30

Ohne Widerhall

Langsam stieg ich die Treppe hinunter. Dabei machte jede Stufe ein anderes Geräusch. Obwohl sie sich leicht verändert hatten, erkannte ich ihr Knarren doch wieder. Genau wie den Schimmelduft, den nur eine geübte Nase unter dem Meeresgeruch, der in geschlossenen Räumen rasch muffig wurde, herausfilterte. Während ich durch das düstere Wohnzimmer ging, war es mir, als müsste hinter mir alles zusammenbrechen. Lautlos, als bestünde das Gebäude nur noch aus Asche, zusammengehalten von einem Geist, der nun endlich erloschen war. Das zerbrochene Glas, das den Küchenfußboden bedeckte, knirschte unter meinen Schuhen, aber ich achtete nicht länger auf große Scherben, die sich durch die Sohle bohren konnten.

Ich griff bereits nach dem Fensterrahmen, als ich mein Spiegelbild in der oberen, heil gebliebenen Scheibe bemerkte: Meine Schwingen waren noch geöffnet. Gebannt betrachtete ich ihr verlaufendes Grau, das zarte und doch so feste Gewebe, aus dem sie bestanden, die Kraft, die sie ausstrahlten. Dann schloss ich sie und zog mir den Pullover über den Kopf. Ich schob mir das Haar hinter die Ohren, setzte die Baseballkappe auf und riskierte einen weiteren Blick auf mein Spiegelbild. Dort erblickte ich zu meinem Unwillen jemanden, der ganz klar in einer Verkleidung steckte. Obwohl ich fast mein Leben lang genauso herumgelaufen war, fühlte ich mich jetzt in diesen Klamotten fremd. Es würde ein ziemlicher Akt werden, mich wieder daran zu gewöhnen.

Mit einem Seufzer auf den Lippen stieg ich durch das Fenster. Draußen machte ich mir nicht einmal die Mühe, die Folie wieder anständig anzubringen. Hier gab es nichts zu schützen. Hätte ich einen Kanister Benzin zur Hand gehabt, hätte ich dieses Haus nur allzu gern niedergebrannt. Allerdings war ich mir so oder so sicher, dass nach den schrecklichen Geschehnissen, die in diesem Haus stattgefunden hatten, niemand mehr einziehen würde.

Ich hatte gerade erst ein kurzes Stück der Straße in Richtung Meer hinter mich gebracht, als jemand mit langen Schritten auf mich zulief. Kastor. Er blieb eine Armlänge vor mir stehen und stützte sich, schnell atmend, auf seine Oberschenkel. Fasziniert betrachtete ich seine rot-schwarzen Augen, von denen mir Mila bereits schwer beeindruckt erzählt hatte. In der Sphäre waren sie dunkelgrau, aber jetzt hatte er diese glühenden Scheiben voll und ganz auf mich gerichtet.

Was soll diese Barriere, die du um dich herum aufgebaut hast?, schleuderte Kastor mir über unser mentales Netz entgegen.

»Sieh an, dein kleines Sprachproblem ist also immer noch akut.«

Kastors Augen beschrieben einen flammenden Kreis, als er die Augen verdrehte. Ihm stand offenbar nicht der Sinn nach Scherzen. Ranuken hat mich aufgesucht, aufgescheucht wie ein Huhn. Ich musste mich in seinen Kopf einladen, um herauszukriegen, was ihn so aus der Fassung gebracht hat. Dabei hasst er das. Du hast ihn ernsthaft erschreckt mit deinem selbst gewählten Wachkoma. Mir ging es nebenbei bemerkt ähnlich wie Ranuken, als ich gewechselt bin und dann keinen Zugang zu dir gefunden habe. Du magst ja durcheinander sein, aber deshalb verweigert man doch nicht jegliche Kontaktaufnahme. Seit wann springst du so mit deinen Freunden um, Samuel?

»Ehrlich gesagt, habe ich mir nicht gerade große Gedanken gemacht, wie mein Verhalten bei euch ankommt.« Bei diesem Geständnis fingen meine Wangen an zu brennen, trotzdem hielt ich seinem Blick stand. »Ich hatte andere Sorgen, auch wenn dir das eigensüchtig vorkommen mag.«

Kastors angespannte Züge lockerten sich, während er sich den Nacken massierte. Was auch immer du gerade in diesem Haus getan hast, war jedenfalls Beweis genug, dass du alles andere als am Erlöschen bist. Mich hat fast der Schlag getroffen, als du dich vollkommen unerwartet deiner Aura bedient hast. Und dann auch noch mit einer solchen Wucht. Wie zum Beweis legte Kastor den Kopf schräg, woraufhin seine Halswirbel knackten. Ja, ich hatte ihm zweifelsohne ganz schön einen mitgegeben. Würde mich freuen zu hören, dass deine Vorgehensweise wenigstens zu einem Erfolg geführt hat.

»Immer doch.« Vor Erleichterung, dass ich ihm nicht umsonst zugesetzt hatte, musste ich grinsen. Auch wenn ich es mir nur ungern eingestand, ich war ausgesprochen froh darüber, dass Kastor da war. Als ich einen Blick auf seine nackten Füße und sein ärmelloses Shirt warf, das er trotz des kühlen Windes trug, musste ich noch breiter grinsen. In dieser Umgebung mit ihren tristen Fertigbauhäusern und den kargen Vorgärten sah er dermaßen fremdartig aus! Mir wurde bewusst, dass eine Schattenschwinge in der Menschenwelt rüberkommen musste wie ein Lichtstrahl, der den Nebel durchbricht.

In diesem Moment trat auf der anderen Straßenseite ein älterer Mann mit Hut auf dem Kopf und unter den Arm geklemmter Einkaufstasche auf den Gehweg. Es brauchte maximal fünf Sekunden, dann klebte sein Blick an Kastor und mir. Während seine Augen sich weiteten, klappte sein Kiefer nach unten. Leicht benommen kam er auf uns zu, obwohl ich darauf gewettet hätte, dass der Lebensmittelladen, zu dem er wollte, in der anderen Richtung lag.

»Du hast einen Fan«, flüsterte ich Kastor zu.

Der drehte sich jedoch nicht einmal um, sondern verschränkte die Arme vor der Brust. Ach, Menschen …

Gut, das musste als Kommentar offenbar reichen. Aber klang das nun bloß lässig, oder auch eine Spur verlegen? »Würde mich nicht wundern, wenn der dich gleich anfasst, um zu überprüfen, ob du echt bist.« Ich konnte mir die Stichelei einfach nicht sparen.

Leider verzog Kastor keine Miene. Erzählst du mir endlich, was du in dem Haus getan hast?

»Ich habe den Beweis erbracht, dass es definitiv der Schatten war, der meinen Vater für seine Zwecke benutzt hat.« Mit wenigen Worten erklärte ich Kastor, wie der Schatten durch seine Pforte, die Träume der Menschen, aus seiner Gefangenschaft geflohen war und schließlich den Plan gefasst hatte, mich als seinen Wirt zu benutzen.

Dafür sind die Zeichen also gedacht. Kein Wunder, dass niemand eine Ahnung hatte, wofür sie eigentlich stehen. Der Schatten war ein Meister seines Fachs, nur er kannte sich gut genug aus, um Zeichen zu schaffen, die den Energiefluss verkehren.

Fast ehrfürchtig betrachtete Kastor meinen Arm, während ich froh darüber war, das Lederband im Eifer des Gefechts nicht abgelegt zu haben. Je seltener dieser Teufelskram zu sehen war, umso besser. Die Zeichen waren schließlich eine fast vollendete Einladung für den Schatten, in mir zu nisten. Allein bei dem Gedanken daran, was Asami über die Auswirkungen des Nistens erzählt hatte, spürte ich einen Stich in meiner Brust. Einen fremden Willen in sich zu tragen, von dem man mit jeder Stunde ein Stück mehr glaubte, es handele sich in Wirklichkeit um den eigenen, bis man selbst ausgelöscht ist. Welch eine grausame Art zu sterben, bei der der eigene Körper weiterlebt und einem anderen dient … besser gesagt, von einem anderen dazu benutzt wird, um unter dem Schutz der Maske Unheil zu stiften!

Bei dieser grauenhaften Vorstellung schauderte es mich, und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass es dem älteren Herrn mit der Einkaufstasche ebenso ging. Er hatte die Straße überquert und kam nun auf uns zu. Überraschenderweise schien er sein merkwürdiges Verhalten gar nicht zu registrieren. Vielleicht hatte er ja auch eine Überdosis von meiner Aura abbekommen und stand deshalb neben sich. Ich musste mich allerdings gerade mit einem ganz anderen Problem auseinandersetzen.

»Ich bin mir übrigens sicher, dass es dem Schatten auch gelungen ist, zu Mila vorzudringen«, sprach ich aus, was mir am meisten Sorge bereitete.

Kastor musste nicht allzu lange darüber nachdenken. Er ist zu ihr vorgedrungen, als sie bei der Versammlung ohnmächtig geworden ist.

»Ja, aber nicht nur da. Ich glaube, er hatte sich auch einmal hier in St. Martin bei ihr eingeschlichen. Als sie zum ersten Mal die Zeichen auf meinem Unterarm betrachtet hat. Irgendetwas ist damals mit ihr geschehen, sie war völlig weggetreten, wie in Trance. Sie hat mir allerdings nie verraten, was ihr zugestoßen ist.«

Aber du sagtest doch, dass die Pforte des Schattens die Träume der Menschen seien. Das ist schon ungewöhnlich genug und wirft jede Menge Fragen auf. Davon abgesehen, dass du vermutlich der Erste bist, der die Pforte des Schattens kennt. Die hat er nämlich sorgfältigst geheim gehalten. Aber wenn Mila in diesem Augenblick nicht geträumt hat, wie konnte er dann zu ihr vordringen? Traum ist Traum. Es gibt für jeden nur eine Pforte.

Das stimmte. »Mila hat eine starke künstlerische Ader«, überlegte ich laut. »Was ist, wenn sie, sobald sie sich stark auf etwas einlässt, in einen Zustand gerät, der dem Traum sehr ähnlich ist? Jedenfalls ähnlich genug, damit der Schatten in sie eindringen kann?«, tastete ich mich vor.

Das würde Mila zu etwas Besonderem machen, gleichzeitig aber auch zu einer äußerst gefährlichen Person. Bei der Versammlung hat er sie in eine Waffe verwandelt, weil sie in Ohnmacht gefallen ist. Unvorstellbar, was passiert, wenn er sie auf anderem Wege in diesen Zustand versetzt!

»Da hast du recht, das ist beängstigend! Und wir haben nicht die geringste Ahnung, wohin sich der Schatten verzogen hat.« Ich fluchte ausgiebig.

In diesem Augenblick geschah etwas Merkwürdiges: Meine linke Hand wurde kalt, so kalt, als breite sich eine Eisschicht über ihr aus, begleitet von einem höllischen Brennen. Dann wurde sie taub. Ungläubig riss ich meine Hand hoch, doch die einzige erkennbare Veränderung war eine bläuliche Färbung meiner Haut. Dafür war die Oberfläche meines Bernsteinrings auf einmal durchsichtig, beinahe als würde er jeden Moment wieder in einen liquiden Zustand übergehen. Obwohl meine Hand zu erfrieren drohte, ging von dem Ring eine Hitze aus, die ich bis zu meinen Wangen spürte. Auch der Spaziergänger, der mittlerweile auf unserer Höhe angekommen war, schien sie zu spüren, denn wie von einer Druckwelle gepackt, taumelte er einige Schritte seitwärts. Dann war der Zauber vorbei. Das warme Pochen des Rings jedoch war bedeutend schwächer geworden, als habe sich eine Trennwand zwischen ihn und meine Haut geschoben.

»Ich muss sofort zu Mila! Ihr ist irgendwas zugestoßen.«

Ich wollte losstürmen, doch Kastor hielt mich fest. Der Spaziergänger fasste sich mit zittriger Hand an sein rot glühendes Gesicht, sein Mund schnappte auf und schloss sich dann wieder, ohne einen Laut hervorgebracht zu haben. Es war ihm anzusehen, dass er ernsthaft verstört war. Dann drehte er sich endlich um und lief mit unsicheren, aber langen Schritten und hochgezogenen Schultern zurück zu seinem Haus.

Beruhige dich, forderte Kastor mich auf. Mila ist in Sicherheit. Ich gebe Nikolai und Shirin Bescheid, damit sie ein Auge auf das Mädchen haben, bis wir eintreffen.

»Nikolai? Was hast du dir …« Mir brach fast die Stimme weg.

Kastor hob die Hände hoch, eine beschwichtigende Geste, die rein gar nichts bewirkte. Mein Puls hämmerte so heftig gegen meine Schläfe, dass mein Kopf sich anfühlte, als würde er gleich zerspringen.

Tut mir leid, aber es ging nicht anders. Ich brauchte ihn, um zu wechseln, weil Ranuken sich nach der Sache mit seiner angezapften Erinnerung schmollend aus dem Staub gemacht hat. Ich habe mich daran erinnert, dass Mila mir den Kamin in ihrem Haus zum Wechseln angeboten hatte. Da auf der anderen Seite zwar kein Feuer, dafür jedoch Asche zu erwarten war, habe ich eben auf Nikolais Hilfe zurückgegriffen. Außerdem ist Shirin da, sie wird schon alles unter Kontrolle haben.

Kastor wartete erst gar nicht weitere Schimpftiraden ab, sondern schloss die Augen, um sich auf den Kontakt zu Nikolai zu konzentrieren. Mit rasch zunehmender Unruhe beobachtete ich, wie sein Mund sich in eine blasse Linie verwandelte, so fest presste er die Lippen aufeinander.

Da stimmte was nicht! Herr Gott, genau das hatte der Ring mir schon längst verraten. Die Verbindung zu Mila, die ich durchgehend gespürt hatte, seit ich ihr den Ring gegeben hatte, war gestört. Gerade wollte ich Kastor bei den Schultern packen und durchschütteln, da erwiderte er meinen Blick.

Nikolai ist nicht mehr da, teilte er mir mit.

So schnell, wie ich angesichts meiner aufgewühlten Stimmung dazu in der Lage war, versuchte ich Shirin zu erreichen. Doch auch auf ihrer Seite herrschte Leere – allerdings nicht jene Leere, die üblicherweise verrät, wenn eine Schattenschwinge sich nicht länger in der Menschenwelt aufhält. Shirin war irgendwo in St. Martin, aber außerstande, mir zu antworten. Mein Inneres zog sich zusammen, bis es nicht mehr als eine harte Kugel war, die jeden Augenblick zu explodieren drohte.

»Was hat das zu bedeuten?«

Hilflos zuckte Kastor mit den Schultern. Vermutlich nichts Schlimmes, aber wir sollten besser umgehend nach Mila schauen.

Kastor hatte den Satz noch nicht einmal zu Ende gebracht, da war ich bereits losgelaufen. Es kostete mich unendlich viel Mühe, meine Schwingen nicht zu Hilfe zu nehmen, denn mit jeder Sekunde, die verging, nahm meine Sorge zu, dass ich zu spät kommen würde, egal, wie schnell ich lief.

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Völlig von Sinnen hämmerte ich Minuten später gegen die Haustür der Levanders, während ich bereits meine Aura verdichtete, um sie notfalls mit Gewalt einzutreten. Denn obwohl ich es mir nicht eingestehen wollte, rechnete ich keineswegs damit, dass mir eine überrascht aussehende Mila die Tür öffnen würde. Sie war fort. Die Trennwand, die meine Verbindung zu dem Bernsteinring dämmte, war dafür Beweis genug. Ich verschwendete bloß wertvolle Zeit mit dieser Klopferei. Mila war nicht mehr da, ebenso wenig wie Nikolai.

Gerade wollte ich Anlauf nehmen, um die Tür einzutreten … als sie mit einem Mal doch geöffnet wurde.

»Macht mal einer das Licht aus? Verflucht, das blendet ja wie Hölle«, schimpfte Rufus los, der im Türspalt stand und ins Licht meiner Aura getaucht war.

Doch das war leichter gesagt als getan. Die Energie in mir wollte umgesetzt werden und jagte eindeutig zu viel Volt durch meinen Körper. Ich wollte schreien, befürchtete aber, Rufus damit endgültig auszuknocken. Erst als Kastor mir eine Hand auf die Schulter legte, gelang es mir, meine Aura zu dimmen. Allerdings nur langsam. Zurück blieb ein verstörendes Brennen, als seien die Flammen unter Kontrolle, der Herd aber noch lange nicht gelöscht. Für einen Augenblick sah die Welt um mich herum aus wie mit Asche bestäubt.

Sobald sich eine Gelegenheit bietet, werde ich mir Asami vornehmen. Es ist verantwortungslos, solche Quellen in dir zu öffnen und dir dann nicht beizubringen, sie zu kontrollieren.

»Wenn diese Sache durchgestanden ist, wird dazu keine Notwendigkeit mehr bestehen, weil ich dann keine Schattenschwinge mehr sein werde.«

Bevor Kastor nachfragen konnte, was genau ich damit meinte, trat ich in die Diele, an deren Wand Rufus gelehnt stand und sich die tränenden Augen rieb.

»Mann, mit euch Himmelsgeflügel macht man vielleicht was mit. Ich frage mich echt, wozu es gut sein soll, sich in einen lebendigen Flutscheinwerfer zu verwandeln. Davon einmal abgesehen: Sollte dein Licht bei mir nicht eher Gefühle von Liebe und noch mehr Liebe auslösen? Stattdessen hat es sich angefühlt, als würden meine Augäpfel zu kochen anfangen. Du solltest bei Gelegenheit bei deinem Auftraggeber da oben nachfragen, wie man diesen Job richtig macht, Bristol.«

»Ich glaube, du hast das falsche Bild im Kopf.« Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass Rufus mich trotz Tränenschleier schon wieder ungehalten anfunkeln konnte, beruhigte ich mich. Aber nur ein wenig.

»Wo ist Mila?«

»Das wüsste ich auch gern. Ich bin gerade erst gekommen und obwohl ihr ganzer Kram schön sauber verteilt im Wohnzimmer herumliegt, fehlt von ihr jede Spur. Lena hat mich angerufen und gesagt, Mila hätte die Schule geschwänzt, wäre aber nicht, wie versprochen, bei ihr im Krankenhaus aufgetaucht, und würde auch nicht an ihr Handy gehen. Wie auch? Das Teil liegt mutterseelenallein auf dem Esstisch. Möchte mal zu gern wissen, woher diese bunthaarige Rotzgöre meine Telefonnummer hat, um mich anzu…« Rufus brach unvermittelt ab. Ungläubig starrte er Kastor an, der ihm freundlich zunickte und sich dann an ihm vorbeidrängte, um mir in Richtung Wohnzimmer zu folgen. »Das werden ja immer mehr von eurer Sorte. Gefällt es euch auf der anderen Seite nicht mehr, oder warum treibt ihr euch plötzlich alle in St. Martin herum? Ich will ja nicht hysterisch klingen, aber irgendwie hat das langsam was von einer Übernahme.«

»Immer schön durchatmen«, knurrte ich Rufus an, dessen Geplapper meine Nervosität anstachelte. Ich wollte endlich das Wohnzimmer überprüfen, aber Kastor schob sich vor mich.

Wir sollten dem Jungen besser nicht erzählen, dass seine Vermutung keineswegs hysterisch klingt. Wenn die Zeiten des Schattens wieder aufleben, dann kann sich die Menschheit auf etwas gefasst machen. Hierbei geht es um mehr als um deine vermisste Freundin. Das musst du dir klarmachen, Samuel.

»Wenn es hierbei nicht um Mila gehen würde, dann wäre mir das alles komplett egal. Das solltest du dir mal besser klarmachen! Sobald ich die Sphäre hinter mir lassen kann, werde ich es tun.«

Kastors hervortretenden Kieferknochen sah man an, dass er seine Zähne aufeinanderbiss, bis es wehtat. Trotzdem weigerte er sich nach wie vor, mich endlich ins Wohnzimmer eintreten zu lassen. Das ist vollkommen unmöglich. Du bist mehr Schattenschwinge als Mensch. Du kannst die Wahrheit nicht leugnen.

»Genauso wenig wie die Tatsache, dass die Sphäre sich mehr und mehr als grauenhafter Ort entpuppt. Und sollte ich jetzt gleich auch noch feststellen, dass Mila genau dorthin verschleppt worden ist, dann weiß ich endgültig, was ich von den Schattenschwingen zu halten habe.«

»Scheiße, was sagst du da über Mila?« Rufus sprang mich fast von hinten an. »Die ist nicht weg! Die schwänzt nur, weil sie wegen dir komplett fertig ist. So ein Mist. In ein paar Stunden kommen meine Eltern nach Hause. Irgendeine Idee, wie ich denen klarmachen soll, dass ihr heiß geliebtes Nesthäkchen mal eben so in eine andere Sphäre gewechselt ist? Die flippen aus, und zwar richtig.«

Verdammt! Warum benutzte ich nicht ebenfalls das mentale Netz, um mit Kastor zu reden, sondern brüllte meine Ängste in Rufus’ Beisein frei heraus? »Beruhig dich. Ich weiß auch nicht genau, was mit Mila ist. Aber ich verspreche dir, dass ich das geregelt habe, bis deine Eltern zurück sind. Irgendwie.«

Rufus nuschelte eine Unmenge an Kraftausdrücken vor sich hin, bis er genug Druck abgelassen hatte. »Nicht irgendwie oder irgendwann, sondern sofort. Du hast keine Ahnung, wie Reza sich aufführen kann, wenn es um ihr Baby geht. Da ist Daniel ein Weichei gegen, verstanden? Also, hast du vielleicht irgend so eine Art Detektor, mit dem wir meine kleine Schwester auftreiben können, damit ich sie übers Knie legen kann? Denn das werde ich tun, selbst wenn du mir dafür sämtliche Himmelsscharen auf den Hals hetzt.«

Er hat wirklich ein falsches Bild von uns, merkte Kastor trocken an.

Genervt den Kopf schüttelnd, trat ich ins Wohnzimmer.

Auf den ersten Blick sah es dort aus wie immer. Milas Tasche lag auf dem Esstisch, einige der für sie typischen Dinge, wie die Dose mit den Pfefferminzpastillen und ein knallrotes Haarband, für das es eigentlich keine Verwendung mehr gab, waren herausgefallen. Ihr Handy drehte sich im Kreis, während es ein aufgeregtes Vogelpfeifkonzert in die Welt trällerte. Lena hatte allem Anschein nach immer noch nicht aufgegeben, bei ihr durchzurufen.

Auf den zweiten Blick bemerkte ich die feine Ascheschicht, die sich über alles gelegt hatte, auch über jene Spuren, aus denen wir Schattenschwingen Rückschlüsse ziehen konnten. Selbst für mich und meine besondere Wahrnehmung schien der Raum wie leer gefegt. Die Erinnerungen an das Leben der Levanders, die sonst wie blasse Abbilder in der Luft hingen und davon berichteten, dass hier eine zufriedene Familie wohnte, waren verschwunden. Genau wie die Spuren, die Nikolai eigentlich hätte hinterlassen müssen – von der Ascheschicht abgesehen.

Das hatte er mit Absicht getan. »Nikolai wollte verbergen, was er hier gemacht hat. Und genau damit verrät er sich.« Mit bleiernen Beinen ging ich auf den Kamin zu. Hier wurde der Staub besonders dicht. Nikolai hatte sie mitgenommen – sicherlich gegen ihren Willen, obwohl es für Letzteres keinen Beweis gab. Oder doch! Der Ring hatte mir eindeutig verraten, dass sie unfreiwillig in die Sphäre gewechselt war. Ihren Wechsel hatte ich ähnlich schmerzhaft gespürt wie sie. Hastig presste ich den Ring an meine Lippen, spürte die Wärme in der Tiefe des Materials. Mir war, als würde ich ein feines Pochen wahrnehmen, einen Ruf nach seiner zweiten Hälfte, der nicht erwidert wurde.

Nikolai wird einen Grund dafür gehabt haben, Mila mit in die Sphäre zunehmen. Wo steckt Shirin bloß? Obwohl er eben erst neben mich getreten war, wich Kastor bereits wieder zurück, als er mein Gesicht sah. Der Ring … was verrät er dir?

Ich schwieg, weil ich es nicht über mich brachte, die Wahrheit auszusprechen.

»Wollt ihr beiden nur rumstehen und Staub ansetzen?« Rufus lief kreuz und quer durch den Raum. »So eine Kacke, das sieht hier vielleicht aus. Ist euch das aufgefallen? Keine Fußspuren. Hier kann Mila also nicht gewesen sein.«

»Doch«, erwiderte ich. »Genau an dieser Stelle.« Ich ging in die Knie und hob ein getrocknetes Ginkgoblatt auf, das im Kamin unter einer dicken Ascheschicht lag. Oder vielmehr die Hälfte eines Ginkgoblattes. Es war der Länge nach durchgerissen worden. Die zweite Hälfte war nicht auffindbar.

Als handle es sich um ein fragiles Zeugnis aus der Vergangenheit, schwebten Kastors Fingerspitzen über dem Blatt, dann zog er sie auch schon zurück. Was kann Nikolai bloß von Mila wollen? Frauen waren für ihn immer bloß Zerstreuung. Es sieht ihm gar nicht ähnlich, Gewalt anzuwenden.

»Ich glaubte nicht, dass wir es überhaupt noch mit Nikolai zu tun haben.«

Was willst du damit sagen?

»Die Narbe auf Nikolais Stirn … hatte er die schon, bevor er ins Weiße Licht gegangen ist?«

Nein. Die Verletzung muss er sich in der Zeit danach zugezogen haben. Aber was interessiert uns jetzt die Narbe?

»Wenn es sich bei diesem silbrigen Riss nun nicht um eine Narbe, sondern um ein Zeichen handelt?«

Kastor brauchte einen Moment, um hinter meinen Gedankengang zu kommen. Für einen Augenblick sah er aus, als wolle er gegen die schmerzvolle Erkenntnis, die sich ihm auftat, protestieren. Dann breiteten sich Akzeptanz und Schmerz auf seinen Zügen aus.

»Es war nicht Nikolai allein, den wir aus dem Vernichteten Reich befreit haben. Er hat jemanden mitgebracht, jemanden, der jetzt das Ruder an sich gerissen hat«, setzte ich nach, obwohl mir bewusst war, wie sehr jedes meiner Worte Kastor verletzte. »Die Augenhöhlen des Schattens waren leer. Er hatte seinen Körper zum Sterben im Vernichteten Gebiet zurückgelassen, kurz bevor du ihn gefunden hast, nicht aber sein Bewusstsein. So muss es gewesen sein.«

Kastor stöhnte gequält auf. Mit meinem unbedachten Handeln habe ich den Schatten befreit. Ich habe nicht einen Gedanken daran verschwendet, dass ich Nikolai in der unmittelbaren Nähe der Hülle gefunden habe. Asami hatte recht: Man darf die Macht des Schattens niemals unterschätzen, selbst wenn er in Ketten liegt. Was habe ich getan, Samuel?

»Es muss heißen: Was haben wir getan?«, erwiderte ich leise. Ich war für Nikolais Bergung genau o verantwortlich wie Kastor, auch wenn er dem vermutlich niemals zustimmen würde.

»Hoppla, hier liegt jemand!«

Kastors und mein Kopf flogen gleichzeitig herum. Rufus war bei seinem sinnlosen Hin- und Hergelaufe bis hinter das Sofa vorgedrungen. Mit einem Satz war ich bei ihm und starrte auf das mit zentimeterdicker Asche bedeckte Bündel, das dort auf dem Boden lag. So schnell ich konnte, wischte ich die Schicht beiseite, bis der Glanz einer vertrauten Aura mich erreichte.

»Es ist Shirin.«

Vorsichtig streckte ich meine Arme unter ihren leblosen Körper und hob sie hoch, woraufhin ihr Kopf in den Nacken glitt und die Asche von ihr abfiel. Ihr Gesicht war ausdruckslos, ich konnte nicht das geringste Anzeichen von Leben entdecken. Nur der schwache Aurenschein bewies, dass sie nicht tot war. Leider konnte er mir jedoch nicht verraten, was Shirin zugestoßen war. Die Ascheschicht hatte ganze Arbeit geleistet. Vorsichtig legte ich Shirin auf das Sofa, darauf bedacht, ihr bloß nicht wehzutun, falls sich unter dem Tuch, das sie um sich geschlungen hatte, irgendwelche Verletzungen verbargen. Zu sehen war auf den ersten Blick nichts, keine Wunde und auch kein Blut auf dem Stoff.

»Hast du eine Ahnung, was er ihr angetan hat?« Kastors Gesicht war mittlerweile so grau, als sei es ebenfalls mit Asche bestäubt. Ohne mir eine Antwort zu geben, ging er neben dem Sofa in die Knie und öffnete Shirins Gewand, das im Nacken zusammengeknotet war. Es kostete mich eine Menge Beherrschung, ihn gewähren zu lassen – schließlich wollte er ihr helfen. Da war zwar nichts an Shirin, was ich nicht zuvor schon gesehen hatte, einverstanden. Aber sie so ausgeliefert zu erleben, brachte mich fast um.

Siehst du diesen Einschnitt unter ihrer linken Brust?

Widerwillig blickte ich auf Shirins entblößten Oberkörper und bemerkte den schwarzen Strich oberhalb des Rippenbogens. Als hätte sie jemand mit einem Kohlestift bemalt. »Das soll ein Einschnitt sein?«

Kastors Mund war nicht mehr als ein harter Strich. Unser Freund hat eine Waffe der besonderen Art auf sie niedergehen lassen. Es ist die vollendete Kunst dessen, was Asami dir gerade beibringt: deine Aura zu einer Waffe zu formen. Dabei büßt man empfindlich an Kraft ein, darum wurde sie selbst zu Kriegszeiten so gut wie nie angewendet. Es sei denn, man gehörte wie der Schatten zu der hemmungslosen Sorte, die sich ohnehin an der Aura der anderen bedient. In Shirins Herz steckt eine Klinge, die sie allmählich erlöschen lässt, wenn wir sie nicht bald rausholen. Es wundert mich, dass sie so langsam wirkt. Als solle Shirin allmählich zu Grunde gerichtet werden.

»Oder es ging ihrem Angreifer vor allem darum, sie zu quälen.«

Ich legte meine rechte Hand auf die Eintrittswunde. Die beringte Hand zu nehmen, erschien mir keine sonderlich gute Idee. In der Sekunde, in der ich Shirins schokoladenfarbene Haut berührte, wusste ich, warum. Woraus auch immer die Waffe geschmiedet worden war, sie zielte darauf ab, die Aura des Getroffenen in sich aufzunehmen und sie gegen ihn selbst zu wenden. Diese Waffe führte dazu, dass Shirin sich selbst vernichtete.

Ehe ich mich versah, drangen meine Finger in die Wunde ein und ich ertastete eine Art Stab, der sogleich gierig nach meiner Aura griff. Ein widerliches Brennen stach in meine Fingerspitzen, doch ich ließ nicht nach und schließlich gelang es mir, den Stab zu bewegen. Allerdings nur ein winziges Stück, dann war ich gezwungen loszulassen, weil es mich zu viel Kraft kostete. Ich krümmte mich und pustete auf meine Finger. Noch lieber hätte ich meine geschwächte Aura an die Steckdose getan, damit sie wieder strahlte.

Das hast du gut gemacht. Du zeigst wirklich eine außerordentliche Begabung. Kein Wunder, dass der Schatten dich auserkoren hatte. Auch wenn es dauern mag, dir wird es gelingen, die Waffe zu ziehen.

So schwer es mir auch fiel, es mir einzugestehen, aber ich konnte das jetzt nicht tun. Ich musste sofort zu Mila. »Du musst dich darum kümmern«, forderte ich Kastor auf. »Sorg du dafür, dass Shirin sich erholt und ich geh zu Mila.«

Mein Vorschlag gefiel Kastor nicht im Geringsten. Nikolai ist mein Schützling, ich schulde ihm meine Unterstützung. Außerdem magst du zwar deutlich weniger Erfahrung mit derlei Dingen haben, das ändert jedoch nichts daran, dass du der Begabtere von uns bist. Eine solche Klinge zu ziehen, ist eine Herausforderung, auch wenn ihre Wirkung sich lediglich verzögert auswirkt. Shirin braucht dringend Hilfe. Deine Hilfe.

Als sei damit alles geklärt, wollte Kastor aufstehen, aber ich hielt ihn fest, auch, als er sich dagegen zur Wehr setzte. Unsere Auren prallten aufeinander wie zwei Wetterfronten und lösten ein mentales Donnern aus. Bei diesem Kräftemessen sollte Kastor recht behalten: Ich war der Begabtere. Unter anderen Umständen hätte ich eine solche Meinungsverschiedenheit anders gelöst, jetzt fehlte mir dafür schlicht die Zeit.

»Kümmere du dich um Shirin und ich nehme mich des Schattens an. Wenn er dazu fähig ist, eine solche Waffe zu formen, dann bist du in einem Kampf gegen ihn noch viel eher verloren als ich«, sagte ich zu Kastor, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schläfen hielt. Ich wartete seine Reaktion nicht ab, sondern stand auf. »Einmal davon abgesehen, dass es unwahrscheinlich ist, dass von Nikolai mehr als sein Körper übrig geblieben ist. Es tut mir leid.«

Ich griff bereits nach dem Saum meines Pullovers, als Rufus mir einen Vogel zeigte. Das Kräftemessen, das gerade in seiner unmittelbaren Nähe stattgefunden hatte, schien ihn nicht sonderlich beeindruckt zu haben. »In St. Martin wird nicht herumgeflogen, schon gar nicht am helllichten Tag. Mit dem Mist fangen wir überhaupt nicht erst an. Du kannst meinen Wagen nehmen. Allerdings verlange ich einen Preis dafür: Ich will mit in die Sphäre.«

»Vergiss das mal ganz rasch wieder.« Allein bei der Vorstellung, Rufus einer solchen Gefahr auszusetzen, drehte sich mir der Magen um.

Ich drehte mich um und wollte losgehen, da packte Rufus mich hart am Arm und ehe ich mich versah, hatte er mich im Schwitzkasten. »Du kannst mich nicht einfach abschieben. Es geht um meine Schwester … und auch um dich. Ich habe ein verdammtes Recht darauf, mit von der Partie zu sein.«

Zu meinem Entsetzen klang Rufus auf eine Weise entschlossen, die keinen Zweifel aufkommen ließ: Er würde sich nicht umstimmen lassen. Kurz schimmerte die verführerische Idee auf, ihn mitzunehmen. Der Berührung der Menschen wohnte in der Sphäre eine ganz eigene Magie inne. Allein die Erinnerung daran, wie berauschend es sich angefühlt hatte, Mila zu berühren, löste einen Glückstaumel bei mir aus. Vielleicht konnte Rufus mir wirklich dabei behilflich sein, seine Schwester zu befreien? Dann verwarf ich den Gedanken sofort wieder. Falls ich scheitern sollte, hätten die Levanders zwei Kinder an eine Welt verloren, von der sie nicht einmal ahnten, dass sie überhaupt existierte. Die Sphäre war kein Ort für Menschen. Und schon gar nicht für solche, die mir am Herzen lagen.

»Du bleibst hier und damit basta!«, erklärte ich Rufus, der mir daraufhin noch mehr die Luft abdrückte. Wie leicht wäre es gewesen, ihn abzuschütteln. Aber nein, stattdessen befreite ich mich mit viel Mühe und voller Angst, ihn trotz aller Vorsicht zu verletzen.

Manipulier einfach seine Gedanken, schlug Kastor vor, kaum dass ich mich aus Rufus’ Griff herausgedreht hatte, was dieser mit einem Wutschrei kommentierte. Der Grieche lehnte über Shirin und betastete den Einschnitt unter ihrer Brust. Bei der leichtesten Berührung verfärbten sich seine Finger schwarz. Ein gepeinigtes Stöhnen unterdrückend, zog er die Hand zurück. Oder nimm den Burschen mit in die Sphäre, dann kann ich mir hier wenigstens in Ruhe die Finger verbrennen.

»Vielen Dank für den Ratschlag.«

Rufus strich die Locken aus dem Gesicht, die sich bei unserer Rangelei verselbstständigt hatten. Sein Atem ging schwer von der Anstrengung, aber seine Augen funkelten nach wie vor entschlossen. »Wie kann der Kerl dir einen Rat geben, wenn er den Mund gar nicht aufgemacht hat? Bei dir brennen wohl langsam die Sicherungen durch.«

Ich musterte Rufus eindringlich und obwohl ich seine Antwort bereits ahnte, fragte ich ihn: »Du bestehst also weiter darauf, mich in die Sphäre zu begleiten, obwohl ich dir versichere, dass es dort zu gefährlich für dich ist? Denn das ist es, Rufus. Die Wahrscheinlichkeit, dass du als Herr deines Verstandes oder gar lebendig zurückkehrst, ist ziemlich gering. Niemand kann die Gefahr abschätzen, die von der Schattenschwinge ausgeht, die Mila verschleppt hat. Die Sphäre ist nicht der richtige Ort für dich, heute weniger als je zuvor.«

»Mila ist dort und ich werde ihr helfen.« Das kam genau so stur rüber, wie ich es erwartet hatte.

»Dreck«, murmelte ich und ließ den Kopf hängen. »Du wirst mich dafür hassen, so viel steht schon mal fest.« Dann griff ich nach seinem Willen und formte ihn um. Es ging erschreckend leicht. Mit jedem Mal, wenn ich einen Menschen willentlich beeinflusste, wurde es einfacher. Nicht mehr lange und ich würde ein Meister dieses Faches sein. Großartig. Ein Meister darin, mir die Menschen so zu machen, wie es am besten mit meinen Plänen zusammenging.

Angewidert von mir selbst, nickte ich Rufus nur zu, als der mit einem hektischen Blinzeln zu mir sagte: »Ja, du hast recht. Wir dürfen Lena im Krankenhaus auf keinen Fall allein lassen! Sie braucht Unterstützung, damit sie mit Nikolais Übergriff fertig wird. Sonst verliert sie noch den Verstand, vor allem, weil Mila ihr jetzt nicht zur Seite stehen und alles in Ruhe erklären kann. Los geht’s! Du fährst, wir haben nämlich null Zeit zu verlieren. Wirf mich auf dem Weg zum Meer beim Krankenhaus raus. Nur eins, Sam: Wehe, ich kriege meine Karre nicht heil zurück, dann helfen dir auch deine Superman-Kräfte nix.«

Kastor warf mir nur einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln zu, als wir zum Ausgang eilten, Rufus schon mit den Autoschlüsseln in der Hand, die er mir in einem hohen Bogen zuwarf. Dir ist nichts anderes übrig geblieben, beruhigte er mich, dann wendete er sich wieder Shirin zu. Grauer Dampf stieg von seinen Fingern auf und roch wie erkaltete Glut.