31
Böses Erwachen
Mila
Es ist seltsam, aus einer Ohnmacht zu erwachen. Ganz anders, als wenn man sich am Morgen mühsam aus der Umarmung seiner Träume freikämpft. Wenn man bewusstlos ist, ist alles schwarz. Man ist quasi vom Stromnetz genommen. Dann kehrt die Realität mit immer stärker werdenden Stromstößen zurück. Jedes System wird einzeln in Betrieb genommen: Plötzlich hat man wieder einen Körper, die Sinne melden sich zurück und stellen Fragen, die die Erinnerung nur zögerlich beantworten kann, weil sie am längsten zum Hochfahren braucht.
Warum liegen wir auf einem rauen Untergrund, wo wir doch eben noch im Begriff gewesen sind, durch die Haustür zu flüchten?, fragt der Körper verwirrt.
Keine Ahnung, murmelt die Erinnerung.
Um uns herum riecht es salzig. Kannst du dafür vielleicht eine Erklärung bieten?
Nö, bei uns im Haus riecht es eigentlich nie so. Der Geruch hat mehr was vom Meer.
Ja, aber warum vom Meer? Eben waren wir noch einen ordentlichen Fußmarsch vom Meer entfernt. Könntest du mich bitte aufklären, was in der Zwischenzeit passiert ist, liebe Erinnerung?
Tja, vielleicht gestolpert und böse auf den Kopf gefallen? Spekulationen, nur Spekulationen, mehr bekommst du nicht hin! Wir Sinne können wenigstens sagen, dass wir uns in der Seitenlage befinden, es nach Meer riecht und wir die Herrschaft über unsere Glieder noch nicht zurückhaben. Ach, und wir können keine Schmerzen feststellen. So viel zur Auf-den-Kopf-gefallen-Theorie. Also, was ist passiert?
Das war wirklich eine gute Frage. Während mein Bewusstsein langsam zurückkehrte, blieb ich reglos liegen. Solange ich keine Ahnung hatte, was geschehen war, würde ich nicht den kleinsten Finger krümmen. Das war mir alles zu suspekt.
»Auch wenn es im Nachhinein sinnlos ist, dich darauf hinzuweisen: Das hättest du einfacher haben können«, sagte jemand aus weiter Ferne.
Mühsam öffnete ich meine Augen und sah eine an den Rändern zerfaserte Schwingenspitze. Es fiel mir schwer, sie im Fokus zu behalten, denn es drängte sich immer wieder eine Wand aus Milchglas dazwischen, die verwischte, was ich sah. Dann wurde mir klar, dass ich nicht plötzlich an einer Sehschwäche litt, sondern mich in der Sphäre befand. Wie immer versuchte sie sich meiner Wahrnehmung zu entziehen. Ich war in der Sphäre … Augenblicklich setzte das unangenehme Gefühl ein, ein Fremdkörper zu sein, den es hinauszudrängen galt. Dabei hatte ich so darauf gehofft, dieses Gefühl niemals wieder erleben zu müssen. Wenn es einen Ort gab, an dem ich um keinen Preis sein wollte, dann war es die Sphäre.
Wie zum Trost streichelte jemand meine Wange, und Wärme durchströmte meinen Körper, der sich mit einem Schlag äußerst lebendig anfühlte. An meiner linken Hand erwachte der Bernsteinring zum Leben und begann mild zu pochen. Verwunderlich mild, aber vermutlich brauchte er noch ein Weilchen, um sich vom Wechsel in eine andere Welt zu erholen. Ganz im Gegensatz zu mir – ich fühlte mich nach der Berührung wie elektrisiert. Mir fiel nur eine Person ein, die eine solche Wirkung auf mich hatte: Sam. Als ich mich jedoch aufrichtete, um ihn freudig zu begrüßen, erkannte ich zu meinem Entsetzen, dass eine andere Schattenschwinge vor mir kniete.
»Nikolai … du?«
Ob meine Stimme wegen meiner trockenen Kehle oder doch aus Furcht so heiser krächzte, konnte ich nicht sagen. Auf jeden Fall kehrte die Erinnerung bei seinem Anblick schlagartig zurück. Mühsam unterdrückte ich meinen Fluchtinstinkt. So, wie Nikolai vor mir kniete, sah er überwältigend groß aus. Nicht einmal seine überirdische Schönheit vermochte die Wirkung seiner einschüchternden Ausstrahlung zu mildern. Erst jetzt bemerkte ich, dass seine Schwingen von einem besonders hellen Grau waren und den gleichen metallisch schimmernden Anstrich hatten wie seine Aura, die in der Sphäre einen Kranz aus Eiszapfen bildete. Dabei war sie mir in der Menschenwelt mild und fast ein wenig zu blass erschienen. Nun befürchtete ich geradezu, mich an ihr zu schneiden. In ihrem Kern waren die Eiszapfen dunkel, als hätte Schmutz das einst aus reinem Wasser entstandene Eis verunreinigt. Oder als kauere ein Schatten tief im Inneren eines jeden Strahls. Nein, das war nicht länger die Aura, von der diese junge Schattenschwinge in der Menschenwelt umgeben worden war. Trotzdem kam sie mir bekannt vor. Wie konnte das nur sein?
»Ja, ich bin es. Nikolai.« Die Art, mit der er es sagte, ließ die Bestätigung wie einen Witz klingen. Ein Witz, den ich langsam zu begreifen begann.
»Verstehe. Nikolai und noch jemand anderes. Aber ich vermute mal, dass du mir nicht verraten willst, wer noch so alles da ist? Ich meine: neben Nikolai.« Eine tollkühne Flucht nach vorn, aber mir blieb nichts anderes übrig.
Anstelle einer Antwort schenkte er mir lediglich ein Lächeln.
»Ich habe dich schon einmal gesehen, aber da wohntest du noch in einem anderen Körper«, bohrte ich weiter, obwohl ich mir keineswegs sicher war, ob ich gerade tapfer oder schlichtweg dumm handelte. Aber ich wollte mir keine Angst machen lassen oder den Mund in vorauseilendem Gehorsam halten, bevor ich nicht ernsthaft dazu gezwungen wurde. »Shirin hat mich in ihre Vergangenheit blicken lassen, musst du wissen. Und da gab es nur einen, dessen Aura so schneidend kalt war wie deine. Die Einzige unter den Schattenschwingen, der es vermutlich gelingen würde, sich einen neuen Körper zu suchen, wenn der alte nicht länger zur Verfügung steht. Du hast einen Schatten auf Nikolai geworfen, nicht wahr, Ask?«
Innerhalb eines Herzschlags verschwand das Lächeln von seinem Gesicht und ich wollte schon in Panik aufschreien, als sich anstelle der erwarteten Wut offene Verblüffung ausbreitete. »Diesen Namen habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört. Hat Shirin ihn dir verraten?« Er wartete keine Antwort ab, sondern nickte vor sich hin, während seine nun kalten Silberaugen auf mir lagen. Von dem Feuerreif, von dem Nikolais Augen umkränzt gewesen waren, war keine Spur mehr zu entdecken. Das, was eine Schattenschwinge ausmachte – ihre Aura und ihre Pforte – waren nun ganz auf diesen Geist aus der Vergangenheit geeicht. »Ask … so hieß der erste Mann. Zumindest glaubten das die Menschen, die mich in ihrer Welt in Empfang genommen hatten. Ask … das war einmal ein Teil von mir … der Beginn oder vielmehr die Vorstufe der Schattenschwinge, zu der ich mich gemacht hatte. Es ist gut, dass du diesen Namen wieder ins Spiel bringst, auch wenn ich ihn nicht wieder benutzen werde. Denn genau auf dieser Stufe, auf der Ask sich einst befunden hat, bin ich allem Anschein nach wieder angekommen. Dieser Körper, den ich mir genommen habe, ist von der Macht noch vollkommen ungezeichnet. Noch.«
»Du hast diesen Körper geraubt! Er gehört Nikolai, du hast nichts in ihm zu suchen, geschweige denn, dass du irgendein Recht dazu hättest, ihn zu zeichnen. Ich habe gesehen, wie du deinen alten Körper gezeichnet hast: Du hast dabei andere Schattenschwingen um ihre Kraft gebracht. Du bist ein gemeiner Dieb und Mörder.«
Die Gleichgültigkeit, mit der Ask über meinen Wutanfall hinwegging, ließ mich meine Angst vergessen. Mein Zorn wurde noch dadurch geschürt, dass er meine Reaktion anscheinend ausgesprochen amüsant fand. Mit der Andeutung eines Lächelns blickte er auf mich herab, als wäre ich nicht mehr als ein bockiges Kind, das sich aufspielte.
»Einmal davon abgesehen, dass es mir vollkommen gleichgültig ist, ob ich das Recht dazu habe oder nicht, musst du dich nicht so echauffieren«, erklärte Ask mit der Selbstverständlichkeit jener Leute, die sich aus Prinzip überlegen fühlen. »Ich hatte nämlich den Eindruck, dass unser Freund Nikolai mir nur allzu gern das Steuerrad überlassen hat. Er war ein schwermütiges Kerlchen. Zu Anfang hat er noch Widerstand geleistet, gehofft, es gäbe einen wahren Neuanfang für ihn. Er wollte nur dann auf mich hören, wenn es ihm passte, etwa als ich ihm den Bernsteinring gezeigt habe oder als ich ihm zugeflüstert habe, dass er dir nah sein will. Ansonsten wollte er sich meinem Einfluss entziehen. Deshalb ist es auch zu dieser chaotischen Situation bei den Wellenbrechern gekommen.« Asks Mundwinkel zuckten nach oben, gerade so, als halte er Nikolais Widerstand für eine alberne Kinderei. »Danach hat er sich allerdings rasch geschlagen gegeben. Als Kastor sich in eurem Haus von ihm verabschiedete, hat Nikolai sich endgültig aufgegeben und mir ganz das Feld überlassen. Eigentlich habe ich ihm einen Gefallen getan, schließlich war er seiner selbst überdrüssig.«
Ich konnte kaum glauben, was diese Schattenschwinge da eingestand, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. » Du hast Nikolai umgebracht, weil er sich nicht dagegen gewehrt hat?«
Kopfschüttelnd seufzte Ask. »Nicht umgebracht, du dummes Ding, sondern verdrängt. Und das bisschen an wertvoller Substanz, das übrig geblieben war, habe ich umgeformt. Aber ich will mich nicht beschweren. Wäre Nikolais Persönlichkeit gefestigter gewesen, dann wäre er gewiss niemals auf die Idee verfallen, ins Weiße Licht zu gehen. Das war meine Rettung – obwohl er bestimmt etwas anderes mit seinem Tun beabsichtigt hatte. Selbst sein Sterben hat er nicht ordentlich hinbekommen.« Asks herablassender Gesichtsausdruck wollte so gar nicht zu den makellosen Gesichtszügen passen. »Bevor Nikolai nämlich der auslöschenden Wirkung des Grenzgebietes zum Opfer fiel, geriet er in die Nähe meines Gefängnisses und damit in den Bann, mit dem Shirin es umgeben hatte. Unser guter Nikolai versteinerte und schwebte um meinen Leib herum wie ein Komet um einen Planeten. Leider sind wir beide dann dank Kastors übereifrigen Vorgehens abgedriftet, bis wir schließlich an den Rand des Vernichteten Gebiets eingedrungen sind. Ich hatte die Gelegenheit genutzt und alles auf eine Karte gesetzt, als ich mich in Nikolais erstarrten Körper eingeladen habe. Dieser sture Grieche kam gerade noch rechtzeitig und mit ihm Samuel.«
Mir klappte die Kinnlade herunter. Es war Sam gewesen, der seinen größten Feind gerettet hatte! Der größte Hohn überhaupt. Kein Wunder, dass Ask so zufrieden aussah.
»Ich habe Samuel sehr viel zu verdanken, vor allem aber diesen Körper, auch wenn er außer einem wohlgestalteten Äußeren nicht viel zu bieten hat. Das macht allerdings nichts, denn das werde ich sehr bald ändern. Da es dir so rasch gelungen ist, mich zu erkennen, wird das bei den anderen bestimmt ähnlich sein.«
»Das sehe ich ganz genauso. Jetzt, wo heraus ist, wer wirklich in diesem Körper steckt, werden die Schattenschwingen Jagd auf dich machen. Du hast sie einmal in die Irre geführt, ein zweites Mal wird dir das nicht gelingen.«
Eine sinnlose Drohung, aber ich fühlte mich dadurch besser. Allerdings nur ein bisschen, denn sie verpuffte, ohne eine Reaktion hervorzurufen. Asks Gleichgültigkeit führte mir klar vor Augen, wie bedeutungslos ich in diesem Spiel war. Von mir ging nicht nur keinerlei Gefahr aus, meine Meinung war auch bestenfalls einen feuchten Dreck wert. Zwar bereitete das meinem Ego null Probleme, doch es führte mir meine miese Situation vor Augen. Warum auch immer Ask mich verschleppt hatte, ich würde ihm nur wenig entgegenhalten können. Wie war es der Menschheit nur je gelungen, neben den übermächtigen Schattenschwingen zu bestehen?
Betont langsam setzte ich mich auf, darauf gefasst, dass Ask mich jeden Moment packen und niederdrücken konnte. Zu meiner Verwunderung ließ er mich jedoch gewähren, trat sogar zur Seite, um mir ausreichend Platz zu machen. Warum, begriff ich recht schnell: Er hatte wirklich keinen Fluchtversuch von mir zu befürchten. Denn wohin sollte ich schon laufen? Ein Rundblick reichte, um festzustellen, dass es nur ein wild tobendes Meer, dieses Fleckchen kalkigen Bodens, Ask und mich gab. Wir befanden uns auf einem Eiland, in dessen Mitte eine Fontäne mehrere Meter in die Luft schoss und an dessen Rand riesige Wellen zerschlugen. Ihre Gischt schoss mannshoch und verriet die Kraft, mit der das Wasser die Ränder zu überwältigen versuchte. Irgendeine unsichtbare Macht hielt sie jedoch zurück. Woran sich hoffentlich nicht so schnell etwas ändern würde, wie ich mit einiger Beklemmung dachte. Einem solchen Wellengang wäre ich mit meinen läppischen Schwimmkünsten nämlich auf keinen Fall gewachsen.
Moment einmal. Nur Ask und ich … Tatsächlich. Nur wir beide. »Was hast du mit Shirin angestellt?«
Ask senkte den Kopf, um noch einen Tick eindringlicher auf mich hinabzusehen. Der Wind trieb ihm feine Strähnen ins Gesicht, das mittlerweile die letzten Reste von Unschuld verloren hatte. Wer auch immer die Schattenschwinge namens Nikolai einmal gewesen sein mochte, es war nichts von ihm übrig geblieben außer seiner körperlichen Erscheinung. Und selbst die erschien anders, seit sie ausschließlich Ask beheimatete: Seine Schönheit brach sich an der eisigen Ausstrahlung und den herablassenden Gesten.
Dann mahlte Asks Unterkiefer, als würde er mit sich kämpfen, ob mir nun eine Antwort zustand oder nicht. »Es ist mir nicht leicht gefallen, Shirin zurückzulassen. Ich hätte sie nur zu gern an diesen Ort gebracht, allein schon, um ihr ins Gesicht zu sehen, wenn sie begreift, wie nah sie einst am Ziel ihrer Wünsche gewesen ist. Ihre Reaktion wäre eine große Genugtuung für mich gewesen. Leider brauchte ich einen guten Grund für Kastor, nicht so rasch in die Sphäre zu wechseln, wenn er in das Haus deiner Familie zurückkehrt. Ich habe noch einiges mit dir vor, bei dem ich nicht gestört werden will.«
»Oh, nein. Du hast ihr etwas angetan«, brachte ich schwach hervor. Shirin! Für seine anderen Worte war kein Platz.
»Nichts, was nicht wiedergutzumachen ist. Schließlich habe ich mit dieser Verräterin noch Pläne. Dafür brauche ich sie unversehrt.« Ein grausamer Zug breitete sich auf seinen für einen Jungen viel zu wohlgeformten Lippen ab. »Sagen wir lieber: so gut wie unversehrt.«
Ich fühlte mich, als würde Asks Strahlenaura auf mich niedergehen: Tausend Nadelspitzen durchdrangen meine Haut. Dieses Scheusal hatte gerade eingestanden, Shirin verletzt zu haben, aus taktischen Gründen, damit mir niemand zu Hilfe kam!
Bevor ich überhaupt wusste, was ich tat, stürzte ich mich auf den immer noch knienden Ask und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Obwohl er keineswegs überrascht wirkte, wehrte er meinen Angriff nicht ab, sondern nutzte viel mehr die Gelegenheit, mir vor Augen zu führen, wie sinnlos mein Verhalten war: Meine Fäuste berührten ihn zwar, vermochten jedoch nichts auszurichten. Ihn umgab ein Schutz – im Gegensatz zu mir. Als er mir den Arm um die Taille legte und mich an sich zog, wich mir die Luft aus den Lungen, so heftig war der Aufprall gegen seine Brust. Augenblicklich versuchte ich mich befreien. Nutzlos. Ich war gefangen zwischen seinem Arm und seiner Brust. Wie ein Liebespaar waren wir ineinander verschlungen.
»Wusstest du, dass die Berührung eines Menschen sich in der Sphäre unbeschreiblich intensiv anfühlt?« Zum ersten Mal war seine Stimme sanft, allerdings mit einem leicht erregten Unterton, der mich noch panischer machte. »Es ist eure Sterblichkeit, die euch in unserer Welt zu anziehenden Sonnen macht, um die wir Schattenschwingen unentwegt kreisen. Wer könnte da widerstehen?«
Als Ask den Kopf senkte und ich seinen Atem an meiner Schläfe spürte, begann ich zu schreien. Er ließ mich gewähren, so wie er mir auch ausreichend Spielraum zugestand zu strampeln, bis ich erschöpft aufgab. Am ganzen Leib zitternd, lehnte ich gegen seinen Oberkörper.
»Auch wenn es dir schwerfällt, solltest du besser tief und ruhig einatmen. Für das, was ich dir gleich abverlangen werde, brauchst du Kraft.«
»Egal, was du verlangst, ich werde es nicht tun.«
Davon einmal abgesehen, dass ich viel zu dicht an seinem Körper war, um tief einzuatmen. Allein bei der Vorstellung, sein Geruch könnte sich mir einprägen, wurde mir übel. Vor allem weil ich befürchtete, dass er nach etwas Wunderbarem duften würde, und ich wollte vermeiden, dass sich in meine Erinnerung an Ask irgendetwas Positives mischte. Falls ich das hier überleben sollte.
»Glaub mir, es wird dir Freude bereiten, weil du mich dabei verletzen darfst.«
»Nein.«
»Oh, doch. Und weißt du warum, meine Mila? Entweder tust du es aus freien Stücken, oder ich werde deinen Willen so beeinflussen, bis du glaubst, es freiwillig zu tun.« Seine Silberaugen glitzerten bedrohlich auf. »Es ist nur so, dass ich, sobald ich erst einmal damit anfange, einen menschlichen Geist umzuformen, nicht wieder damit aufhören kann. Es ist einfach ein zu berauschendes Gefühl. Und wenn ich mir dich so ansehe, fallen mir viele aufregende Dinge ein, die ich dich im Anschluss noch für mich tun lassen könnte. Natürlich würde dir alles ausgesprochen gut gefallen … Nein, das ist zu viel versprochen. Ehrlich gesagt, hängt es von meiner Stimmung ab, ob es dir gefallen wird oder nicht.«
Ich schluckte, als mir Shirins Erinnerungen an ihr Zusammensein mit Ask in den Sinn kamen, und noch mehr, als ich an das dachte, was mit Juna geschehen war. Er liebte besonders die dunklen und blutigen Töne auf der Farbpalette. In jeder Hinsicht.
»Nun, Mila«, setzte er nach. »Fügst du dich, oder überlässt du es mir, dich gefügig zu machen?«
Niemals zuvor war es mir so schwergefallen, eine Zustimmung auszusprechen. »Was soll ich tun?«
Ich konnte Asks Gesicht nicht sehen, sondern hörte nur das gleichmäßige Schlagen seines Herzens an meiner Wange. Dennoch war ich mir sicher, dass es völlig entspannt war. Warum auch sollte er ein siegessicheres Lächeln aufsetzen? Er hatte doch von vornherein gewusst, dass er diese Auseinandersetzung gewinnen würde. Ich war keine Herausforderung für ihn. Ganz und gar nicht.
»Du sollst das tun, was du am besten kannst: dich auf das Wesentliche konzentrieren, das eine Person ausmacht, und es zeichnen.«
Behutsam löste Ask die Umarmung und ließ seine Hände auf meine Schultern gleiten. Ich widerstand mühsam dem Bedürfnis, sie abzuschütteln. Stattdessen hob ich den Kopf und erwiderte seinen Blick. Es überraschte mich nicht, dass mein Spiegelbild nicht in den Silberscheiben seiner Augen widerschien. Ask verweigerte sich jeder Beeinflussung durch sein Gegenüber. Er nahm nur. Ich wehrte mich nicht, als seine Finger meinen linken Arm hinabwanderten und er meine Hand vor seine Lippen führte. Als er dem Bernsteinring einen kaum spürbaren Kuss aufhauchte, biss ich mir fest auf die Unterlippe, bis sie zu bluten begann. Ansonsten regte ich mich keinen Millimeter, obwohl die Reaktion des Rings wie ein Stromschlag durch meinen Körper jagte. Der silbrige Schimmer, den ich mit Ask zu verbinden gelernt hatte, blieb auf der rotgoldenen Oberfläche zurück.
»Es ist lange her, seit ich diesem Ring zum letzten Mal nah gewesen bin.« Der Ausdruck seiner Augen verriet, dass sie auf eine ferne Vergangenheit gerichtet waren.
»Der Ring war einst in deinem Besitz?« Ich konnte es einfach nicht fassen: Da war dieses Schmuckstück, das Sam und mich auf so einzigartige Weise aneinanderband, auch mit Ask verbunden!
Ein Lächeln, das sein Gesicht eigentlich in eine himmlische Offenbarung verwandeln sollte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Nicht war – er ist immer noch in meinem Besitz.«
»Unsinn. Sam hat ihn mir geschenkt!«
»Ja, das stimmt. Aber du und Samuel, ihr gehört beide mir.«
Während ich Ask einen vernichtenden Blick zuwarf, redete er leise auf den Ring ein, woraufhin der Silberstaub in die Oberfläche des Rings einsank. Er machte eine lockende Bewegung mit der Hand. Ungläubig sah ich, wie der Bernstein sich im Bemühen, Asks Hand zu folgen, zu einer Spitze verformte. Er hatte sich in eine Waffe verwandelt. Ich brauchte die vielleicht zehn Zentimeter lange Spitze nicht zu testen, um zu wissen, dass sie scharf war.
»Falls du gerade mit dem Gedanken spielst, mir die Spitze in die Halsschlagader zu rammen, muss ich dir leider sagen, dass ich schneller bin als du. Aber du darfst sie gleich gegen mich einsetzen, das verspreche ich dir.«
Ask richtete seinen Oberkörper auf und öffnete sein besticktes Hemd. Während ich ihm dabei zusah, wie er die Schwingen einzog, um das Hemd von seinen Schultern zu ziehen, und wie er es dann sorgfältig neben sich legte, dachte ich tatsächlich darüber nach, wie meine Chancen, ihn zu verletzen, standen. Dem schmalen, aber nichtsdestotrotz muskulösen Körper hatte ich nur meine Schnelligkeit und Nahkampferfahrungen mit Rufus entgegenzusetzen. Immerhin, dachte ich, und brachte gerade Spannung in meinen Körper, als Ask seine Strahlenaura aufleuchten ließ. Wie ein Blitz schlug sie in die Spitze aus Bernstein ein und ich schrie los, um den Druck in meinem Inneren auszugleichen. Kaum war die Welle aus Energie über mich hinweggerollt, sank ich in mich zusammen. Doch Ask gestand mir keine Ruhepause zu. Grob packte er mein linkes Handgelenk und verstärkte seinen Griff, bis ich seinen Blick aus tränenden Augen erwiderte.
»Ich will, dass du dich von meiner Aura leiten lässt. Nimm auf, was sie dir mitteilt. Forme ein Bild daraus und dann, dann schneidest du es in meine Haut«, befahl Ask mir.
Obwohl ich spüren konnte, wie sich das Blut unter meiner Haut an den Stellen staute, an denen seine Finger schmerzhaft hart auflagen, strengte ich mich an, ihm mein Handgelenk zu entwinden.
»Lass los! Ich brauche meine andere Hand zum Zeichnen. «
Mit einem drohenden Knurren gab er den Griff auf, sodass ich nach dem Ring langen konnte. »Ich will dich nicht ablegen, keine Sorge«, flüsterte ich dem Schmuckstück zu, das meine einzig übrig gebliebene Verbindung zu Sam war. Wo er jetzt wohl war? Jedenfalls unerreichbar für mich. Vermutlich ließ er sich gerade von Asami trösten, der auf ihn einredete, dass unsere Trennung auf jeden Fall das Beste für ihn war. Dass er mich vergessen musste. Was angesichts meiner momentanen Lage die richtige Entscheidung wäre, wie ich verbittert feststellte.
Nachdem der Ring sich bei meinem letzten Versuch, ihn abzuziehen, keinen Millimeter hatte bewegen lassen, glitt er nun problemlos von meinem Finger. Als ich ihn auf meinen Handteller legte, veränderte sich seine Form ein weiteres Mal: Der Ring verformte sich endgültig zu einer länglichen Stichwaffe mit einem überaus spitzen Ende. Unter der weich glänzenden Oberfläche hatte ein metallischer Schimmer Einzug gehalten: der Silberstaub. Obgleich das spitze Objekt gefährlich aussah, schmiegte es sich weich in meine Hand, als wollte es sagen »Ich bin immer noch dein«. Ich vertraue dir, dachte ich, darauf bedacht, mir nichts anmerken zu lassen.
Während ich die Klinge wog, musterte ich Ask. »Und du willst dich wirklich von mir zeichnen lassen? Keine Angst, dass plötzlich extragroß ›Dreckskerl‹ auf deiner Brust eingeritzt steht?«
Ask zog die elegant geschwungene Augenbraue hoch, was bei dem Jungen, dem dieses Gesicht einst gehört hatte, sicherlich charmant ausgesehen hätte. Aber bei ihm wirkte es nur arrogant. Ask brauchte nicht einmal den Mund aufzumachen, es wurde auch so deutlich, dass er nichts anderes erwartete, als dass ich seinen Willen exakt ausführte. Oh, das würde ich auch tun, mein Schöner. Aber mit einer Prise künstlerischer Freiheit, wenn sich die Möglichkeit ergeben sollte.
Ohne weitere Verzögerung konzentrierte ich mich vollständig auf den dunklen Eiszapfenkranz, der Ask umgab. Ich hätte mir gewünscht, dass seine Aura mich anwidern würde – doch leider tat sie das nicht. Ich bekam den Kern von Ask zu spüren, seine Willensstärke und seine unbezwingbare Selbstsicherheit. Es fühlte sich wie ein Rausch an, er zu sein. Für ihn gab es kein Gut und Böse, es gab nur seinen Weg. Das, was er daraus gemacht hatte – die Lügen und Machtspiele, die schließlich im Krieg gegipfelt waren –, spiegelte sich nicht in seiner Aura. Die Spuren der Vergangenheit waren verschwunden. Da war nur dieser Wesenskern, geradlinig und auf ein Ziel zusteuernd, als würde weder links noch rechts etwas anderes existieren. Dies hier war allem Anschein nach wirklich der Neubeginn, von dem er gesprochen hatte.
Ich ließ mich weiter fallen, schob die Worte beiseite, die Gedanken, die nach Erklärungen griffen, und überließ mich ganz der Wahrnehmung seiner Aura. Vergaß, wer vor mir saß. Ließ meine Pläne und Gefühle ziehen. Drang hinter den Strahlenkranz und sah … Unbeschreibliches.

Ich schlug die Augen auf.
Wellen brandeten krachend gegen den Rand des Eilands, die hinter einer Dunstschicht verborgene Sonne hatte den Zenit überschritten und mein Atem kam leicht und in ruhigen Zügen über die Lippen. Die Luft schmeckte so intensiv nach Salz und Leben, dass ich am liebsten von ihr getrunken hätte.
Verwundert blinzelte ich. Die Welt um mich herum erstrahlte in einem Farbenrausch, allein das Meer brach sich in den wundervollsten Abstufungen. Nie zuvor hatte ich eine solche Vielfalt an Blau- und Grüntönen gesehen und würde sie wahrscheinlich auch niemals wieder sehen. Kaum gelang es mir, mich vom Anblick des Wellenspiels loszureißen, da blieb meine Wahrnehmung am nächsten höchst spektakulären Objekt hängen: vor mir saß ein Junge. Fasziniert betrachtete ich die feinen Farbverläufe auf seinem bloßen Oberkörper. Ein Toffeeton mit einem feinen Goldstich, darunter, kaum sichtbar fürs Auge, ein feines Netz aus tintenblauen Bahnen. Ich verlor mich in dieser Betrachtung. Die Welt hatte sich in ein Meisterwerk verwandelt. Vor allem betörte mich die Intensität der Farben. Wie wäre es wohl, wenn ich gerade jetzt eine Mohnblüte betrachten würde? Allein bei der Vorstellung breitete sich Wärme in mir aus. Die Sphäre war plötzlich ein wundersames und vor allem greifbares Paradies. Unvorstellbar, dass sie jemals ein grauer Ort für mich gewesen war, der sich mir hatte entziehen wollen. Wie ein Traumbild, das am Rande des Erwachens zerfaserte. Erst jetzt erkannte ich ihre Schönheit.
Einen Augenblick lang überließ ich mich noch den Eindrücken, dann besann ich mich auf die vor mir liegende Aufgabe. Ich sah eine Schattenschwinge vor mir, allerdings nicht ihre Aura. Die trug ich in mir – oder vielmehr ein Abbild von ihr.
Eine Melodie summend, spielte ich mit der Bernsteinspitze in meiner Hand, dann lehnte ich mich vor, um die richtige Stelle für das Abbild zu ertasten. Dabei überließ ich mich völlig meinem Instinkt. Kaum hatte ich sie gefunden, setzte ich die Spitze an und ritzte das Abbild in die Haut, ohne darauf zu achten, dass sich die feinen Schnitte rasch mit Blut füllten. Es brauchte ohnehin nur zwei Schnitte: einen langen waagerechten, und einen kurzen, an einem Ende schräg angesetzten.
Ein Pfeil.
»Das bin ich«, stellte Ask fest, während er mit dem Zeigefinger an der blutigen Wunde über seinem Rippenbogen entlangfuhr. »Direkt unter dem Herzen. Sieht ganz so aus, als würde ich immer wieder an dieser Stelle von einer Frau gezeichnet werden, gleichgültig, in welchem Körper ich stecke.«
Ich setzte mich auf meine Fersen zurück. Während ich das von mir geschaffene Zeichen betrachtete, vergaß ich, warum es sich mir offenbart hatte. Das Rot, das eben noch die Schnitte gefüllt hatte, wich einem dunklen Grau, wie überhaupt wieder alles seine Farbe und mit ihm seine beeindruckende Wirkung verlor. Für einen kurzen Moment hatte ich einen Blick in die Sphäre geworfen, die Sam sah. Sogar über ihre Grenzen hinaus. Doch diese Gabe verlor sich bereits wieder. Zurück blieb nur das Gefühl, mehr erfahren zu haben, als ich begreifen konnte.
Während ich dasaß und herauszufinden versuchte, ob ich nun glücklich oder traurig oder was eigentlich überhaupt los war, nahm ich plötzlich eine geschmeidige Bewegung an meiner linken Hand wahr. Der Bernstein war zu seiner ursprünglichen Form zurückgekehrt. An meinem Finger saß wieder der Ring, genauso, wie Sam ihn mir aufgesetzt hatte. Eine feine Spur Silber rieselte zu Boden.
Schlagartig überkam mich eine tiefe Sehnsucht.
Sam.
Ich hielt es kaum aus, nur eine Sekunde länger von ihm getrennt zu sein, wünschte mir nichts sosehr, als ihn bei mir zu haben. Seine ruhige Stimme, die mich dennoch in Aufregung versetzte, sein einzigartiger Duft, für den es keinen Namen gab, der Zauber, der unsichtbare Fäden zwischen uns spann, die ein Prickeln auf meiner Haut hervorriefen, das kaum zu ertragen war. Ich konnte nichts anderes mehr tun, als an ihn zu denken. Als wollte der Ring mein Sehnen erwidern, durchfuhr ihn Wärme. Dann setzte ein Pochen ein, so stark, als läge meine Hand auf Sams Herzschlag. Das war neu.
Von einer dunklen Ahnung heimgesucht, hob ich den Blick. Ask musterte mich nachdenklich, die Hand auf seiner frischen Wunde, als wollte er sie verbergen. Beinahe hätte ich ihm gesagt »es hilft nichts, sich jetzt noch vor mir zu bedecken. Ich weiß, wie du aussiehst, wenn du deine Verkleidung abgelegt hast.« Doch es lohnte die Mühe nicht.
»Etwas hat sich verändert«, sprach er laut aus, was wir beide spürten. »Samuel ist in die Sphäre eingetreten, richtig? «
»Und wenn schon. So viel ich weiß, ist die Sphäre sehr groß, obwohl ihre größten Teile durch dich zerstört worden sind. Er kann überall sein.«
»Das stimmt. Aber es gibt nur ein Ziel, das er kennen wird: dich, Mila. Und der Ring wird ihn zu dir führen. Alles verläuft genauso, wie ich es mir erhofft hatte.«
Eiseskälte durchfuhr mich. Endlich begriff ich, was hier gespielt wurde. Eine Falle! Die ganze Entführung war nichts anderes als eine Falle gewesen, in die Sam gelockt werden sollte.
»Gräm dich nicht«, sagte Ask in einem Tonfall, in dem tatsächlich so etwas wie Verständnis mitschwang. »Ganz gleich, was du auch angestellt hättest, du hättest nichts dagegen ausrichten können. Sobald du in meiner Gewalt warst, war klar, dass du damit unweigerlich Samuel in meine Reichweite bringen würdest.«
Ich wandte meinen Blick von Ask ab. Fest hielt ich den Ring umschlossen, während ich gleichzeitig mein Leben dafür gegeben hätte, ihn herunterzureißen und ins Meer zu werfen. Aber er saß wieder fest an meinem Finger. Ich konnte die Verbindung zu Sam nicht kappen. Ich war der Köder, dem Sam nicht würde widerstehen können. Seine Liebe zu mir würde ihn an Ask ausliefern.