4
Auf engem Raum
Die Surfschule lag nicht weit vom Hafen entfernt. Um dort hinzugelangen, musste man erst einmal eine ordentliche Düne erklimmen, und schon befand man sich in einer vollkommen anderen Welt. Auf der anderen Seite erwartete einen dann ein fantastischer Blick auf eine natürliche Einbuchtung, die je nach den Gezeiten Watt oder Wasser aufwies. Eingerahmt wurde sie von weich geschwungenen Dünen, auf denen frischgrünes Seegras wuchs. Die Surfschule selbst war ein Holzgebäude auf Pfählen, um das herum stets emsiges Treiben herrschte: Kinder, junges Volk und überdurchschnittlich Junggebliebene in Neoprenanzügen, die bunte Segel über den Sand trugen.
Jetzt, am frühen Abend, hatte sich der harte Kern um ein Lagerfeuer versammelt und grillte. Als Rufus und ich mit Tüten beladen an ihnen vorbeikamen, winkte Toni, Lucas Cousin, dem die Surfschule gehörte, uns zu sich. Er saß, wie es sich für einen König gehört, ein wenig abseits des Trubels und fütterte seinen in ganz St. Martin bekannten Bernhardiner Seppel mit Bratwürstchen, womit denn einmal die massige Form des Hundes erklärt wäre. Im Lichtschein des Lagerfeuers sah Toni leicht unwirklich aus: Das ausgeblichene Haar stand im krassen Gegensatz zu seiner sonnengegerbten Haut, die jetzt in einem dunklen Rotbraunton schimmerte. Als er lächelte, blitzten seine Zähne regelrecht auf. Würde er diesen Laden nicht schon seit gut zehn Jahren leiten und hätte er nicht meinem Bruder beigebracht, wie man sich auf einem Brett über Wasser hält, dann hätte ich ihn in diesem Augenblick eher für ein Wesen aus einer anderen Welt gehalten. Zum Beispiel einer, in der man Schwingen trug. Jedenfalls erfüllte er alle Vorurteile, die man gegenüber Surfern haben konnte, über seine lässige Art bis hin zur blonden Nixe als Freundin.
»Servus, Mila und Rufus Viridis«, begrüßte Toni uns und musste für das Benutzen von Rufus’ ungeliebtem Spitznamen, den er unserer pflanzenwütigen Mutter zu verdanken hatte, einen ziemlich harten Schlag auf die Schulter hinnehmen. »Eigentlich hatte ich das so verstanden, dass ihr in Lucas Wohnwagen nur etwas abhängen wollt, bis er wieder da ist. Was ihr da alles mitschleppt, sieht allerdings mehr nach einem Einzug aus. Ist für mich kein Problem, wenn’s dem Luca recht ist.«
»Logisch ist das Luca recht, dem alten Saupreuß. Der ist doch froh, dass mal einer sein Sumpfloch aufräumt, bevor es zumodert.« Ohne zu fragen, schnappte Rufus sich eine Bierflasche. Wo gefeiert wurde, war mein Bruder sofort zu Hause.
»In den Tüten sind übrigens nur ein paar Klamotten und Vorräte«, erklärte ich vorsorglich, um Toni zu beruhigen. Dann kniete ich mich neben Seppel und nachdem er wohlwollend meine Hand beschnüffelt hatte, begann ich, ihm den Nacken zu kraulen. Was sich als harte Arbeit herausstellte, denn dafür musste man sich durch eine ordentliche Schicht Fell durchgraben.
»Seppel, lässt du dir etwa schon dein Winterfell wachsen? Und eine dicke Speckschicht gleich mit, so wie sich das anfühlt.«
Toni lachte schallend. »Seppel sieht zwar aus, als hätte er die Seele eines Lämmchens, aber sobald er ein Haarschneidegerät sieht, verwandelt er sich in einen wilden Wolf. Ungelogen. « Toni deutete auf die Narbe in seinem Handrücken. »Den Biss haben sie mit drei Stichen genäht und ich habe Stunden damit verbracht, die von der Klinik herbeigerufene Polizistin davon zu überzeugen, dass Seppel definitiv keine kleinen Kinder frisst. Aber seitdem darf er im Sommer schwitzen, selber schuld.«
»Böser Seppel«, sagte ich und zog ihn spielerisch an den Ohren, bis er ein zufriedenes Grunzen von sich gab. Mein Herz gehörte zwar unabänderlich meiner Katze Pingpong, aber so ein zotteliger Bernhardiner war auch nicht zu verachten.
Erst als Rufus eine weitere Bierflasche öffnete, wurde mir bewusst, wie lange wir schon beim Lagerfeuer herumsaßen. Die entspannte Stimmung, die witzigen, unangestrengten Gespräche, das Rauschen des Meeres im Hintergrund hatten mich beinahe vergessen lassen, warum wir uns überhaupt über den Hügel zur Surfschule gequält hatten. »Es ist dunkel«, raunte ich Rufus zu, der sofort die Flasche abstellte und aufstand.
»So, nun müssen Mila und ich mal los, sonst wird das heute nichts mehr mit dem Wohnwagen.«
»Nur zu«, sagte Toni, der seine in eine Decke gewickelte Nixe vor sich sitzen hatte und ihr sanft das Haar streichelte. »Kannst dich ruhig wieder mal öfter blicken lassen, Rufus Viridis. Deine Schwester ist natürlich auch herzlich eingeladen, vor allem, da es ihr gelingt, diesem faulen Köter ein Geräusch abzuringen. Seit dem Frühjahr habt ihr beiden euch am Strand ganz schön rar gemacht.«
Was Toni nicht sagte, was aber in seiner Stimme mitschwang, war: seit Sam im Frühjahr verschwunden war. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Schon bald würden die Leute von St. Martin mir und meinem Bruder gegenüber nicht mehr so tun müssen, als ob Sam nie existiert hätte, um unsere Gefühle zu schonen. Er würde nämlich wieder da sein. Als ganz normaler Junge, der sich ein Leben in dieser Stadt aufbaute.

Sam
Es war wirklich ein Glücksfall, dass Lucas Wohnwagen inmitten der Dünen lag. So konnte ich an einer Stelle des Strandes wechseln, wo kaum mit Spaziergängern zu rechnen war, weil die alle den Weg über den Deich bevorzugten, und musste mich dann nur noch ein kurzes Stück querfeldein schlagen. Das war wirklich eine gute Idee von Rufus gewesen.
Meine Einschätzung änderte sich allerdings, als ich beim Wohnwagen anlangte und durchs Fenster ins Innere lugte. Das sah verdammt eng aus. Unwillkürlich griff ich mir an die Kehle, die sich anfühlte, als würde ich zu wenig Luft bekommen. Da drin sollte mein neues Zuhause sein? Selbst wenn ich die meiste Zeit in der Sphäre verbracht, so würde ich doch nicht darum herumkommen, gelegentlich in diesem Kasten zu sitzen. Meine Schwingen konnte ich dort keinesfalls öffnen. Zwar hatte ich das ohnehin nicht vor, aber da drinnen würden sie geschlossen bleiben müssen, und dieses Müssen war ganz schlecht. Allein der Gedanke würgte mir endgültig die Luft ab.
Im nächsten Moment schon verschwand meine Beklommenheit, denn ich hörte Milas Stimme. Da kam sie bereits in Begleitung ihres Bruders um eine Düne herum. Ohne mein Zutun flackerte meine Aura auf, fast als wollte sie Mila den Weg zu mir weisen. Gelegentlich war es tatsächlich ausgesprochen nützlich, eine Schattenschwinge zu sein. Mila schrie kurz auf, dann rannte sie auch schon los, wobei Rufus ihr dicht auf den Fersen blieb und ihr mit der Taschenlampe den Weg zu leuchten versuchte. Vollkommen nutzlos. Milas Blick war fest auf mich gerichtet, genau wie meiner auf sie. Erst nachdem ich sie gebührend geküsst und in den Armen gehalten hatte, begrüßte ich Rufus, der bereits leicht genervt die Wohnwagentür aufgeschlossen hatte.
Ein Schwall abgestandener Luft ergoss sich ins Freie.
»Home, sweet home.« Mit der Hand deutete Rufus mir einzutreten, eine Aufforderung, der ich nur widerwillig nachkam.
Das fahle Licht der Deckenlampe zeigte auf der einen Seite einen Miniaturwohnraum mit Sitzbank und Küchenzeile, während die andere Hälfte des Raums komplett von einem Bett eingenommen wurde. Alles sah leicht angestaubt, aber eigentlich ganz nett aus. Luca hatte deutliche Spuren hinterlassen, sei es durch die ziemlich coole Auswahl an Bandplakaten, mit denen er die Wände tapeziert hatte, die Unmengen an herumliegendem Schnickschnack, von Partygirlanden bis Treibholz, und nicht zuletzt mit dem bunt zusammengewürfelten Geschirr, das noch verdreckt in der Spüle stand.
»Eine echte Zigeunerhöhle, was?« Mila drängte sich mit einem Strahlen an mir vorbei an den Tisch, von dem sie erst einmal einen überfüllten Aschenbecher und eine Kronkorkenpyramide räumte. Dann kippte sie vorsichtig den Inhalt der Tüten aus, die sie mitgebracht hatte. Neben einigen Kerzen und Essensvorräten, von denen ich mir sofort einen Schokoriegel schnappte, kamen auch Anziehsachen zum Vorschein.
»Eine kleine Spende des Hauses Levander«, erklärte Rufus eine Spur zu selbstgefällig. »Damit du nicht länger halbnackt herumlaufen musst.«
»Ja, sonst bekommt Rufus noch Minderwertigkeitskomplexe.«
Aus Protest wollte Rufus mit den Fingerknöcheln einen Schlag gegen Milas Oberarm landen, aber sie wich ihm geschickt aus und bohrte ihm den Zeigefinger zwischen die Rippen, bevor er nachsetzen konnte. Rufus stöhnte dramatisch auf. Mila war schnell, das musste man ihr lassen. Gerettet werden musste sie jedenfalls nicht, was ich fast ein bisschen schade fand. Aber eben nur ein bisschen.
Während die beiden sich weiterkabbelten, zog ich ein fadenscheiniges T-Shirt mit einem Homer-Simpson-Print aus dem Haufen und hielt es mir zweifelnd vor die Brust. Nicht, dass es mich störte, dass Rufus seine Lieblingsklamotten jedes Mal trug, bis sie auseinanderfielen – viel mehr wusste ich um die freundschaftliche Geste, die das Überlassen ausgerechnet dieses T-Shirts bedeutete –, aber ich hatte ernsthafte Zweifel, dass ich in das gute Stück reinpassen würde. An Milas Seitenhieb war durchaus etwas Wahres dran gewesen: Im Vergleich zu mir sah Rufus etwas schmalbrüstig aus. Oder andersherum: Meine Schwingen flogen nicht von alleine durch die Luft, dazu war einiges an Muskelarbeit vonnöten. Und das Ergebnis sah man inzwischen deutlich. Hastig griff ich nach einer Kapuzenjacke, in der Hoffnung, dass sie eine Nummer größer ausfiel. Zu meiner Erleichterung bekam ich den Reißverschluss gerade noch zu, nur bei der Ärmellänge herrschte Hochwasser, was Mila sofort mit einem Giggeln bedachte.
»Sam, das sieht echt schlimm aus«, ließ sie mich wissen.
»Sag mal, bekommt man vom Fliegen solche Schultern, oder gehören Muskelberge zur Grundausstattung der Schattenschwingen? «, fragte Rufus kühl, wobei er einen Blick auf seine eigenen Oberarme warf. Die waren zwar nicht schlecht, aber das würde nichts an seiner miesen Laune ändern.
Genau so hastig, wie ich die Jacke angezogen hatte, zog ich sie nun auch wieder aus. »Was soll’s? Wenn ich ein Oberteil trage, fühle ich mich jedes Mal wie eingeschnürt und die Schwingen fangen unter der Haut an zu jucken. Ich habe mich einfach schon zu sehr daran gewöhnt, sie jederzeit frei ausbreiten zu können.«
So, jetzt schaute mich auch das zweite Mitglied der Levander-Familie mussmutig an.
»Aber du kannst nicht nur in Jeans durch die Stadt laufen. «
Mila versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Doch dummerweise entging sie mir nicht. Es lag ihr unübersehbar am Herzen, dass das Versteckspiel endlich ein Ende hatte und ich mich wieder frei in den Straßen von St. Martin bewegen konnte. Ich konnte das verstehen und war auch bereit, ihr diesen Gefallen zu tun, aber meine Schauspielkunst reichte nicht aus, um auch noch Begeisterung dafür vorzutäuschen. St. Martin war schlicht nicht der Ort meiner Träume, ich war aus einem anderen Grund hier. Und dieser Grund durchsuchte gerade mit bebender Unterlippe den Klamottenberg nach einem Teil, das an mir nicht aussah, als würde es meinem kleinen Bruder gehören. Blinzelnd hielt sie mir einen Strickpulli hin, der zu meiner Erleichterung passte.
»Super! Na, das Teil sitzt doch.«
»Ist von Papa.«
Oh, ein Kleidungsstück von Daniel Levander. Jetzt schauten wir alle drei betreten drein.
Rufus, der als Erstes in dieser Runde einen Schlag hatte hinnehmen müssen, berappelte sich am schnellsten. »Wo du jetzt einigermaßen anständig verpackt bist, können wir ja über das Projekt ›Sam Bristol kehrt nach Hause zurück‹ sprechen. Es sei denn, du möchtest die Modenschau fortsetzen?«
Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Der Pullover fing an mehreren Stellen meines Körpers gleichzeitig an zu jucken, trotzdem blieben meine Hände auf der Tischkante liegen. Doch die entspannte Haltung, die ich Mila zuliebe gern eingenommen hätte, damit auch sie sich wieder beruhigte, wollte mir nicht gelingen. Also saß ich wie auf Abruf da, während die Schwingen auf meinem Rücken ein Eigenleben zu führen begannen.
»Der Punkt, bei dem wir noch nicht sonderlich weiter gekommen sind, ist, womit Sam sein Verschwinden plausibel erklären kann. Und zwar so, dass weder Ärzte noch Polizei oder sonst irgendwer die Geschichte sofort wie ein Kartenhaus zusammenklappen lässt. Dein Vater sitzt in der Psychiatrie und die haben bei der Suche nach dir einen Mordsaufstand veranstaltet. Einfach zu sagen ›Da bin ich wieder‹‚ wird in diesem Fall nicht ausreichen. Vorschläge?«
»Nachdem mein Vater mir nach dem Leben getrachtet hat und ich von einer Klippe gesprungen bin, hatte ich die Nase voll und bin in die große weite Welt hinausgeschwommen. Irgendwann wurde es langweilig und ich bin umgedreht. «
Rufus verdrehte die Augen. »Den Gag hatten wir schon das letzte Mal. Lass dir mal was Originelleres einfallen.«
»Es ist doch ganz egal, was ich mir einfallen lasse, weil du eh dran herummäkelst.« Das war eine Tatsache. Rufus entwickelte in dieser Angelegenheit einen anstrengenden Ehrgeiz … Oder aber ich brachte nicht genug Motivation auf und reagierte deshalb so genervt auf diese Diskussion.
Mila schaute mich nachdenklich an, fast, als habe sie meine Gedanken gelesen. Darüber hatte ich ernsthaft schon einmal nachgedacht. Wenn es mir gelang, in die Erinnerung von Menschen einzugreifen, dann musste es doch eigentlich möglich sein … Ich unterbrach meinen Gedankengang. Warum fiel es mir so leicht, mich auf jedwedes Thema einzulassen, das mit meiner Existenz als Schattenschwinge zusammenhing – und warum war es so schwer, mich auf die Frage zu konzentrieren, wie ich der Polizei und allen anderen erklären sollte, was nach meinem Klippensprung passiert war?
»Sam, warum bist du nicht bei der Sache?«, fragte Mila mich direkt. Zu allem Überfluss nahm sie meine Hand und sah mich prüfend aus ihren Nussaugen an. »Ich hatte das so verstanden, dass du auch in dieser Welt leben möchtest. Aber jetzt kommt das bei mir so an, als ob du es dir anders überlegt hast.«
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. »Solange ich als tot oder zumindest vermisst gelte, sitzt mein Vater weiterhin schön brav ein. Das klingt vielleicht rachsüchtig, aber ich finde, die Psychiatrie ist genau der richtige Ort für ihn. Vor allem, solange ich nicht weiß, was ihm wirklich durch den Kopf spukt.«
Ich warf Mila einen beredten Blick zu, weil Rufus nichts von dem Unbekannten wusste, von dem ich vermutete, dass er meinen Vater für seine Zwecke missbraucht hatte. Wobei Jonas sich sicherlich nicht groß dagegen gewehrt hatte – schließlich hatte er auch zuvor niemals Hemmungen gezeigt, mich seine Fäuste spüren zu lassen.
»Außerdem weiß ich nicht, wie Sina auf meine Rückkehr reagieren wird. Das klingt vielleicht verrückt, aber ich komme nicht mit der Vorstellung klar, dass sie mich dafür hassen könnte, weil ich alles wieder durcheinanderbringe. Jetzt herrscht endlich Ruhe in ihrem Leben, und das würde sich schlagartig wieder ändern. Sie hat schon früher meine Andersartigkeit gespürt und sehr darunter gelitten. Wenn ich jetzt wieder in St. Martin auftauche, bin ich noch ein Stück mehr anders. Vermutlich werde ich sogar als öffentliche Sensation rumgereicht. Ich weiß, wofür ich das alles mache, aber ich kann nicht so tun, als ob ich Spaß daran hätte.«
Während Rufus sich dem Wiederaufbau der Kronkorkenpyramide widmete, saß Mila eine Zeit lang schweigend da. Ich versuchte zu lesen, was in ihr vorging, doch ihre Empfindungen waren so vielschichtig, dass mir allein von dem Versuch schwindlig wurde.
Schließlich biss sie sich auf die Unterlippe und schluckte hörbar. »Ich zwinge dir etwas auf, das du gar nicht willst, nicht wahr? Das geht dir alles viel zu schnell. Du hast kaum in der Sphäre Fuß gefasst, da verlange ich dir auch schon einen irren Spagat ab, nur weil es für mich so schön wäre, dich jederzeit an meiner Seite zu haben. Das hättest du mir gleich sagen müssen, Sam, dass hätte es für uns beide leichter gemacht.«
Rufus räusperte sich. Er war aufgestanden, ohne dass es einer von uns beiden bemerkt hatte. »Irgendwie habe ich das Gefühl, das solltet ihr allein klären. Ich geh rüber zu Toni und schnorr noch ein Bier.« Ungewöhnlich behutsam zog er die Tür hinter sich zu.
Es brannte mir auf der Zunge, Mila eine ausweichende Antwort zu geben, aber nachdem sie so ehrlich gewesen war, wollte ich das nicht. Lügen und Ausflüchte lagen mir ohnehin nicht. Also holte ich tief Luft und beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen.
»Ich habe dir versprochen zurückzukommen, aber so schnell, wie du es gern hättest, geht es leider nicht. Ich weiß kaum, wo mir der Kopf steht. Die Sphäre ist bei Weitem nicht der perfekte Ort, für den ich sie gehalten habe. Wir Schattenschwingen verhalten uns wie ein Haufen zähnefletschender Idioten, die sich am liebsten gegenseitig an die Kehle gehen würden, anstatt geschlossen unsere Probleme anzugehen. Doch trotz des ganzen Theaters verspüre ich den Wunsch, mehr über meine Natur und meine Fähigkeiten herauszufinden. Das ist die eine Hälfte von mir – du bist die andere Hälfte, und so soll das auch bleiben. Aber wenn ich jetzt auch noch St. Martin obendrauf packe, zerreißt es mich.«
»Dann lassen wir es, wie es ist. Das ist vollkommen okay. Jetzt, wo du es mir gesagt hast, verstehe ich es …« Vergeblich bemühte Mila sich, tapfer dreinzublicken. »Irgendwie fühle ich mich ganz schön blöd, so als ob ich nur an mich selbst gedacht hätte. Dabei war mir einfach nicht klar, was bei dir los ist. Alles war irre hektisch die letzten Tage, und dass du ständig wechseln musst, um bei mir zu sein, ist sicherlich auch kein Geschenk. Wahrscheinlich sollten wir beide einen Gang runterschalten.«
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte ich schnell, bevor sie auf die Idee kam, mir Besuchsverbot zu erteilen. »Ich will nur die St.-Martin-Kiste ein paar Wochen nach hinten schieben, mehr nicht.«
Mila rieb sich mit ihren Händen übers Gesicht. Als sie die Hände wieder senkte, wirkte sie zu meiner Erleichterung ruhiger. »Eigentlich passt das sogar ganz gut. Meine Eltern sind heute nämlich für einige Tage verreist. Das bedeutet, du kannst bei uns ein- und ausgehen, wie es dir gefällt. Zumindest nachdem du Lena Guten Tag gesagt hast. Die will nämlich auch ihre Zelte bei uns aufschlagen. Wenn die nicht langsam aufgeklärt wird, stecke ich wirklich in Schwierigkeiten. Außerdem verspüre ich das dringende Verlangen, meiner Freundin alles über uns zu erzählen.«
»Alles?«, fragte ich misstrauisch und dachte dabei speziell an die letzte Nacht. Der Schreck über Rezas Spontaneinlage lag mir immer noch im Magen. Dann beschloss ich, meine Sorgen zu vergessen und mich einfach über die Aussicht zu freuen, Zeit mit Mila verbringen zu können, ohne dass ihr die Zehen abfroren und wir ständig flüstern mussten. »Eine stressfreie Zone, dass wird uns beiden guttun. Ich sehe uns schon nebeneinander auf dem Sofa sitzen und DVD schauen wie ein zufriedenes Ehepaar. Wir werden ausschließlich langweiligen Pärchenkrams machen: kochen, rumhängen, die Badewanne ausprobieren. Zu zweit natürlich.« Es gelang mir tatsächlich, sie zum Lächeln zu bringen.
»Sam.« Mila beugte sich vor, bis ihr Gesicht verführerisch nah vor meinem war. »Sagst du mir noch einmal, was du mir im Garten gesagt hast?«
»Ich liebe dich.«
Ein feines Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, dann küsste sie mich.