich um einen Spiegel, doch er stand für eine Regenpfütze. Das war in vielen Ländern der Erde nichts Besonderes. In dem trockenen Land, in dem Samir geboren worden war, allerdings schon. Somit stand seine Pforte auch für ein Stück Hoffnung. »Ask hingegen verzichtet nicht nur auf ein solches Symbol, er macht sogar ein Geheimnis um seine Pforte. Frag mich bitte nicht, warum.« Dann deutete Samir auf den breiten Rücken eines Mannes, der umringt von einer Vielzahl anderer Gäste vor ihnen stand: »Bist du bereit?«
Shirin glaubte, sich verhört zu haben. »Das ist Ask? Aber er ist doch nur ein Mensch …«
Nicht die geringste Spur einer Aura umgab den Mann und darüber hinaus trug er ein Hemd, das seinen gesamten Rücken bedeckte, sodass seine Schwingen keine Möglichkeit hatten hervorzutreten – es sei denn, er wollte mit einem zerrissenen Hemd dastehen. Alle anderen Schattenschwingen trugen ihre Schwingen ganz selbstverständlich offen. Es nicht zu tun, kam Shirin befremdlich vor. Als würde er seine Natur verleugnen …
Doch als Ask sich umdrehte, waren all diese Überlegungen mit einem Schlag vergessen. Sie sah nur seine dunkelgrauen Augen und begriff, dass Ask es nicht nötig hatte, die Attribute zu betonen, die ihn von den Menschen unterschieden. Er war mehr Schattenschwinge, als sie alle es waren. Ihr ungekrönter König, hatte Samir gesagt, und damit hatte er nicht übertrieben. Nur war es nicht das Ausmaß an Macht, das Shirin in den Bann zog. Es war der Mann vor ihr, der die Hand zum Gruß ausstreckte und behutsam ihre Stirn berührte.
»Wie schön, dass du deinen Weg zu mir gefunden hast«, sagte Ask und Shirin stöhnte leicht auf, denn jedes einzelne seiner Worte grub sich in ihr ein.
»Zu uns, meinst du wohl«, mischte Samir sich ein. »Es ist schön, das Shirin jetzt bei uns in der Sphäre ist.«
Es war Samir anzumerken, dass das Asks Begrüßung nicht die war, die er erwartet hatte. Und allem Anschein nach auch niemand anders, denn um sie herum verstummten die Gespräche. Doch Shirin kümmerte sich nicht darum. Sie kümmerte sich auch nicht um den verletzten Ausdruck auf Samirs ansonsten stets gelöstem Gesicht, als Ask sie zur Tanzfläche führte und dort Stunde um Stunde in seinen Armen hielt. Die wenigen Tage in Freiheit, die sie in der Sphäre genossen hatte, verloren an Bedeutung, genau wie ihre Pläne und Hoffnungen. Es gab nur noch diese schattengrauen Augen und das Verlangen, dass sie auf ihr ruhen mögen.

Wann ist er gegangen?, fragte sich Shirin beim Erwachen mit einem Anflug von Panik.
Eben noch war er ihr so nah gewesen, mit ihrem Körper verschmolzen, wenn auch nicht mit ihrem Herzen. Deshalb fiel es ihm auch nach Jahren des Zusammenlebens nicht schwer, sie einfach zu verlassen, unabhängig davon, was sie soeben noch miteinander geteilt hatten. Ihre Verlorenheit trat ihr nie so deutlich vor Augen, wie wenn sie nach einer Liebesnacht allein aufwachte. Dabei war die Einsamkeit in diesen Tagen zu ihrer steten Begleiterin geworden. Die Sphäre war vom Wahnsinn befallen, um sie herum stürzten ganze Landstriche gleich einem verfallenen Gebäude ein, aber sie konnte nur daran denken, wie unerträglich ihr seine Abwesenheit war. Nein, noch ein anderes Thema vermochte sie zu berühren: ihre Oase, die mitsamt den sie umgebenden Sanddünen in einen bodenlosen Abgrund gestürzt war.
»Ich habe es getan, damit dir leichter ums Herz ist«, hatte Ask ihr seine Tat erklärt. »Die Sehnsucht nach deinem alten Leben, das du in Wahrheit gar nicht mehr wolltest, hätte dich sonst noch aufgefressen. Außerdem lebte niemand mehr von denen, die du einst deine Familie genannt hast. Deine ganze Sehnsucht war verschenkt. Manche Türen in die Vergangenheit müssen geschlossen werden, damit man die Räume der Gegenwart bewohnen kann. Und wer ist deine Gegenwart?«
»Du natürlich«, hatte sie gehorsam erwidert und den Blick gesenkt, damit er nicht sah, wie sehr sie sich für dieses Geständnis schämte.
Wenn sie nur einen Funken Stolz im Leib gehabt hätte, hätte sie ihm zumindest vor die Füße gespuckt. Dass sie nicht gegen ihn ankam, wusste sie nur allzu genau, obwohl sie ihre Begabung als Schattenschwinge schon einige Male unter Beweis gestellt und sie sich im Lauf der Zeit insgeheim einige von Asks Fähigkeiten angeeignet hatte. Nur hatte er keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, ihr seine Überlegenheit zu demonstrieren. An seiner Seite durfte sie ihre Gaben bestenfalls an ihrem Garten ausprobieren, der dank ihrer Magie alle anderen Gärten der Sphäre an Schönheit übertraf. Mehr nicht. Was Shirin sich selbst jedoch viel mehr nachtrug, war, dass sie ihn nicht einmal mit Verachtung gestraft hatte, nachdem er ihre Oase vernichtet hatte. Stattdessen war sie seit deren Zerstörung sklavisch darum bemüht, Ask nichts von ihrem Kummer spüren zu lassen.
Dabei fürchtete sie keineswegs seine Bestrafung, obwohl er sich auch in diesem Fach als wahrer Meister herausgestellt hatte. Es war jene Art von Bestrafung, mit der er einen dazu brachte zu leugnen, wer man war. Wann hatte sie zum letzten Mal ihren eigentlichen Wesenskern gespürt? Das stolze, temperamentvolle Mädchen, das sie einst gewesen war? Die vielversprechende junge Schattenschwinge, die den wohlwollenden Samir kurz nach ihrem Eintritt in die Sphäre vor lauter Übermut mit einem komplizierten Bann belegt hatte? Einem Bann, den nur ein Freund Samirs, der eine der höchsten Schattenschwingen war, hatte aufheben können! Das junge Mädchen mit dem großen Talent und den großen Erwartungen ans Leben? Sie konnte sich nicht erinnern und sie versuchte es auch gar nicht erst. Wenn sie an Asks Seite eines gelernt hatte, dann war es demütiges Ertragen: sein Desinteresse, seine Grausamkeit, seine rastlose Suche. Für ihn war sie nichts als ein Ruhepol, den er ganz nach Belieben in Beschlag nahm, um dann wieder weiterzuziehen. Es sei denn, er bemerkte, dass ihre Gedanken auf etwas anderes als ihn gerichtet waren. Dann bekam sie seine herrische Seite zu spüren. Nichts fürchtete Shirin mehr. Das war ein weiterer quälender Aspekt ihrer Liebe zu Ask: Sie fürchtete ihn mindestens genausosehr, wie sie ihn liebte. Aber immer noch nicht genug, um sich von ihm abzuwenden. Allein die Vorstellung war schier unerträglich.
Einen Fuß vor den anderen setzte Shirin auf den schwarzen Steinboden, dessen polierte Oberfläche aller Vernunft zum Trotz nicht ihr Spiegelbild zeigte. Der Schlafsaal war in dem Bauwerk, das Ask geschaffen hatte, der unscheinbarste Winkel. Hier herrschte ewiges Zwielicht und die Seitenwände verloren sich in der Dunkelheit. Manchmal, wenn Shirin sich, zu erschöpft zum Schlafen, auf dem Lager herumwälzte, kam es ihr so vor, als gäbe es keine Decke über ihrem Kopf, sondern nur einen ausgebreiteten Schatten, der sie allmählich erstickte. Unruhig drehte sie sich dann auf den Decken und unterdrückte ihre Schwingen, die sie hinauftragen wollten, damit sie sich endlich selbst davon überzeugen konnte, woraus die Decke des Schlafgemachs bestand. Aber sie wagte es nicht. Dieser Raum gehörte Ask nicht nur, er war dieser Raum. Ebenso düster und geheimnisvoll, und gleichzeitig das Zentrum ihres Verlangens.
Unschlüssig, was zu tun sei, lief Shirin umher. Sie fühlte sich wund und zerschlagen. Ein Bad wäre genau das Richtige, um die Schmerzen zu lindern und die Spuren der gemeinsamen Nacht abzuwaschen. Nur wollte sie genau das nicht. Schließlich wusste sie nicht, wann Ask wieder zu ihr kommen würde, denn manchmal vergaß er sie für eine längere Zeit, vollkommen gefangen in seinem geheimnisvollen Tun. Da wollte sie seine Spuren wenigstens noch einen Moment an sich behalten.
Shirin schob den schweren Vorhang beiseite, der das Tageslicht aussperrte, und trat auf den ausladenden Balkon. Über ihr spannte sich ein morgendlicher Himmel und zu ihren Füßen lag der Garten im sattesten Frühjahrsgrün. Ihr Garten, ein Geschenk von Ask. Oder vielmehr eine milde Gabe, damit sie nicht vor Langeweile umkam, während er die Sphäre gegen alle Widerstände in sein Herrschaftsgebiet verwandelte. Obwohl sie nie auch nur ein Wort darüber verlor, wusste Shirin mittlerweile nur allzu genau, wonach es Ask dürstete, auch wenn sie bestenfalls eine ungefähre Ahnung davon hatte, wie weit er dafür zu gehen bereit war.
Das warme Licht kitzelte Shirins Nase und sie überließ sich dem Gefühl, obwohl sie wusste, dass es nicht echt war. Der ganze blaue Himmel war es nicht. Er war eine Illusion, die sie vor einigen Tagen geschaffen hatte, weil der echte Himmel der Sphäre von einer giftigen Rauchschicht bedeckt war. Um Asks Heimatstatt herum schwelten Brände zwischen den Trümmern und anstatt ihre heimlich erworbenen Fähigkeiten dagegen einzusetzen, nutzte sie sie nur, um die Augen vor der Wahrheit zu verschließen.
Es war besser, nicht darüber nachzudenken, sondern hinab in den Garten zu gehen und zu arbeiten, beschloss Shirin. Während sie ihr Reich gestaltete, fühlte sie sich manchmal wie die Schattenschwinge, die sie eigentlich hätte werden sollen. Dann spürte sie der Macht ihrer Aura nach, nutzte sie dafür, Unmögliches zu erschaffen. In letzter Zeit musste sie dabei immer öfter an Samir denken, jene Schattenschwinge, die sie damals in die Sphäre geleitet hatte. Wie beeindruckt er von ihrem Können gewesen war, wohingegen Ask nur einen missbilligenden Blick dafür übrig hatte.
Shirin verdrängte diesen Gedanken, langte nach einem Tuch und wickelte es sich um den Körper. Sie trat gerade an die Balustrade, da hörte sie einen Schrei. Oder vielmehr das ferne Echo eines Schreis.
»Das muss von außerhalb kommen«, sagte Shirin laut, um der Feststellung mehr Nachdruck zu verleihen. »Was außerhalb meines Gartens passiert, geht mich nichts an.«
Aber der Schrei kam nicht von außerhalb.
Die Härchen an Shirins Armen hatten sich aufgestellt und ihre Handflächen wurden feucht. Niemand hatte Zutritt zum Garten außer Ask und ihr. Um Gewissheit zu erlangen, musste sie bloß ihre Aura benutzen, dann würde sie sofort wissen, wer in ihrem Garten diesen Schrei ausgestoßen hatte. Dann würde Ask jedoch zwangsläufig erfahren, dass sie ihn gehört hatte, und das wollte sie nicht.
Dieses Mal will ich die Wahrheit wissen, nicht, was er mir stattdessen vortäuschen würde, beschloss sie. Es ist schließlich mein Garten.
Dieser Gedanke, als sie ihn endlich zuließ, wischte die Selbsttäuschung endgültig beiseite. Sie wusste, er war dort unten, irgendwo in ihrem Garten mit jemand anderem. Ihr Garten, ihr Geschenk – wie konnte er es wagen? Trotzdem wollten die Beine ihr den Dienst versagen, als sie zwischen den liebevoll gesetzten Blumen, Gräsern und Bäumen hindurchlief, zu ängstlich, um ihre Schwingen zu benutzen. Sie wollte wissen, was Ask tat. Er sollte keine Möglichkeit haben, sie vorab zu bemerken. Dieses Mal würde sie ihr Gesicht nicht vor der Wahrheit verschließen.
Der Garten war groß wie ein Park, doch Shirin ahnte, in welche Richtung sie laufen musste. Umgeben von altem Baumbestand gab es eine Lichtung, auf der sich ein tiefschwarzer Steinquader von gut fünf mal drei Schritten Durchmesser erhob. Er war dort gewesen, bevor Ask den Garten geschaffen hatte. Selbst ihm, dem mächtigsten unter den Schattenschwingen, war es nicht gelungen, den Stein fortzubewegen. Also hatte Shirin versucht, dieses Monstrum in den Garten zu integrieren. Doch jedes Mal, wenn sie sich ihm näherte, spürte sie: Woraus auch immer der Stein bestehen mochte, es ging nichts Gutes von ihm aus. Asks Interesse hingegen hatte er geweckt. Die Vermutung lag nah, dass er endlich eine Verwendung für den Quader gefunden hatte.
Behutsam suchte Shirin sich ihren Weg durch die Bäume, halb aufgefressen von der Angst, sich jeden Augenblick zu verraten. Denn dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag, wurde ihr mit jedem Schritt deutlicher.
Ask war auf der Lichtung. Mit einer Frau, wenn sie die Schreie, die immer wieder aus dem Labyrinth der Baumstämme erklangen, richtig deutete. Nicht mehr so durchdringend wie der erste, sondern erstickter, dafür jedoch rasch an Tempo zunehmend. Shirin ahnte den Grund für diese Schreie, schließlich entwichen sie allzu oft ihrem eigenen Mund, wenn Ask bei ihr war. Trotzdem war sie keineswegs auf den Anblick vorbereitet, der sich ihr bot, als sie den Saum der Lichtung erreichte und ihren Liebsten vor dem hüfthohen Quader stehen sah. Seine sich scharfzackig abzeichnende Aura warf ein kühles Licht.
Die Schattenschwinge, die sich vor Ask auf dem Steinaltar wand, das Gesicht vor Lust verzerrt, kam Shirin bekannt vor. Sie waren einander vorgestellt worden, doch bei welcher Gelegenheit, daran konnte Shirin sich nicht mehr erinnern. Wie so vieles aus ihrem Leben in der Sphäre verschwand auch das in einem dichten grauen Nebel. Nur in ihrem Garten gestattete sie sich eine Wachsamkeit, die nun bestraft werden würde, denn diese Begegnung würde sie niemals vergessen, so viel stand fest. Sie brannte sich ihr ein wie ein glühender Schürharken, der in ihr Herz getrieben wurde.
Das strohblonde Haar der anderen lag ausgebreitet auf dem schwarzen Stein, ihre Haut war makellos rein und die Wangen von einem zarten Rosa überzogen. Sie war das komplett Gegenteil von Shirin, nur eine Sache verband sie: Beide gaben sie sich Ask mit derselben Leidenschaft hin.
Erneut gab die Schattenschwinge einen heiseren Schrei von sich und streckte ihr Hand nach Ask aus. Wenn sie ihn zu fassen bekam, würde der süße Schmerz vielleicht endlich gelindert werden. Doch er war schneller, packte ihr Handgelenk und drückte es nieder auf den Stein, um ihr Begehren noch zu steigern. Dann blickte er über die Schulter zu Shirin hinüber und lächelte.
Shirin schlug sich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Er hatte gewusst, dass sie dastand, es vermutlich sogar darauf angelegt, sie herbeizulocken, damit sie … Gleißende Wut brannte in ihr auf. Sie spürte ihre Aura aufleuchten, so wie sie es noch nie zuvor in Asks Gegenwart gewagt hatte. Sie wollte diese Wut zu einem Bann formen, sich an den beiden rächen. In diesem Augenblick war sie sich absolut sicher, dass sie in der Lage dazu wäre, die mächtigste Schattenschwinge der Sphäre zu bannen. Doch das hätte bedeutet, Ask zu verlieren … unmöglich. Shirins Rachegedanken verloren sich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihrem Liebsten zuzusehen. Sie konnte sich weder abwenden noch einschreiten.
Um den Steinquader herum verdunkelten sich unterdessen die Schatten. Sie begannen zu zittern, bis ihre Umrisse nicht mehr zu erkennen waren. Schließlich war die Lichtung als solche nicht mehr auszumachen, die in Bewegung geratenen Schatten verbargen sie. Während das unbeständige Grau immer weiter zunahm, begann die Realität zu verblassen. Nur der schwarze Stein stach gestochen scharf hervor und als Ask ihn berührte, gewann auch er an Schärfe. Allerdings hatte sein braunes Haar seine Farbe verloren und zeigte sich in demselben tiefen Schwarz wie der Stein. Selbst seine sonst so goldene Haut war von einem grauen Schleier umfangen, sodass die Schwingen auf seinem Rücken kaum noch zu erkennen waren.
Zwischen Asks Fingern verdichtete sich ein Schemen, als würde er dem Stein Substanz entziehen. Und tatsächlich formte sich nach und nach eine schwarze Klinge in seiner Hand, ein rohes, aber nichtsdestotrotz effektives Werkzeug.
Während die blonde Schattenschwinge mit geschlossenen Augen nach Atem rang und erschöpft auf dem Quader ausgestreckt lag, hob Ask den Arm mit der Klinge.
Das darfst du nicht!, wollte Shirin schreien, doch selbst als Ask sie herausfordernd ansah, blieb sie stumm. Er wollte sie als Zeugin. Dabei war es ihm gleichgültig, wie grausam das für sie war.
Zärtlich strichen Asks Finger über die zarte Haut, die sich über den Bauch seiner Gespielin spannte, was sie ihm mit einem leisen Aufstöhnen entlohnte. Ein silberner Streifen blieb zurück. Als er die Klinge genau so behutsam ansetzte, reagierte sie zuerst, indem sie lustvoll den Rücken durchbog. Dann erst begriff sie, dass tatsächlich ein feiner Schnitt über ihre Haut verlief. Die Augen vor Schreck weit aufgerissen, wollte sie sich aufrichten, doch Ask drängte sie zurück und setzte die Klinge erneut an. Mit dem nächsten Schnitt verließ die Schattenschwinge sämtliche Kraft, nur ihre Augen fuhren in wildem Entsetzen herum, während Ask sein Werk fortsetzte und ihren Körper über und über mit hauchfeinen Schnitten bedeckte, aus denen nur an wenigen Stellen Blutstropfen hervordrangen. Das änderte jedoch nichts an der Grausamkeit seiner Tat, denn von dem Stein drangen Schatten in die geschaffenen Linien und ließen sie schwarz anlaufen.
Irgendwann fanden die Augen der gepeinigten Schattenschwinge Shirin.
In diesem Augenblick hätte Shirin ihr Leben dafür gegeben, sich endlich abwenden oder zumindest ihr Gesicht hinter den Händen verbergen zu können. Stattdessen stand sie da, sah das Entsetzen und die Pein der anderen, ohne das Geringste zu unternehmen. Als wäre das noch nicht genug, kam ihr plötzlich der Name der anderen in den Sinn: Juna. Sie war Mitglied eines Verbundes, der sich mit der Frage beschäftigte, wozu die Fähigkeiten der Schattenschwingen dienen mochten. Nun wusste Shirin auch wieder, wann sie Juna vorgestellt worden war. Ask neigte dazu, sie von allen allgemeinen Belangen der Sphäre fernzuhalten. Sie sollte sich nur für ihn interessieren. Trotzdem war sie eines Tages in ein Treffen hineingeraten, bei dem es um … Sie konnte sich nicht mehr an den Anlass erinnern, nur an die Art und Weise, wie diese Juna Ask angesehen hatte, nämlich voller Neugierde. Offensichtlich war zumindest diese heute ausgiebig befriedigt worden.
»Komm her zu mir, Shirin. Ich kann deine Hilfe gebrauchen. «
Stumm schüttelte sie den Kopf.
»Ich sagte: Komm her.« Asks Ton wurde weder lauter noch schärfer, da er nur zu gut wusste, dass sie seiner Aufforderung schon Folge leisten würde. Er wiederholte sie auch kein weiteres Mal, sondern wartete einfach ab.
Als geschähe es aus eigenem Antrieb heraus, setzten Shirins Füße sich in Bewegung. Zumindest hätte sie sich das gern eingeredet. Später würde sie sich allerdings eingestehen, dass sie ihm gehorcht hatte. Wie immer.
»Nimm die Klinge und treib sie mir unter den Rippenbogen. Du weißt schon, auf welches entscheidende Körperteil du zielen musst. Allerdings darfst du dabei auf keinen Fall deine Aura bemühen.«
»Dafür reicht meine Kraft nicht aus«, brachte Shirin kläglich hervor, während Junas Blick ungebrochen auf sie gerichtet war.
»Belüg dich nicht selbst. Nach dem, was du hier zu sehen bekommen hast, besitzt du ganz bestimmt die nötige Kraft dafür, mir ins Herz zu stechen.« Um ihre Erinnerung anzufachen, streichelte er über Junas Oberschenkel, und im nächsten Moment schon hielt Shirin die schwarze Klinge, die so kalt wie Stein war, in der Hand. Ask wandte ihr seinen Oberkörper zu und dann brauchte es nicht mehr als sein energisches »Tu es!« und sie stach mit der Klinge zu.
Bar jeder Empfindung stolperte Shirin zurück und starrte auf die Waffe, die Ask Stück für Stück wieder hervorzog. Dann sank er leblos auf Juna.
Bevor sie wusste, was sie tat, hatte Shirin die Klinge aufgehoben. Blut beschmierte ihre Finger, trotzdem warf sie die Waffe nicht weg, sondern barg sie unter ihrem Gewand.
Nur das schnelle Schlagen ihres Herzens verriet Shirin, dass Zeit verstrich. Ihr selbst kam es vor, als sei sie selbst in dem Moment erstarrt, als Ask gestürzt war. Dann kam plötzlich wieder Leben in seinen Körper und langsam, wie nach einem tiefen Schlaf, richtete er sich auf. Zuerst dachte Shirin, die Zeichen von Junas Haut hätten abgefärbt, da sie nun auch Asks Haut überzogen. Aber sogleich brachen die Linien auf und färbten sich blutrot.
Shirin war so gebannt von seinem Anblick gewesen, dass sie vor Entsetzen aufschrie, als sie zu Juna sah und erkannte, was unterdessen geschehen war: Junas eben noch schönes Blondhaar war grau und strohig geworden, während ihre gezeichnete Haut von unzähligen Spuren des Alters überzogen war.
»Was hast du ihr angetan?«
»Du meinst, außer ihre Neugier zu befriedigen?« Ask lachte heiser, während er vorsichtig die Wunden abtastete, die seinen Oberkörper bedeckten. Offenbar war er selbst überrascht davon, dass sein Ritual funktioniert hatte. Die Stichwunde unterhalb seines Rippenbogens war hingegen verschwunden. Nicht die feinste Spur war zurückgeblieben. »Nun, eigentlich habe ich ihr dabei geholfen, einen vollkommen neuen Aspekt unserer Fähigkeiten zu entdecken. Ihr Verbund wird sicherlich sehr stolz auf sie sein, wenn sie ihm ausführlich darüber berichten kann, dass wir fähig sind, die Kraft einer anderen Schattenschwinge auf uns übergehen zu lassen. Sie werden den Namen unserer lieben Juna gewiss in ihre Annalen aufnehmen, auch wenn sie wohl kaum begriffen hat, wie ihr gerade geschehen ist.«
Shirin traute ihren Ohren nicht. »Als wäre all das nur ein Spiel! Warum hast du mich dazu gezwungen, an diesem grauenhaften Ritual teilzunehmen? Wenn ich dich richtig verstehe, dann hättest du meine Hilfe gar nicht nötig gehabt. «
Es kostete Ask sichtlich Mühe, sich von den Zeichen auf seiner Brust loszureißen und ihr Beachtung zu schenken. »Hierbei ging es ja auch nicht darum, ob ich dich brauche, sondern ich wollte endlich den Beweis herbeiführen, dass du wirklich mir gehörst. Ich kann niemanden an meiner Seite dulden, der sich nicht vollständig meinem Willen fügt. Genau das wollte ich herausfinden, als ich zugelassen habe, dass Juna ihre Empfindungen aus vollen Lungen herausschreit.«
»Dass ich hierher komme und sehe, was du mit ihr tust, lag in deiner Absicht.« Selbst nachdem sie es laut ausgesprochen hatte, konnte Shirin es immer noch nicht wirklich glauben. »Du hast mich manipuliert und gedemütigt. Ist das dein Verständnis von Liebe?«
»Was für eine törichte Frage, wo doch jeder etwas anderes unter der Liebe versteht. Was heute allerdings zwischen uns passiert ist, hat Klarheit geschaffen: Du gehörst mir, für immer.«
»Ask …« Mehr brachte sie nicht über die Lippen.
»Nenn mich nicht so. Über meinen menschlichen Namen bin ich hinaus. Und jetzt geh. Ich bin noch nicht fertig mit Juna. Ihre Neugier mag befriedigt sein, aber mir fällt noch die eine oder andere Frage über ihren Verbund ein.«
»Lass sie gehen. Sie hat dir doch genug geopfert.«
Shirins Bitte verklang unerhört. Ob sie nun zu leise gesprochen hatte, oder ob die Schattenschwinge, die gerade ihren Namen abgelegt hatte, sie ignorierte, wusste sie nicht. Ihre Hilflosigkeit wurde ihr erneut schmerzlich bewusst, dann wandte sie sich ab und ging.

Asks Haus beherbergte unzählige Räume. Manche von ihnen waren leer bis auf ein Detail, wie etwa eine frei im Raum schwebende Zeichnung mit wirren Kreisen, während andere Räume ganz darauf ausgerichtet waren, Stimmungen wiederzugeben. So fiel in einem Raum das Licht in einer besonderen Weise, in einem anderen verlangsamte sich die Zeit, wenn man es betrat, nur um dann urplötzlich zu beschleunigen. In der ganzen langen Zeit, die Shirin mit Ask in seinem Haus lebte, war sie nie hinter den Sinn dieser Räume gekommen, die eigentlich kaum etwas mit seiner Persönlichkeit zu tun hatten. Aber was wusste sie schon von ihm? Seit er Juna mit seinen Zeichen versehen hatte, war er ihr mit jedem verstreichenden Tag mehr wie ein Fremder erschienen. Ein Fremder, von dem sie trotz allem nicht lassen konnte.
Nachdem Ask die Kunst entdeckt hatte, anderen Schattenschwingen ihre Macht zu rauben und in sich aufzunehmen, verschleierte er sein wahres Interesse nicht länger, sondern trat offen als Kriegsherr in eigener Sache auf. Dass sich die Sphäre in ein Schlachtfeld verwandelte und an vielen Stellen nichts als vernichtetes Land zurückblieb, schien ihn dabei nicht zu kümmern. Inmitten dieses Chaos stand sein Haus unberührt da. Nur gelegentlich stürzte ein Stück Mauer am Rande von Shirins Garten ein und offenbarte den Zustand des umliegenden Landes: Es existierte nicht mehr. Die Werke der anderen Schattenschwingen, die an Asks Heim angegrenzt hatten, waren restlos verschwunden. Wenn Shirin sich an die Grenze ihres Gartens heranwagte, blickte sie in einen leeren Himmel, dessen Grund ein gräuliches Wolkenband war. Sie hätte lediglich ihre Schwingen öffnen und die Wolkendecke durchstoßen müssen, um herauszufinden, ob dort unten noch so etwas wie Land vorhanden war, aber dazu brachte sie die nötige Kraft nicht auf. Was zählte außerdem das Land der Sphäre, wenn es nicht mehr vom Gestaltungswillen der Schattenschwingen geprägt war? Da konnte es genauso gut aufhören zu bestehen.
Solchen trübsinnigen Gedanken nachhängend, spazierte Shirin in ihrem üppig gedeihenden Garten umher. Je mehr Gebiete der Sphäre dem Krieg zum Opfer fielen, desto mehr übte sie sich darin, ihr eigenes Reich dank ihrer Gabe aufblühen zu lassen. Noch nie zuvor hatte sie sich sosehr damit beschäftigt, was die Macht ihrer Aura alles vermochte. Auch deshalb, weil Ask nur selten da war und sie missbilligend abstrafen konnte. Gelegentlich ließ sie ihren Willen wie einen sanften Wind über die Blumen gleiten, die ihre Köpfe sofort in ihre Richtung streckten. Wenigstens diese grüne Oase gehörte ihr, hier kam sie zur Ruhe – zumindest solange sie die Lichtung mit dem schwarzen Steinaltar vergaß, um die herum sie eine Barriere aus Totenholz aufgeschichtet hatte. Dieser Ort hatte ihr eine Wunde geschlagen, die nicht aufhören wollte zu bluten. Daran zugrunde ging sie jedoch nicht, allein schon deshalb, weil es ihr verboten war. Von ihm, der seinen Namen wie ein lästiges Kleidungsstück abgelegt hatte.
»Ich hatte darauf gehofft, dass ich in deinem Garten noch willkommen bin. Die Pforte, die du für deine Freunde geschaffen hast, ist scheinbar schon lange nicht mehr benutzt worden, wenn ich das richtig sehe.« Bevor sie sich umdrehen konnte, um zu sehen, wer da sprach, war Samir vor sie getreten. Als er die Hand hob, um ihre Stirn zur Begrüßung zu berühren, wehrte sie ihn ab. »Es tut mir leid, dich überrascht zu haben. Aber eine Ankündigung erschien mir unter den gegebenen Umständen nicht angebracht.«
»Er wird mich umbringen, wenn er herausfindet, dass ich vergessen habe, die Pforte zu schließen«, stieß Shirin aufgebracht hervor.
»Er wird uns alle töten, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Nicht dass es da noch viel zu tun gäbe. Es sind ja nur noch ein paar von uns übrig geblieben.«
Aufmerksam musterte Shirin ihren alten Freund, der sie nicht nur in die Sphäre geleitet, sondern ihr auch die Treue gehalten hatte, als der Boden unter ihren Füßen weggebrochen war. Es war nicht schwer zu erkennen, warum Samir noch lebte: Er brachte weder herausragende Fähigkeiten noch besonderen Ehrgeiz mit. Seine ganze Persönlichkeit war auf Freundlichkeit und den schönen Moment ausgerichtet. Deshalb hatte ihn der immer länger werdende Schatten, der die Sphäre verdunkelte, noch nicht erreicht. Bei Samir gab es nichts zu holen.
»Ich habe dich vermisst, mein Freund.«
In dem Moment, als Shirin die Worte aussprach, wusste sie, dass es die Wahrheit und keine Schmeichelei war. Sie hatte Samir vermisst, genau wie sie der Chance nachtrauerte, die er verkörperte. Die Chance auf eine erfüllte Existenz als Schattenschwinge, die sie so leichtherzig aufgegeben hatte.
Samir sah sie prüfend an. »Hat er dir solche Empfindungen nicht verboten? Ich dachte eigentlich, dass Sklaven so etwas nicht zusteht.«
Unwillkürlich berührte Shirin die breiten Reifen aus Bernstein. Sie hatte sich nicht dagegen gewehrt, als er ihr diesen Schmuck angelegt hatte. Schließlich war es nur konsequent gewesen. Sollte ruhig jeder sehen, was aus ihr geworden war. Allerdings hatte keiner von ihnen beiden die Bezeichnung in den Mund genommen, für die diese Art von Bindungsinsignien stand. Es nun aus Samirs Mund zu hören, fühlte sich an, als wäre die Macht der Reifen erst jetzt richtig aktiviert worden.
»Vermutlich hat er darauf verzichtet, weil er davon ausgeht, dass ich keine Freunde habe«, sagte sie. Die Erschöpfung, mit der sie sich seit langem durch die Tage quälte, war nicht zu überhören. Mitleid flackerte in Samirs weichen Augen auf. »Nicht, bitte.« Shirin legte den Rest ihrer Kraft in ihre Stimme. »Kein Mitleid. Das habe ich mir selbst zuzuschreiben. Es war meine Entscheidung …«
»Und sie war falsch«, brachte Samir den Satz zu Ende. »Es wäre jedoch unfair, auf dich hinabzusehen, denn schließlich haben wir uns alle von ihm einspinnen lassen. Was er über unsere Fähigkeiten ans Licht gebracht hat, schien so unendlich viel bedeutender als die Beweise, die auf seine eigentlichen Absichten hinwiesen. Eigentlich müssten fast alle von uns die Sklavenringe tragen, weil wir uns seinem Willen gebeugt haben. Daran solltest du denken, wenn dir das Herz zu schwer wird.«
»Oder du erinnerst mich bei Gelegenheit daran.« Ein Lächeln stahl sich auf Shirins Gesicht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gelächelt hatte.
Samir erwiderte es zwar, aber es geriet überaus traurig. »Das würde ich gern, aber es wird voraussichtlich unmöglich sein. Ich bin hier, um dir Lebewohl zu sagen. Ich bin zwar kein großer Krieger, aber ich kann nicht länger die Augen vor dem verschließen, was in der Sphäre geschieht. Leider ist es für diesen Sinneswandel wohl zu spät. In einigen Stunden wird es zu einer großen Schlacht kommen. Zu der entscheidenden, wenn mein Gefühl mich nicht täuscht.«
»Hör mir zu, ich weiß nicht, was du vorhast, aber nimm nicht an dieser Schlacht teil. Überlass die Sphäre sich selbst, genau wie ich. Bleib bei mir, ich kann mit ihm reden …« Obwohl ihre Reifen zu glühen begannen, packte Shirin ihren Freund bei der Hand.
Samir schüttelte den Kopf. »Sieh, alles, woran du hängst, ist deine Liebe. Für mich gibt es mehr als nur das. Die Sphäre ist meine Heimat, eine Heimat, von der mittlerweile nur noch Reste vorhanden sind. Vor einigen Tagen ist der Süden des Landes der Zerstörung anheimgefallen. Ausgerechnet der Süden, der Ort, an dem wir Schattenschwingen unserem Kern näher waren als sonstwo. Wir waren gezwungen, ein Weißes Licht als Grenzwall aufzubauen, damit der Wächter, der die Zerstörung in Schach hält, nicht ausbrechen kann. Es tut mir in der Seele weh. Ich bin vielleicht nicht stark und schlau genug, um meine Heimat zu schützen, aber ich werde es wenigstens versuchen. Leb wohl, Shirin.«

Samirs Abschiedsworte hingen ihr lange nach. Sie spürte, wie ihre Trauer und der unterdrückte Zorn sich zu einem dunklen Netz in ihrer Aura zusammensetzten, ohne dass sie etwas dagegen unternahm. Als ihr Herr viele Stunden später zu ihr trat und sie in seine Arme schloss, bemerkte er zu ihrem Glück nichts davon
»Heute war ein guter Tag«, ließ er sie wissen.
Ja, das hatte sie gespürt. Die Erschütterungen des Kampfes waren bis zu ihr vorgedrungen, obwohl sie sich vor lauter Kummer ganz taub gefühlt hatte, während das dunkle Netz sich immer weiter fortgesponnen hatte. Sie konnte sich ausmalen, wie der Kampf ausgegangen war: Nichts anderes als ein Sieg zauberte dieser Tage ein Lächeln auf sein Gesicht.
Shirin schmiegte sich an seine Brust, deren lebendiger Farbton nicht wieder zurückgekehrt war. Dafür hatte die Anzahl der Zeichen darauf beträchtlich zugenommen. Dennoch war der damit geschaffene Grenzwall nicht unüberwindbar.
»Ich habe ein Geschenk für dich. Eigentlich wollte ich es dir schon länger überreichen, aber jetzt scheint mir der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein.« Die Zufriedenheit in seiner Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Es wird dich sehr glücklich machen. Etwas, das du dir schon immer von mir gewünscht hast.«
»Das passt gut, denn ich habe auch etwas für dich.« Die Worte waren heraus, bevor Shirin überhaupt begriff, worauf sie hinauswollte. Sie konnte unentwegt nur daran denken, was sein Lächeln zu bedeuten hatte: den Tod seiner Feinde. Samirs Tod. »Nein, bitte versuch nicht, es in meinen Gedanken zu lesen. Ich möchte dich so gern überraschen.«
Fast sah es so aus, als wolle er ihr diesen Wunsch verweigern, doch dann lenkte er ein. »Wie gesagt: Es ist ein guter Tag und ich wünsche mir, dass er es auch für dich wird. Fangen wir mit deiner Überraschung an.«
Während der Plan in Shirin reifte, öffnete sie ihre Schwingen. »Hoch oben am Himmel, bis nichts mehr zu sehen ist, Liebster.«
»Was immer du wünschst.«
Kurz zögerte sie. Der verschmitzte Ausdruck, der lockende Unterton in seiner Stimme … genauso wünschte sie sich ihn. Dann kam ihr wieder zu Bewusstsein, was vermutlich der Grund für seine gute Laune war, und sie stieg gemeinsam mit ihm in den Himmel auf.
Er liebte den freien Fall, vergaß sich dabei ganz und gar. Genau darauf baute ihr Plan: Sie wartete auf den Augenblick, in dem er endgültig losließ. Einen kleinen Tod nannte er diesen Zustand, und genau diese Spanne würde ihr bleiben, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Beine fest um seine Hüfte geschlungen, beobachtete sie, wie seine ansonsten stets harten Gesichtszüge sich entspannten und die Lider sich schlossen. So bekam er nicht mit, wie sie die schwarze Klinge, die er selbst aus dem Steinquader geschaffen hatte, unter ihrem Bernsteinreif hervorholte. Er bemerkte auch nicht, wie sie weit ausholte. Erst, als sie sie ihm schräg unter den Rippenansatz rammte, riss er die Augen auf, aber es war zu spät.
»Du hast mir doch selbst beigebracht, dass ich die Kraft, dich zu töten, besitze. Das ist für das Elend, das du über die Sphäre gebracht hast. Für Samir.«
Sie konnte an seinen Augen ablesen, dass er begriff. »Shirin, du begehst einen Fehler«, brachte er mit letzter Kraft heraus.
»Nein, es ist das erste Mal, dass ich etwas richtig mache, seit ich in der Sphäre angekommen bin. Leb wohl.«
Ohne zu zögern setzte Shirin ihre Aura ein und trieb die Klinge mit Wucht noch ein Stück tiefer. Doch ihre freigesetzte Kraft reichte für noch viel mehr, und das nutzte sie, um ihn quer durch die Luft zu schleudern, bis er nicht mehr als ein ferner Fleck am Horizont war. Mit kraftvollen Flügelschlägen jagte sie ihm hinterher und schloss gerade rechtzeitig auf, denn aus den Zeichnungen auf seiner Haut brachen schwarze Schlieren hervor und drangen in die Wunde auf seiner Seite ein.
»Nein.« Shirins Worte wurden vom Wind mitgerissen. »Dieses Herz wird nicht wieder schlagen. Du wirst vergessen, wie du dich selbst heilen kannst. Du wirst alles vergessen. «
Endlich ließ sie das dunkle Netz frei, in das sie all ihren Zorn und ihre Verzweiflung gewebt hatte. Ihren Garten hatte sie in ein helles Netz gehüllt, um es vor den Ausläufern des Kriegsgeschehens zu schützen, doch der Bann, mit dem sie nun ihre große und zugleich verhasste Liebe belegte, würde ihn für immer von der Sphäre abschneiden. Er war gefangen in einem Kokon, aus dem er sich niemals aus eigener Kraft würde befreien können, und der jeden, der ihn berührte, erstarren lassen würde. Fast schockierte es sie, wie leicht es ihr fiel, ihre ganz eigene Kunst ins Negative zu verkehren. Aber eben nur fast.
Als sie den Bann vollendet hatte, verpasste sie dem umhüllten Körper einen weiteren Stoß in Richtung Süden, wo laut Samir das Weiße Licht ein vernichtetes Gebiet abgrenzte. Es war nur fair, wenn jener Landstreifen, dessen Zerstörung Ask selbst zu verantworten hatte, zu seinem Gefängnis wurde. Dort würde er von allem gereinigt werden, was er an Wissen und Macht gesammelt hatte. Sie würde dafür sorgen, dass er keinen Weg fand, seinen Körper und damit seine Macht erneut in Anspruch zu nehmen.
Der Schatten hatte lange genug über der Sphäre gelegen.

Nach und nach zerfaserten die Zeichen, mit denen der Schatten Shirins Aura geprägt hatte, vor meinen Augen – und mit ihnen der Blick in die Vergangenheit. Ich hörte Pingpongs Schnurren, nahm den Sandelholzduft wahr, der Shirin zu eigen war. Die Welt hatte mich wieder und doch wagte ich es noch nicht, endgültig aufzuwachen. Was Shirin mir gezeigt hatte, hatte mich zutiefst verstört. Nicht nur weil ich einen Blick auf den größten Feind der Sphäre hatte werfen können, sondern auch, weil Shirin ihre dunkelsten Stunden vor mir offenbart hatte. Sei stolz auf das dir entgegengebrachte Vertrauen, sagte ich mir. Aber in Wirklichkeit war ich schlichtweg überfordert. Immer noch jagten die eben gesehenen Bilder mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken.
»Mila, mein Liebes.« Shirin streichelte mir über das Haar.
Erleichtert stellte ich fest, dass ich ihre Berührung nicht ablehnte. So wie ich Shirin trotz allem nicht ablehnte.
Endlich gelang es mir, sie anzublicken. Sie sah erschöpft und traurig aus, aber auch stolz. Wie lange hatte sie diesen Zug ihrer Persönlichkeit verloren gegeben?
»Ich weiß, was ich dir gezeigt habe, ist für eine junge Frau wie dich verstörend. Sieh es als das, was es ist: eine dunkle Geschichte über die Liebe. Lass dir keine Angst von ihr machen, denn das, was dich mit Samuel verbindet, wächst auf einem gänzlich anderen Boden. Behalte nur einfach im Hinterkopf, dass man die Liebe zu einem anderen nie über alles stellen darf, auch wenn sie einem noch so stark erscheint. Es gibt immer mehr als die Liebe.«